DIE SPOEKENKIEKERIN UND DAS FRÄULEIN

Das Fräulein sitzt auf einem Sessel und liest.
Sie liest sehr konzentriert, zumindest sieht sie so aus, als läse sie konzentriert. Ihre Stirn ist von zitternden Furchen durchzogen.
Hinter ihr steht das Zimmermädchen und kämmt dem Fräulein summend das lange rote Haar.
„Ach, was für schönes Haar ihr habt“, sagt das Zimmermädchen und kämmt.
„Hm“, brummt das Fräulein.
Sie schweigen. Das Fräulein blättert um, die Türe geht auf, ein Luftstoß fährt durch den Raum, das geöffnete Fenster schlägt gegen den Rahmen, das Küchenmädchen tritt herein mit dem Frühstück.
„Guten Morgen“, sagt das Küchenmädchen.
„Guten Morgen“, sagt das Zimmermädchen.
„Und, was gibt es Neues?“, fragt das Zimmermädchen.
„Nicht viel“, sagt das Küchenmädchen, „und bei dir?“ Die beiden flüstern, um das Fräulein nicht beim konzentrierten Lesen zu stören.
Das Küchenmädchen zuckt mit den Schultern. „Ach, ich hab gehört, bei der Kaline hat sich gestern auf dem Weg zum Milchholen eine Taube in den Haaren verfangen.“
Das Zimmermädchen kichert. „Das würde mich nicht wundern, bei dem Gestrüpp, das die auf dem Kopf trägt.“
Die Mädchen kichern beide.
„Aber du, ich hab ja was anderes gehört über die Kaline“, sagt das Küchenmädchen.
„Was hast du denn gehört?“, fragt das Zimmermädchen.
„Also ich hab gehört, die Kaline soll gestern beim Milchholen einen Hasen in ihrer Haube gefangen haben.“
„Fräulein, wollt ihr heute Orangensaft zum Frühstück trinken?“, fragt das Küchenmädchen.
„Hm“, sagt das Fräulein, ohne den Blick von den Seiten zu heben. Das Zimmermädchen zuckt mit den Schultern. Das Küchenmädchen schenkt Orangensaft aus einer Karaffe in ein Glas.
„Vielleicht stimmt ja beides. Würde mich gar nicht wundern.“
„Bestimmt stimmt beides. Das würde mich wirklich gar nicht wundern.“
„Fräulein“, fragt das Küchenmädchen. „Wollt ihr das Frühstück heute auf dem Bett oder am Tisch einnehmen?“
„Hm“, macht das Fräulein. Das Küchenmädchen rollt mit den Augen, das Zimmermädchen zeigt auf den Tisch. Nun also werden Teller, Schüsseln und Tassen vom Tablett auf den Tisch geräumt, da geht erneut die Türe auf, ein Luftstoß fährt durch den Raum, das geöffnete Fenster scheppert gegen den Rahmen, und die Wäscherin kommt herein.
„Guten Morgen“, sagt die Wäscherin.
„Guten Morgen“, sagen das Zimmermädchen und das Küchenmädchen.
„Fräulein, passt es ihnen, wenn ich jetzt die Laken wechsle?“
„Hm“, sagt das Fräulein.
Das Zimmermädchen und das Küchenmädchen zucken mit den Schultern und nicken. Also nimmt die Wäscherin ein frisches Laken aus dem Korb und packt die Decken und Kissen vom Bett auf die Chaiselounge.
„Habt ihr schon gehört?“, fragt die Wäscherin verschwörerisch. Sie flüstert, um das Fräulein nicht beim Lesen zu stören, oder um verschwörerisch zu klingen.
„Dass Kaline einen Hasen gefangen hat?“
„Oder eine Taube.“
Die Wäscherin runzelt die Stirn.
„Ein Wildschwein hat sie gefangen, hab ich gehört. Mit bloßen Händen!“
„Aha“, sagen das Zimmermädchen und das Küchenmädchen gleichzeitig.
„Fräulein“, fragt die Wäscherin vorsichtig, „soll ich auch die Kissenbezüge wechseln?“
„Hm“, sagt das Fräulein.
In diesem Moment geht die Tür ein drittes Mal auf und die Magd schaut herein.
„Wisst ihr schon das Neuste?“, schreit sie atemlos.
„Dass Kaline ein Schwein gefangen hat?“
„Ach was, das sind ja Nachrichten von gestern. Der Alfred Meissner will der Schäferwitwe eine Abreibung geben.“
„Was?!“, fragt das Fräulein und schaut von ihrem Buch auf.
„Eine Abtreibung. Ach, du lieber Gott“, sagt das Zimmermädchen, „aber warum denn… die Beiden? Das hätte ich ja im Traum nicht gedacht… Obwohl, wenn ich so drüber nachdenke…“
„Der Alfred Meissner will der Spoekenkiekerin eine Abreibung geben“, wiederholt die Magd.
„Ach, eine Abreibung“, sagt das Zimmermädchen.
„Ein Abreibung!“, sagt das Küchenmädchen.
„Jaja aber warum?! Was hat sie getan?“, fragt das Fräulein.
„Sie soll ihn einen paranoiden, zurückgeblieben, engstirnigen Despoten genannt haben.“
„Um Himmels willen“, sagt das Zimmermädchen.
„Warum sollte sie das getan haben?“, sagt das Fräulein, mehr zu sich selbst als zu den Mädchen.
„Naja, ganz Unrecht hat sie ja nicht“, sagt die Wäscherin.
„Psssscht“, macht das Küchenmädchen.
„Schon gut“, sagt das Fräulein.
Die Wäscherin nickt dem Küchenmädchen mit hochgezogener Augenbraue zu.
„Der hat sie nicht mehr alle beisammen, das ist doch kein Geheimnis.“
„Das stimmt, der hat sie wirklich nicht mehr alle beisammen. Der treibt uns noch alle in den Ruin mit seinem Naturschutz“, sagt das Zimmermädchen.
„Was soll das überhaupt heißen, Naturschutz?“, fragt die Wäscherin.
„Dabei fing doch alles so gut an…“, sagt das Zimmermädchen.
„Naja, so langsam wünsch ich mir fast den Alten wieder her. Der hat uns wenigstens die Eisenbahn gebracht“, sagt das Küchenmädchen.
„Jaja, aber ob die jetzt gebaut wird oder nicht, das steht ja wohl in den Sternen“, sagt die Wäscherin.
„Naturschutz, was soll das überhaupt heißen?“, fragt das Küchenmädchen.
„Er will nicht, dass das Moor trocken gelegt wird für die Schienenstrecke“, erklärt die Magd.
„Verrückt ist der, was will der denn mit dem Moor?“, fragt die Wäscherin.
„Weiß der Geier“, sagt die Magd.
„Oder die Spoekenkiekerin“, sagt das Zimmermädchen.
„Ach, was die so sieht, darauf würd ich nichts geben“, sagt die Magd.
„Neulich hat sie gesehen, wie dem Schulten der Wagen umgekippt ist, und zwei Tage später ist dem Schulten wirklich der Wagen umgekippt“, sagt das Zimmermädchen.
„Ja aber der kippt ja alle Woche einmal um.“
Das Zimmermädchen zuckt mit den Schultern.
Unterdessen kaut das Fräulein nachdenklich auf den Innenseiten ihrer Wangen.
„Also ich hätte nichts dagegen, wenn der mal jemand eine ordentliche Abreibung verpassen würde“, sagt die Magd. „Ich mein ja nur… Wie die sich aufspielt immer.“
„Ich hab gehört, sie solls mit…“, das Küchenmädchen senkt die Stimme wieder und flüstert, „…ihren Böcken treiben.“
„Ich hab gehört, sie solls mit Frauen treiben!“, sagt die Wäscherin.
„Pfui, wider die Natur ist das!“, sagt die Magd.
„Wider die Natur!“, sagt irgendeine von den Mädchen.
„Und überhaupt, eine Frau als Schäferin, und dann auch noch Spoekenkiekerin. Also ich bin ja nicht rückschrittig, aber das geht doch zu weit.“
„Und eine Franzosenhure ist sie auch“, schreit die Magd.
„Wider die Natur ist das.“
„Wider die Natur!“
„Also was denn nun? Franzosenhure oder Lesbe? Beides geht ja wohl nicht“, sagt das Zimmermädchen.
„Ach bei der kommt jede Bezeichnung zu kurz!“
„Genug!“, sagt das Fräulein nun und wedelt mit den Händen. „Raus, raus, raus“, ich will in Ruhe lesen.
Die Mädchen spitzen die Lippen und verlassen beleidigt das Zimmer. Das Fräulein sitzt auf ihrem Sessel und schaut mit sorgenvollem Blick aus dem Fenster. Ihr rotes Haar schimmert feurig und gefährlich.

Am nächsten Morgen sitzt das Fräulein wieder an derselben Stelle und lässt sich vom Zimmermädchen die Haare bürsten. Sie versucht zu lesen, aber nach jeder Zeile wandert ihr Blick über die Seite hinaus zum Fenster. Irgendwann legt sie seufzend das Buch weg und sagt mit aufgesetzter Heiterkeit in der Stimme: „Und was gibt es Neues?“
Das Zimmermädchen hält inne und blickt verwirrt auf den Scheitel des Fräuleins.
„Was es Neues gibt, Fräulein?“
„Ja, erzähl mir doch mal, über was spricht man heute?“
„Also gut. Wenn Sie es wissen wollen: Der Hinrich Kägebein ist gestern besoffen in den Rinnstein gefallen und hat sich am Bordstein das Jochbein gebrochen.“
„Oh. Das muss weh tun.“
„Ja sehr, er klagt den ganzen Tag.“
„Und sonst?“, fragt das Fräulein.
„Die Erna heiratet am Wochenende“, sagt das Zimmermädchen.
„Das ist doch Nachricht von gestern“, antwortet das Fräulein.
Das Mädchen gibt einen schnippischen Laut von sich.
„Und weiter? Gibt’s was Neues über die Schäferwitwe?“
„Oh ja allerdings“, das Zimmermädchen macht eine Pause, um die Spannung zu steigern. „Der Gemeindevorsteher will ernst machen.“
„Ernst? Was heißt das? Wann?“
„Na, sie fragen Sachen. So genau weiß ich es auch nicht.“
„Warum?“
„Also, das Teufelsweib will heute Nacht aufgewacht sein und mal wieder allerhand Unglaubliches gesehen haben.“
„Was hat sie denn gesehen?“
„Wollen Sie es wirklich wissen?“
„Aber ja, sonst würde ich doch nicht fragen.“
„Nagut, ein fürchterliches Monster will sie gesehen haben, im Moor. Ein Gesicht wie eine… eine Ameise soll es gehabt haben, das Monster, und Beine…“
„Sprecht ihr über die Spoekenkiekerin und das Monster, das sie gesehen haben will?“ Soeben ist die Tür aufgegangen, ein Luftstoß ist durch das Zimmer gefahren und das Küchenmädchen ist herein getreten. „Der Meissner will jetzt ernst mit ihr machen, hab ich gehört.“
„Ja aber, was heißt das, ernst?“, fragt das Zimmermädchen.
„Na du fragst Sachen, woher soll ich das wissen? Ein Monster will sie gesehen haben im Moor, ganz und gar grässlich soll es ausgesehen haben, mit riesigen Schaufeln als Armen.“
„Schaufeln als Arme? Ich hab gehört, es soll Äxte statt Arme gehabt haben. Äxte, mit denen es die Birken im Moor gefällt hat.“
„Sprecht ihr über das Monster, das die Schäferwitwe heute Nacht gesehen haben will?“
Die Wäscherin steht im Türrahmen und blickt ins Zimmer.
„Ich hab gehört, es soll einen schwarzen, blinkenden Hinterleib statt eines Popos gehabt haben, und gigantische Zangen statt Händen.“
„Ich dachte Schaufeln statt Händen?“
„Also mir wurde gesagt Zangen.“
„Und Bahngleise will sie außerdem gesehen haben, im Moor, das aber kein Moor mehr war, sondern ein verlottertes Hirsefeld, mit Bahngleisen, die da hindurch führten.“
„Heißt das, wir kriegen unsere Bahn doch noch?“, fragt das Küchenmädchen.
„Ach. Die ist doch keine echte Spoekenkiekerin, die macht sich nur wichtig.“
„Was sie geträumt hat, das erzählt sie uns, sonst nichts.“
„Aber warum will der Meissner ernst machen mit ihr?“, fragt das Fräulein.
„Naja, das Monster soll ein Gesicht wie eine große  Ameise gehabt haben.“
„Ja und?“
„A Punkt Meise. Alfred Meissner.“
„Ach du Gott, das ist doch vollkommen lächerlich.“
„Meine Rede.“
„Ja, aber es geht ja noch weiter. Das Ameisenmonster will sie beobachtet haben, wie es die Bahngleise aus dem Boden gerissen hat, wie irre.“
„Jaja das hab ich auch gehört. Dass es die Gleise aus dem Boden gerissen haben soll, wie irre.“
„Das hat sie sich doch ausgedacht.“
„Hat der Meissner auch gesagt! Und dass er ernst mit ihr machen will, wenn sie nicht aufhört, sich solchen Schund auszudenken.“
„Also ich glaub dem Weib kein Wort.“
„Vielleicht ist es gar kein Weib. Mit den Armen“, die Mädchen lachen.
„Oder sie hat erst gar keines werden sollen.“
„Das ist Gotteslästerung! Der Herrgott hat sie schon richtig gemacht, aber der Teufel hat seine Finger im Spiel, oder was anderes…, sodass sie jetzt ganz falsch missraten ist. Das wird es sein.“
„Das wird es sein!“
„Falsch oder missraten“, sagt da Fräulein.
„Wie bitte Fräulein?“
„Egal.“
„Hm, na ich jedenfalls glaube dem Teufelsweib kein Wort.“
„Kein Wort!“
„Auch dass der Schäfer damals im Bach ertrunken sein soll…“
„Danke, danke, das reicht“, sagt das Fräulein und zieht ihr rotes Haar unter den Händen des Zimmermädchens weg. „Lasst mich alleine, ich will lesen.“
Die Mädchen verschwinden und das Fräulein steht auf, um das zu tun, was sie eben den lieben Tag lang so tut.

Kommen wir jetzt zum dritten Morgen, denn natürlich spielt diese Geschichte an drei aufeinander folgenden Morgenden, ganz so, wie es sich gehört.
Wieder sitzt das Fräulein in seinem Sessel und wieder kämmt das Mädchen ihr die Haare. Das Fräulein sieht aus, als habe es zu wenig geschlafen, und ich als Erzählerin weiß: sie hat tatsächlich sehr wenig geschlafen.
Jedenfalls kämmt das Mädchen, während es die Lippen zusammenpresst, und das Fräulein kaut an den Fingernägeln.
„Der Meissner will die Spoekenkiekerin aus dem Ort jagen, heute Abend!“, platzt es plötzlich aus dem Zimmermädchen heraus.
„Was?!“ Das Fräulein schaut auf.
„Der Meissner will die Spoe…“
„Ja, das habe ich verstanden, aber Himmels willen warum denn das jetzt? Was hat sie schon wieder getan?“
„Also ich habe gehört, sie soll wieder von diesem Monster angefangen haben.“
„Oh nein.“
„Oh doch“, sagt das Küchenmädchen, das gerade mit dem Frühstück ins Zimmer tritt.
„Nur hat es diesmal nicht nur Leid und Zerstörung angerichtet, sondern auch noch gekämpft – mit einem zweiten Monster.“
„Ein zweites Monster?!“ fragt das Zimmermädchen mit schriller Stimme. „Das wird ja immer toller.“
„Aber ja, und dieses zweite Monster soll Flügel gehabt haben wie ein Schmetterling.“
Das Zimmermädchen lacht. „Na das geht jetzt aber zu weit. Auf was die für Gedanken kommt. Ich glaub kein einziges Wort, das aus diesem Breitmaul heraus kommt.“
„Also ich hab gehört, das zweite Monster soll Arme wie ein Mensch gehabt haben, aber Fühler und Barthaare wie ein Schmetterling“, sagt die Wäscherin, die natürlich auch wieder zur rechten Zeit herein tritt. Weshalb sie jeden Tag die Laken wechselt – wer weiß. Vielleicht hat das Fräulein seine Periode.
„Und das Ameisenmonster soll dem anderen Monster an die Gurgel gegangen sein.“
„Das war dem Meissner dann wohl zu viel des Hohns, und nun will er sie mit dem Bauer Wimsen und dem Bauer Wilmsen verjagen.“
„Aber Fräulein, was ist denn los? Warum haben sie denn Tränen in den Augen?“
„Bestimmt vor Wut, dass sich dieses Teufelsweib so gotteslästerliche Sachen ausdenkt. Ameisenmonster mit Werkzeug als Armen. Wer kommt denn auf sowas? Das hat ihr doch der Teufel in den Kopf gesetzt.“
„Hallelujah.“
„Ja, ja du hast recht. Ich bin sehr wütend.“, sagt das Fräulein. „Lasst mich am besten allein. In meiner Wut werde ich oft ungerecht“. Die Mädchen nehmen Korb, Kamm und Tablett und schleichen aus dem Zimmer. Das Fräulein weint und grübelt fast bis zum Abend. Zwischendurch isst sie eine ganze Ananas, währenddessen weint und grübelt sie nicht, aber danach fängt sie gleich wieder an.

Am Abend lässt sie sich vom Zimmermädchen die Kerzen anzünden und legt sich dann weinend und grübelnd ins Bett. Sie trägt immer noch ihr Nachthemd vom Morgen, und gebadet hat sie auch nicht. Duschen gab’s damals noch nicht.
Irgendwann hört sie ein Ticken am Fenster. Sie richtet sich auf und blickt zu den Gardinen, hinter denen nichts zu sehen ist als schwarze Nacht.
Gerade als sie sich wieder zurücklegen und weiter weinen will, hört sie es wieder – „Tack“, macht es. Sie springt auf, läuft zum Fenster und öffnet es.
„Hallo? Liebste, meine Liebste, bist du es?“, fragt sie in die Dunkelheit hinein.
„Wenn ich denn deine Liebste bin, so ist es deine Liebste, ja“, sagt eine heisere, tiefe Stimme. „Endlich“, quiekt das Fräulein, läuft zum Schrank, holt eine Leiter dahinter hervor und schiebt sie durch das Fenster nach draußen.

Kurz darauf erscheint ein hellblonder Schopf im Fensterrahmen, dann ein paar blassblaue Augen, eine spitze Nase, und ein voller, roter Mund.
„Meine Liebste, endlich, ich hab mir solche Sorgen gemacht. All das Gerede vom Gemeindevorsteher und dass er ernst machen will, dass er dich aus dem Ort jagen will, und die Monster und… Stimmt das, dass er dich fortjagen will? Ich komme mit dir! Ich komme mit!“

Sie drückt der blonden einen langen Kuss auf die Lippen noch ehe diese durch das Fenster steigen kann. „Jetzt beruhige dich“, sagt die Blonde mit ihrer ungewöhnlich tiefen Stimme und lacht.
Dann stemmt sie ihren Oberkörper über das Fensterbrett und schwingt die Beine ins Zimmer.
„Du machst mich wahnsinnig“, sagt das Fräulein traurig und setzt sich aufs Bett. „Jetzt sag mal, stimmt es, dass du den Gemeindevorsteher einen paranoiden, zurückgebliebenen, engstirnigen Despoten genannt hast?“
„Natürlich nicht. Darauf wäre ich ja gar nicht gekommen. Hast du Ananas hier?“
„Aufgegessen. Sorry. Jetzt erzähl schon und beeil dich.“
„Also… Ich hab so Hunger auf Obst. Hast du gar nichts?“
„Doch, hier, Kiwi.“
„Danke. Also vor drei Tagen hatte ich diese Vision, in der jemand, jemand, dessen Gestalt ich nicht erkennen konnte, nur die Stimme konnte ich hören, eine tiefe Stimme war es, jedenfalls hat diese Gestalt gesagt, der Meissner würde verrückt werden und sei ein genauso paranoider, zurückgebliebener, engstirniger Despot wie der Alte.“
„Ach du Gott.“
„Davon hab ich dann der Frau Bäcker erzählt und die muss es weiter getratscht haben, aber ohne zu sagen, dass nicht ich den Meissner einen paranoiden, zurückgebliebenen, engstirnigen Despoten genannt habe, sondern…“
„Jaja ich versteh schon. Und dann? Was hab ich da für schaurige Märchen über Ameisenmonster mit Schaufel-Armen gehört? Was soll das denn nun wieder bedeuten?“
„Das allerdings weiß ich auch nicht. In den zwei Nächten darauf habe ich immer um 1 Uhr nachts aufwachen und ins Moor gehen müssen. Und da im Moor habe ich diese Monster gesehen. Fürchterliche Ungetüme. Erst war da nur der ameisenköpfige Gestaltenwandler. Wo anfangs Menschenarme waren, hatte er bald riesige Schaufeln, die sich später zu Äxten und schließlich zu Zangen verwandelten.“
„Du hast geträumt!“
„Nein, meine Schuhe waren voller Schlamm am nächsten Morgen.“
„Du bist gewandelt im Schlaf.“
„Nein nein, ich weiß es genau, es war genau wie mit dem Wagen vom Schulten und wie in der Nacht vorher. Und wie mit dem Schäfer, du weißt…“
„Schhhh! Sprich nicht davon.“
„Hast du ein bisschen Wein hier? Ich bin schon ganz heiser.“
Das Fräulein reicht der blonden eine Karaffe mit Wein. Die Blonde trinkt direkt aus der Karaffe.
„Und dann? Was hat es mit dem Schmetterling-Ding auf sich?“
„Ja, das hab ich in der zweiten Nacht gesehen, ein Monster ähnlich wie das erste – aus Fleisch, Metall und… Insekt. Erst sah es fast aus wie ein gewöhnlicher Mensch, nur mit Fühlern und Barthaaren wie ein Schmetterling eben, und dann ist dem anderen an den Hals gefallen und sie haben gekämpft.“
„Aha.“
„Du glaubst mir nicht.“
„Doch doch, ich glaub dir, aber du musst zugeben, das klingt alles sehr… sehr… fantastisch.“
„Das ist mir bewusst.“
„Und dann? Wieso will der Meissner dich verjagen?“
Die Blonde schüttelt den Kopf. „Weil er verrückt wird. Der dachte, ich will mich über ihn lustig machen. A Punkt Meise, A Punkt Meissner. Ich sags dir, der wird noch ein genauso paranoider, zurückgebliebener, engstirniger Despot, wie…“
Sie hielt inne, dann fing sie an zu lachen.
„Ich selbst, ich selbst wars.“
„Was warst du?“
„Na die den Meissner in meiner Vision den paranoiden, zurückgebliebenen, engstirnigen Despoten genannt hat, als der er sich jetzt erweist.“
„Verstehe. Aber ich mach mir gerade ehrlich gesagt mehr Gedanken darüber, wie wir verhindern, dass der Meissner dich verjagt.“
„Ich hatte gehofft, wir könnten… ein kleines… Ritual vielleicht…“
Die Blonde schaut mit großen Augen und rotweinverfärbten Lippen zur Rothaarigen auf.
„Ein Ritual…“
„Gegen den Meissner.“
„Das geht nicht. Nicht schon wieder.“
„Sonst muss ich weg. Diesmal wirklich. Willst du, dass ich weg gehe?“
„Nein, aber… Wenn sie uns sehen…“
„Dann gehen wir beide. Nach Frankreich.“
„Hm.“
„Komm, wir tun es gleich heute Nacht. Es ist Vollmond! Wenn das kein Zeichen ist.“
„Das Fräulein seufzt und fasst sich an die Nasenwurzel.“
„Du weißt, dass das unsere einzige Chance ist. Der Meissner ist wahrscheinlich in diesem Moment schon auf dem Weg hierher.“
Das Fräulein sieht die Blonde nachdenklich an und kaut auf ihren Lippen.
„Also gut. Wir brauchen Kerzen, viele Kerzen, ein totes Kaninchen, einen Gegenstand vom Meissner, eine Strähne von deinem Haar, und einen Dachziegel. Aber ich kann nichts garantieren. Es könnte auch alles nach hinten los gehen.“
„Das Risiko gehe ich ein.“

Wenig später sieht man sie beiden… das heißt, eigentlich sieht sie keiner, das sagt man nur so – also es sieht keiner die beiden den Feldweg zum Moor einschlagen. Die Blonde geht voraus, während das Fräulein sich immer wieder besorgt umschaut. Alle Fenster im Schloss sind dunkel, und auf den Wegen streifen nur die Geister. Vom Meissner und seinen Bauern weit und breit keine Spur.
Der Mond scheint voll und rund am Himmel. Er hat dieselbe Farbe wie das Haar der Spoekenkiekerin.
Über dem Moor hängt dichter Nebel, eine Eule sitzt auf einem abgestorbenen Ast und beobachtet die beiden Frauen.
„Pass auf, wo du hintrittst“, sagt die Blonde zum Fräulein.
Nach etwas zwanzig Minuten haben sie die Hütte des alten Schäfers erreicht. Die Schafe der Schäferin liegen wie weiße Flocken davor im Gras.
„Hier?“, fragt die Blonde.
„Nein, hier werden sie dich als nächstes suchen, wenn sie dich am Schloss nicht finden. Lass uns weiter gehen.“
Eines der Schafe hebt den Kopf, und sieht den Frauen nach, wie sie tiefer ins Moor laufen.
Eine feine Brise streicht durch das Wollgras, die Rote erschauert und bleibt stehen.  „Hier. Hier ist es gut.“
Die Blonde stellt den Korb ab und sieht sich um. „Hier einfach auf dem Weg?“
„Nein, da, da ist eine freie Fläche.“
Sie gehen zu der freien Fläche, und die Rote beginnt, die Kerzen, die sie mitgebracht haben, in einem Halbkreis aufzustellen. In die Mitte platziert sie eine Tonschale.
„Gib mir dein Haar“, sagt sie zur Blonden. Die Blonde reißt sich ein paar Haare aus und legt sie in die Schale. „Gut, gib mir den Gegenstand vom Meissner“. Die Blonde greift unter ihren Rock und zieht ein Taschentuch hervor, das die Rote nun in die Schale legt. „Gut. Gib mir jetzt das tote Karnickel.“ Die Blonde greift wieder unter ihren Rock. Sie wühlt eine Weile darunter herum. „Hm.“
„Wo ist das scheiß Karnickel? Wir haben nicht ewig Zeit.“
„Jaja, warte es muss hier irgendwo…“
„Da hängt es doch, am Korb.“
„Ach ja.“
Die Blonde gibt der Roten das Karnickel, die murmelt einen Spruch, und reißt dem Tier dann mit einem Ruck die linke Pfote aus dem Leib. Mit der Pfote umrundet sie drei Mal die Schale, küsst sie dann und wirft sie hinter sich ins Gras.
„Gib mir jetzt die Streichhölzer.“
Die Blonde gibt der Roten die Streichhölzer, die nun anfängt, von rechts nach links die Kerzen anzuzünden. Anschließend wirft sie einen Streichholz in die Schale. Das Taschentuch und die Haare kokeln ein bisschen vor sich hin. Es riecht unangenehm.
Die Rote murmelt nun ununterbrochen irgendetwas unverständliches. Die Blonde schaut interessiert zu.
„Gib mir jetzt den Dachziegel.“ Die Blonde reicht der roten den Dachziegel aus dem Korb. Die Rote nimmt den Ziegel, hält ihn in den Rauch der verkohlenden Haare und wirft ihn dann mit einem lauten Schrei hinter sich. Der Ziegel fliegt in die Dunkelheit davon.
„So, das sollte genügen. Hoffe ich zumindest.“
„Und jetzt?“, fragt die Blonde.
„Warten.“
„Hier?“
„Ja.“
Das Fräulein schaut in den Himmel auf. „Ich glaube, es dräut ein Gewitter.“
„Hast du gerade wirklich ‚es dräut‘ gesagt.“
„Entschuldige.“

Die zwei Frauen setzen sich nebeneinander auf den weichen Torfboden und warten. Das gelbe Licht der Kerzen flackert. Irgendwo ruft eine Eule, ein Schaf blökt in der Ferne. Zehn Minuten vergehen. Der Mond zieht langsam über den Himmel. Zwanzig Minuten vergehen. Die Blonde kratzt sich einen Mückenstich blutig. Dreißig Minuten vergehen. Die Blonde will gerade aufstehen und sich die Beine vertreten, da ist mit einem Mal ein Schrei zu hören – ein Männerschrei, dann aufgeregte Stimmen.
„Das sind sie.“
„Ist er tot?“
„Um Gottes Willen nein. Hoffe ich jedenfalls. Wir können nicht einfach jeden umbringen, der uns nicht in den Kram passt“, sagt das Fräulein. „Außerdem hatten wir dafür ein größeres Opfer gebraucht.“
„Schade“, sagt die Blonde. „Warum stehst du auf?“
„Wir gehen hin.“
„Aber…“
„Wir gehen hin. Falls er dich angreifen will, lauf weg so schnell du kannst, und schreib mir unter falschem Namen, wenn du in Frankreich bist.“
„Ok.“
„Ich hab Angst“, sagt die Rote in bestimmendem Ton, während sie hurtigen Schrittes den Weg zurück gehen. Die Blonde hält sie an der Schulter fest. Das Fräulein dreht sich um. Sie umarmen einander innig, bevor sie weiter gehen.

Nach ein paar hundert Metern sehen sie drei Männer auf dem Weg, von denen einer am Boden sitzt und sich den Kopf hält. Er hat eine große Platzwunde an der Stirn. Die Rote atmet tief ein, dreht sich noch einmal zur Blonden um, küsst sie auf den Mund eilt dann auf den Mann am Boden zu.
„Aber Herr Meissner, was ist ihnen denn passiert?“, fragt sie, und wirft sich vor ihm auf die Knie. Dabei behält sie seine Augen im Auge. Der Meißner schaut sie erst verständnislos, dann zornig, schließlich traurig und endlich mit einem unentschlossenen Grinsen an, wie jemand, der einen Witz nicht verstanden hat, sich aber nicht die Blöße geben will. „Hmmm“, macht er, „Hmmmm“. Seine Stimme klingt ungewöhnlich hoch.
„Herr Meissner? Herr Meissner!“ Das Fräulein greift ihn bei den Schultern und schüttelt ihn ein wenig. Sein Kopf schlackert auf dem dicken Halse. „Wassss wasss, was hast du gesagt?“
„Herr Meissner, ich hab gefragt, was ihnen passiert ist.“ Sie dreht sich um und schaut der Blonden, die nun hinter ihr aufgetaucht ist, besorgt ins Gesicht. Der Meißner nimmt seine Hand von der Stirn und betrachtet das Blut daran. Dann schüttelt er sich, zwinkert ein paar Mal.
„Ach, gar nichts, gar nichts, wertes Fräulein. Ich hab hier nur diesen… diesen Ziegel an den Kopf bekommen, nichts weiter. Ah, Frau Schäferin, wie gut, dass ich sie treffe.“
Die Schäferin blickt den Meissner an, wie jemand, der Angst hat, gleich eine gewischt zu kriegen. Die Rote hält mit zusammen gepressten Lippen den Atem an.
„Ich wollte… Ich wollte Sie um Ihren Rat bitten.“
Die Bauern, die sich eben an Alfred vorbei drängen wollen, wahrscheinlich, um die Blonde zu packen, bleiben stehen und sehen ihn verwirrt an. „Das ist die Seherin“, flüstert der eine dem Mann am Boden zu, ohne die Blonde aus den Augen zu lassen. „Die Schäferwitwe. Vielleicht erkennst du sie durch das Gegenlicht des Mondes nicht.“
„Doch doch doch. Genau die suche ich. Und ich erkenne sie ganz deutlich.“
Die Spoekenkiekerin kichert.
„Alfred geht es dir gut? Du bist verwirrt“, sagt einer der Bauern und beugt sich über den Mann am Boden.
„Nein. Nein ganz im Gegenteil. Mir ist gerade etwas sehr wichtiges klar geworden. Frau Schäferin, vielleicht sind Sie so freundlich und laden mich auf ein Glas Wasser in die Hütte ein? Ich will sie um ihren Rat bitten.“
„Äh aber natürlich.“
„Was machen sie überhaupt hier im Moor?“, fragt der Meissner nun an das Fräulein gewandt. Seine Augen glänzen.
„Einen Spaziergang“, sagt das Fräulein freundlich. Die beiden Bauern hinter dem Meissner sehen sich verwirrt an und zucken mit den Schultern. Ihnen ist es ja im Grunde egal – die Sache mit der Spoekenkiekerin, und überhaupt alles eigentlich.
„Frau Schäferin, ob ich wohl auch ein Glas Wasser?“, fragt nun das Fräulein nun an die Blonde gewandt.
„Natürlich, natürlich kommen sie gerne alle mit zur Hütte. Ich habe Wasser und Bier und vielleicht sogar noch ein bisschen Brot und Wurst. Kommen sie ruhig alle mit. Wem ich helfen kann, dem helfe ich.“
Dann hält sie dem Meissner die Hand hin. Der greift dankend danach, steht langsam auf und bleibt dann schwankend, den Kopf in den Nacken gelegt, stehen.
„Wasssss…. Was für eine schöne Nacht“, sagt er und atmet tief ein.
„Ja, was für eine Nacht“, sagt die Blonde und blickt über die nebelverhangene nächtliche Ebene, während ungefähr 400 Jahre später und wenige Meter entfernt ein Monstrum namens ANT mit gigantischen Füßen aus Titan im Moor steht und den Toten gedenkt.

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