Neue Legenden für alte Karten: Stoff
26. Juni 2020
26. Juni 2020
4. Mai 2020
Im Imbiss dreht sich ein Fleischspieß ohne Verkäufer. Du siehst ihm eine Weile zu, lässt den Motor mitdrehen. Die Scheinwerfer leuchten in den geschlossenen Media Markt. Europa ist eine Palette. Im Eingang des Elektronikmarkts bis an die Decke gestapelt wie eine Barrikade. „Welkom! Willkommen!“ steht auf dem Schild, das darüber hängt. In welcher Sprache würden wir willkommenheißen ohne den Warenverkehr? Du verlässt den Parkplatz, biegst auf die Neustraße. Auf dieser Straßenseite nennt sie sich so, auf der gegenüberliegenden heißt sie „Nieuwstraat“. Die Mittellinie ist hier eine gestrichelte Grenze wie auf einer politischen Karte: nicht fix, will man dir damit sagen. Das war sie auch lange nicht, 700 Jahre lang waren Herzogenrath und Kerkrade dieselbe Gemeinde, dann kam Preußen mit seinen Soldaten und dann einem Drahtzaun. Glaubst du dem apokalyptischen Kommentar gestern im Radio, wird die weiße Linie hier in der Mitte bald wieder durchgehend sein. Du wechselst die Straßenseite.
Was heißt Straßenverkehrsordnung auf Niederländisch? Gilt hier dieselbe? Und was heißt: Ich hab die Papiere vergessen. „Geen identiteit?“ Nein, mehrere, drei oder vier. Du bist eines der Wohnmobile, die hier in den Einfahrten stehen. Sie parken auf deutscher Seite. Eine Kneipe gegenüber in Kerkrade würde dir Warsteiner ausschenken in einem anderen Frühling. Ein Zapfhahn sagt: Trink heute besser Benzin, billiger kann es nicht werden. Aber kein Euro 95, kein Warsteiner lohnt sich zu tanken an diesem Abend, sonst ist niemand hier.
Dein Autofenster kurbelst du runter, drehst die Musik auf. Ein Lied mit Trompeten hast du dir mitgebracht, auf einer CD namens „Festmärsche“. Es ist der Versuch, dich zurückzuversetzen nach 1954. Damals soll hier Goldene Hochzeit gewesen sein. Ein Festumzug lief bis zur Kerkrader Kirche, Musik machen durfte er nicht, nach niederländischem Recht. Nicht vor zwölf jedenfalls und so ist ein Verein mitgelaufen auf Neustraßenseite, die durfte. Inzwischen waren die Deutschen mit Posaunen und nicht mehr Gewehren bestückt. Sie wussten das endlich wieder: Feiern geht nur zusammen.
Die Kirche, die du siehst, ist in rote Klinker gekleidet, wie für die Hochzeit. Nach der goldenen 1954 gab es noch eine: 1998, die gestrichelte zwischen Herzogenrath und Kerkrade, die heute zu einer Kommune verheiratet sind. Diese Kirche könnte sich in dem roten Kleid in den Niederlanden überall so sehen lassen. Aber sie war es wohl nicht, zu der 1954 der Umzug gezogen ist, sie steht in Herzogenrath. Goldene Hochzeit fällt schwer heute Abend, also biegst du zurück auf die Straße.
Let op, fietsers, doch niemand ist auf dem Radweg, nicht auf dem Trottoir und lang ist die Neustraße, wenn man nur 30 fährt und aus dem Fenster sieht. Nach Unterschieden suchend, die es noch gibt links und rechts, weil man sie finden will: Identität. Im Kreisverkehr, der diese Straße abschließt wie ein Sektkorken, gehst du dann hupend aufs Gas. Dreimal, viermal mit Schampus im Kreis, Niederlande, Deutschland, Niederlande. Wie viele Grenzübertritte kannst du so machen, als Ein-Mann-Festgesellschaft in einer Minute Rotonde? Dann nimmst du die Ausfahrt, aus der du gekommen bist, wieder die Nieuwstraat herunter. Noch einmal vorbei an der Kirche im roten Kleid, am Bushaltehäuschen, das Festgäste auffordert: Stay safe! Benutzt Kondome! Keiner liest es, auch in Lewon’s Fight Club ist niemand, der an diesem Abend Kontaktsport übt. Umeinander tänzeln, das machen wir heute nur in Gedanken. Wir fahren Kreisverkehr.
11. Juli 2016
Die Entdeckungsreise
„Wildnis Anfang“ steht auf dem Schild an der Bushaltestelle. Reihenhäuser, Vorgärten, na gut auch ein paar Wiesen, Felder, aber von der Wildnis mit Leoparden und Dschungel keine Spur. Und dennoch: Hier beginnt sie die Wildnis von Herzogenrath. Eine einzige Straße führt hinab ins Tal, direkt zum Naturpark. Dem Epizentrum des Heimatsvereins Worm-Wildnis.
Der Heimatverein Worm-Wildnis
Ob Ostereier suchen, großes Spargel- oder Muschelessen, Maibaumaufstellen, Vatertagfest, Heimatchor oder die Versammlung einmal im Monat – Reising ist wichtig, dass die Gemeinschaft gelebt wird. „Zusammen ist immer besser als alleine“, sagt sie, nickt energisch und sticht mit der Gabel in ein Stück Käsekuchen. Für das besondere bürgerschaftliche Engagement bei der Planung und Gestaltung des Dorflebens hat Worm-Wildnis 2014 sogar eine Urkunde im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ der Städteregion erhalten.
Doch die Wildnis hat nicht nur Zukunft, sie hat auch eine Vergangenheit. Selbst das Vereinsgebäude hat eine historische Geschichte, war es doch früher eine Wäscherei für Kies und Sand. Aber auch andere sind in der Wildnis den Überresten vergangener Zeiten auf der Spur.
Nicht nur Fotografen…
Der Archivar
Vom Forschen hält auch Stefan Hau viel. Er ist Archivar des Vereins und herrscht über zahlreiche Daten, Fakten und alte Fotographien. Ob Geschichten über die nahe gelegenen Sandsteinwerke, eine ehemalige Flaschen- oder Apfelkrautfabrik; Hau hat alles gesammelt. Auch die Geschichte über Anna Nöhlen. „Sie hat in der Nazizeit Juden geholfen, über die Grenze in Worm-Wildnis zu flüchten“, erzählt Hau. Heutzutage trägt die Brücke über das Flüsschen Wurm ihren Namen. Hier hatte sie unter Lebensgefahr zahlreiche Menschen aus der Wildnis über die Grenze begleitet.1939 wurde Nöhlen verhaftet und in das Konzentrationslager in Ravensbrück eingewiesen. Schließlich wurde sie in der „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Saale“ ermordet. Eine Gedenktafel an der Anna-Nöhlen-Brücke erinnert noch heute an ihr Tun.
Ein wilder Kerl
Nu loost Adije oss sahre, (Nun lasst uns Tschüss sagen,)
wür mösse no heem faahre, (wir müssen noch heimfahren,)
et iss atwörm jedoe. (es ist schon getan.)
Wür hant su schönn jesonge, (Wir haben so schön gesungen,)
oss leetcher hant jeklonge, (unsere Lieder haben geklungen,)
nu losst oss rö-isch schloffe joe. (nun lasst uns richtig schlafen gehen.)
Wieso in die Wildnis?
Ach ja, und das nächste Mal, wenn ich in die Wildnis komme, werde ich auf jeden Fall vorher bei Frau Reising „grüne Suppe“ essen gehen – eine ihrer Spezialitäten, aus sieben Kräutern gekocht, die angeblich gegen Mückenstiche schützen soll. Denn obwohl es keine Leoparden in der Herzogenrather Wildnis gibt: Mücken, die haben sie dann doch.