Von Ritualen am Stadtrand
28. August 2017
Weiter in den Osten Hamms. Gefühlt die Stadtgrenze, oder weit darüber hinaus. Entlang des Kanals Industriehallen und Felder, Höfe und Güterverkehr. Die Löschung von Schiffen, Berge von Sand, Kohle, von mir unbekannten Rohstoffen. Das Kraftwerk am Horizont immer größer. Der Horizont verschiebt sich, füllt sich mit Wolken und Windrädern.
Wo es kaum mehr öffentlichen Nahverkehr gibt und die Straßenschilder Anlass zur Vermutung geben, dass Hamm hier ein Ende hat. Entfernt rauscht die A2, hin und wieder ein Auto auch hier, die seltsame Stille eines Gewerbegebiets. Trockene Ankündigung, eine Überraschung hier: Links Uentrop West I, rechts ein Hindu-Tempel. In direkter Nachbarschaft zu Lagerhallen und Gebrauchtwagenhändlern der Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel – der zweitgrößte hinduistische Tempel Europas.
Der Respekt, das erste Mal einen geweihten Ort einer unbekannten Religion zu betreten. Erinnerungen an Synagogen in Israel, an Moscheen in Palästina oder Sarajevo, an buddhistische Tempel in Ostasien. Kunst im Detail, in Gesängen, in Architektur, Malereien und Skulpturen, viele Gründe, sich mit diesen eigenen Narrationen zu beschäftigen. Wenn auch gänzlich unreligiös fangen mich Rituale ein, sie fehlen zunehmend im Alltag. Besondere Orte der Gemeinschaft, mit Konventionen, die man Vorschriften nennen mag. Die Diskrepanz zwischen den Glaubensrichtungen riesig und offensichtlich, eine Gemeinsamkeit aber oft: Stille und Ruhe. Ein anderes Zeitempfinden. Pure Orte.
Draußen also Gewerbegebiet, gänzlich andere Rhythmen, eine andere Sprache im Innern. Zwei Priester und ein Angestellter des Tempels in traditionell tamilischen Gewändern. Freie Oberkörper, Schmuck, Farbmarkierungen im Gesicht. Mir nicht sehr vertraute Gerüche und Töne.
Eine tamilische Familie neben mir folgt dem Gottesdienst (unterschiedlich) aufmerksam, die vier folgen dem Priester in festgelegter Reihenfolge, von einem Schrein zum nächsten: Erst ganz vorn in der Mitte, dann hinten links, dann wieder vorn in die Mitte, dann wieder nach hinten. Und so weiter. Ich frage mich, wie diese Prozession aussieht, wenn hier mehr als fünf Gäste durch die Halle wandern. Später lese ich von vielen Tausenden zu entsprechenden Anlässen.
Zu etwas übersteuerter Musik vom Band: Rituale mit Gesang, mit Gaben. Obst und Milch. Feuer und Blüten. Eine andere Welt.
Der Ausblick vor der Tür ein extremer Kontrast. Ein protzendes Kraftwerk zur linken. Ob es sich noch auf Hammer Terrain befindet?
Schräg geradeaus riesige Hallen mit Werbespruch zum absurden Schenkelklopfen. So groß wie andernorts Stadtviertel sammeln sich Gewerbe zu Fleischproduktion und -verarbeitung. Gelagertes Fleisch getöteter Tiere ausgelagert am Rande der Stadt. Vor den Toren der Stadt Totes und Verzehrbares. Verehrbares. Kraftwerk. Tempel. Ein mythologischer Nachhall. Eine Phantasie, die noch länger nachklingt.
Beruhigend zu wissen, dass der Tempel sich aus eigenen Stücken hier in Hamm-Uentrop niedergelassen hat. Ein Musterbeispiel dafür, was Nachbarschaft sein kann. Überraschend, divers, gegensätzlich. Absurd. Und schön.