Die Unsichtbaren

“This is how we do things around here.”

– Bright und Parkin, 1997

 

Sie waren silbern und glänzend wie Engelshaar. Sie waren auch sehr lockig. Aber hart waren sie und hatten schneidende Kanten. Sie lagen überall herum, auf dem Boden neben den Maschinen, auf der Ladefläche des Firmentransporters, sogar auf den Schuhspitzen der Männer, die die Schneidemaschinen bedienten. Ich kann mich so gut an diese Späne aus Metall erinnern. Als Kind wollte ich sie aufheben und sammeln, und sie Weihnachten an den Baum zu hängen.

Schau, sagte ich zu meinem Großvater, so haben wir schon das Lametta fürs Fest!

Er war nicht einverstanden. Er sagte mir, dass ich mit den Spänen nicht spielen sollte, sie seien gefährlich, sie würden mich verletzen. Ich durfte sie nicht anfassen, aufheben, schon gar nicht in meine Tasche stecken, sollte sie gefälligst auf der Erde liegen lassen.

Natürlich habe ich sie doch aufgehoben, mir die Taschen vollgestopft und damit gespielt. Selbstverständlich schnitten mir die harten Späne in die Finger. Ich habe es nie jemanden erzählt, denn ich hatte ja etwas Verbotenes getan. Aber ich habe doch immer weiter damit gespielt. Das Blut wischte ich am Stoff meiner Kleider ab und schwieg.

Manchmal sahen die Späne aus wie kleine, sehr spitze Nägel. Je winziger sie waren, umso schwärzer waren sie. Das helle, silberne Leuchten kam von der Masse und besonders liebte ich ineinander gedrehte Späne. Sie sahen aus wie lange Bohraufsätze oder auch wie kunstvolle Schrauben. Wahrscheinlich habe ich deswegen dem Großvater in meinem Roman, die Produktion von Spaneinsätzen für Bohrmaschinen angedichtet, weil die Späne, ihr Glitzern und die von ihnen ausgehende Gefahr, mir so sehr im Gedächtnis haften geblieben sind, genau wie dieser Brandgeruch, der vom Schneiden noch an ihrem Metall haftete.

Heute frage ich mich, ob mir auch verboten worden wäre mit den Spänen zu spielen, wenn ich kein Mädchen, sondern ein Junge gewesen wäre. Vielleicht hätte mich einer der Arbeiter an den Maschinen zu sich gerufen, mich vor sich aufgebaut und indem er meine Hand und meinen Körper gerade hielt, mir gezeigt, wie man Metall bearbeitet. Aber ich war ja ein Mädchen und der Arbeiter hätte sicher Ärger gekriegt. Vielleicht wäre es auch als wichtig angesehen worden, mir schon als kleiner Junge den Zusammenhang von Metall und Produktion zu erklären und nicht zu warten, bis ich größer würde, um sicher zu gehen, dass ich mich überhaupt für so etwas interessierte, denn Mädchen, interessieren sich ja für solche Dinge gewöhnlich nicht. Vielleicht hätte ich meinem Großvater und alles was er mit seinem, aus einem Fabriksken, entstandenen Industrieunternehmen präsentierte, näher sein können, wenn ich ein Junge gewesen wäre. Ich werde es nie wissen. Das Leben hat meinem Großvater keine Zeit dafür gelassen.

Die Industrie und vor allem der Bereich der Metallproduktion sind Männerdomänen. Gerade die heiße Verarbeitung von Stahl manifestiert alles, was gemeinhin mit dem Stereotyp Männlichkeit verbunden ist: Kraft, Schweiß, Schmutz. Bei der kalten Metallverarbeitung, sowie den Produktvertrieb sind Frauen schon eher anzutreffen. Doch in der Unternehmungsleitung, auf den Chefetagen sind sie weiterhin in der Minderheit.

Unsichtbar, würde Carolin Criado-Perez sagen. Sie hat ein umfangreiches Buch zu der Frage geschrieben, warum Frauen heute immer noch in so vielen Bereichen unsichtbar sind. Und ihre Antwort darauf: It´s a mans world!

Männer sind das Maß aller Dinge, die Welt ist nach ihren Bedürfnissen gemacht. Die Ansprüche der Frauen fallen schlichtweg unter den Tisch. Die empfohlene Raumtemperatur in Büros ist für Frauen zu kalt. Die Grenzwerte von Chemikalien zu hoch, die Sicherheitsanzüge zu groß.

Autos sind nicht sicher für Frauen, weil die Tests auf den Typ Mann laufen. Auch in der Metallindustrie ist die Infrastruktur männlich dominiert, für Frauen fehlt es zum Beispiel an Toiletten in Maschinenhallen. Frauen machen die Hälfte der Gesellschaft aus, sind aber meist unsichtbar, besonders wenn es um Führungspositionen geht.

Klar gibt es Ausnahmen, auch in der Unternehmungsleitung und mit der Zeit immer mehr Frauen, die sich an der Spitze eines Unternehmens durchsetzen. Marie Bilstein beispielsweise war eine Frau aus Südwestfalen, die diesen Habitus beherrschte und nach dem Tod ihres Mannes Ferdinand Robert Bilstein den Familienbetrieb übernahm. Sie lebte von 1848 bis 1924 und führte den Betrieb erfolgreich, bis einer ihrer Söhne diesen übernahm. Ihre Tochter war eine der wenigen Frauen im Kaiserreich, die Kunst studierten.

Auch Nina Patisson führt als Frau heute erfolgreich das internationale Unternehmen Bäumer in Südwestfalen.

Als Urenkelin des Gründers war es für Nina Patisson erst undenkbar, die Spitze des Unternehmens zu übernehmen. Eine Ausbildung im familieneigenen Betrieb, der damals von ihrem Vater geführt wurde, kam für sie nicht in Frage. Sie studierte in Deutschland und im Ausland, arbeitete  einige Jahre für ein Unternehmen in Paris, bevor sie auf den Ruf aus der Heimat antwortete. Nina Patisson hat es sicher nicht bereut und noch weniger das Unternehmen. Doch sie fing nicht als Tochter im Unternehmen an, sondern als eine unter Gleichen. Und diesen eusozialen Ansatz trägt sie auch in ihre Unternehmensleitung. Bei dem Siegener Recruiting Slam rappt sie sogar ihr Unternehmen vor.  Bei ihr sind bereits sechzehn Prozent der Mitarbeiter Frauen, was nicht wenig ist für die Metallindustrie. Den Habitus eines „Unternehmers“ erlernte sie am Vorbild ihrer Vorgänger. Obwohl zuvor immer Männer das Familienunternehmen leiteten, war es außer Frage die Tochter von der aktiven Nachfolge auszuschließen. Heute bereitet es ihr keine Schwierigkeiten, sich in ihrem Arbeitsalltag durchzusetzen. Nina Patisson definiert sich jenseits femininer Stereotypen wie Nagellack und Handtasche, sie inkarniert einen ganz eigenen weiblichen Führungsstil.

Die französische Sängerin Juliette Katz hat kürzlich ein Video veröffentlicht, indem sie eine beeindruckende Analyse dessen leistet, was sie als „eine Frau“ zu sein bezeichnet. In ihrem atemlosen Text berichtet sie, wie sie selbst über Jahre hinweg versucht hat, in eine soziale Schablone zu passen. Statt sich als Frau zu fühlen, empfand sie sich in eine Rolle gezwängt. Denn eine Frau, die sich zu sehr schminkt, ist provokant, einer Frau, die sich zu wenig schminkt, wird vorgeworfen, sich gehen zu lassen. Eine Frau, die sich aufstylt, will Männer anmachen, aber wenn Frau sich bequem ankleidet, hat sie keinen Stil. Juliette Katz weist darauf hin, dass Frauen sich zu oft von außen definieren lassen und dass es eigentlich darum geht, die freie Wahl zu haben. Frei zu sein, sich die Achselhaare zu rasieren oder eben nicht. Die Entscheidung über den eigenen Körper und das eigene Leben sollen Frauen genauso frei treffen können wie ein Mann.

Diese Freiheit fängt damit an, dass Mädchen und Jungen nicht nach geschlechtlichen Stereotypen erzogen werden, sondern als Menschen behandelt werden, die diese Welt  entdecken. Sie verdienen es, die freie Wahl zu haben, und das fängt schon mit den Gegenständen an, mit denen sie spielen.

 

Beitragsbild mit freundlicher Genehmigung der Albrecht Bäumer GmbH

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12:08 Uhr, Landschaftspark Duisburg-Nord

Zwischen stillgelegten Hochöfen und Werkshallen stehen vereinzelt Gruppen, in der Regel: familiengleich. Symmetrisch angeordnete Alleebäume wachsen aus sauber-grauem Kiesboden, ein gelbes Schild weist auf die Kollisionsgefahr von Mensch und Kran hin. Satzfetzen wabern über das Gelände: „Stell dich mal hier hin“, „Das ist aber hoch“, „Damals war das noch anders“, „Schau dir mal die Struktur an. Macht man heute auch nicht mehr so“, „Ich kann mich noch erinnern, als das hier alles …“, „Du musst es dir ein bisschen trüber vorstellen…“, „So ne Burg baut sich nicht in zwei Stunden“, „Als ich hier gearbeitet habe…“, „Ist ja alles ganz nett hier, aber warum muss denn immer dieser schreckliche Freizeitfaktor im Vordergrund stehen? Ich will hier nicht die Wände hochklettern. Ich will Füchse sehen“, „…und diese Lautstärke…“, „Mama, guck! Da hinten ist IKEA“.

Aus der Geräuschkulisse tritt ein Junge hervor. Er schaut interessiert, er geht auf die Dinge zu. Fasst Gitter an und Stämme. Vor einem Objekt neben dem Imbiss bleibt er stehen. „Hände waschen!“, ruft er freudig, zeigt auf das Objekt und dreht sich zu einer Frau und einem Mann um, die auf ihn zukommen. „Nee, hier kannst du nicht Hände waschen“, sagt der Mann. Der Junge fasst das Objekt an. „Wieso nicht?“, fragt der Junge. „Das ist ein Bohrer. Den kann man nur noch angucken“, sagt der Mann. Der Junge lässt die Hände fallen, schaut zu dem Mann und zurück.
Sein Blick: überrascht, verständnislos. 12:19 Uhr



>Landschaftspark Duisburg-Nord<

Seit den 80er Jahren stillgelegt: Die Rohre auf dem ehemaligen Hüttenwerksgelände in Duisburg-Meiderich. ©mhu
Seit den 80er Jahren nicht mehr in Betrieb: Die Rohre auf dem ehemaligen Hüttenwerksgelände in Duisburg-Meiderich. ©mhu
Der Duisburger Norden ist geprägt von Kohle, Stahl und Eisen. Thyssen wirkte hier ab 1901, nach der endgültigen Stilllegung des Hüttenwerks Anfang der 1980er Jahre wurde das Gelände erst Industriebrache, dann – mit viel Bürgerengagement – Kultur-, Sport-, Freizeit- und Naturort. Der Landschaftspark eignet sich für klassische Spaziergänge und kuratierte Erkundungen. Veranstaltungen, wie etwa die Ruhrtriennale, finden in und rund um die Werkshallen statt. Das Gelände ist frei zugänglich, es bedarf keiner Führungen, um auf die Hochöfen steigen zu können.
Street Art und Liebesschlösser sind Schmuckstücke des Industriegeländes – der Rest ist Geschichte.

 

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18:58 Uhr, Volkssternwarte Herne

Auf dem Hof der Volkssternwarte Herne verbleichen rund die 12, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 und 11.  In der Mitte des Kreises befindet sich eine Skala, ein Mann orientiert sich an ihr. Mit der Sonne im Rücken richtet er sich und seinen Schatten aus. „Es müsste jetzt kurz vor 7 sein“, sagt er nach einem kurzen Blick über die Schulter. Es ist 18:58 Uhr. Die Türen und die Luke der Beobachtungskuppel der Sternwarte stehen offen. Aus der Kuppel ragen das Ende einer Leiter und ein Kopf hervor, ein anderer geht mit einem Rechen voll mit Grünabfällen über den Hof. Ein weiterer beugt sich im Hof über ein Teleskop, sagt plötzlich: „Ah, da! Ein Sonnenfleck. Und was für einer!“ Dann wird der Himmel milchig und ein neues Beobachtungsobjekt gesucht. Der Mann mit der Uhrzeit wird auf der Spitze des Schornsteins eines stillgelegten Kohlekraftwerks unweit der Sternwarte fündig. Ein Wanderfalke sitzt auf einem Metallgerüst. Er ist mit dem Teleskop zu sehen, mit dem zuvor der Sonnenfleck entdeckt wurde. Der Falke steht auf dem Kopf, der Falke schreit. „Wir hatten auch schon einen, der ist von Astronomie auf Ornithologie gekommen. Hatte halt mehr Vögel beobachten können als Sterne und Himmelskörper“, sagt der Sonnenuhr-Mann. Um heute noch Himmelskörper sehen zu können, müsste man sich ins Planetarium setzen. Das geht dann auch. Und am Ende, am Ende hat man Sterne in den Augen. 19:45 Uhr



>Willkommen auf dem Mond: Wanne-Eickel<

Begrüßung am Bahnhof Wanne-Eickel. Wenn man nicht über Lokalgeschichtswissen verfügt, kommt man sich ein bisschen veräppelt vor. ©mhu
Begrüßung am Bahnhof Wanne-Eickel. Wenn man nicht über Lokalgeschichtswissen verfügt, kommt man sich mitunter ein bisschen veräppelt vor. ©mhu
Es gibt diesen Schlager. „Der Mond von Wanne-Eickel“ aus dem Jahr 1962 von Friedel Hensch. Die seit 1975 etwas widerwillig zu Herne gehörende, ehemalige Großstadt identifiziert sich so sehr mit diesem Tango, dass sie nicht nur Besitzerin eines 2131 Hektar großen Grundstückes auf dem Mond ist, sondern auch jede*n Besucher*in am Bahnhof und in der Innenstadt mit dem Schild „Willkommen auf dem Mond“ begrüßt. Ein Volkstheater mit dem Namen „Mondpalast“ komplementiert die Mond-Kampagne.

Volkssternwarte im Dorneburger Park

Dass in Wanne-Süd seit 1991 die Volkssternwarte Herne angesiedelt ist, passt da gut ins Bild. Die vom Verein „Astronomische Arbeitsgemeinschaft Wanne-Eickel/Herne“ ehrenamtlich betriebene Sternwarte lädt unter anderem jeden Montag ab 18:30 Uhr Interessierte zu Beobachtungsabenden ein. Beobachtet wird alles, was Himmel und Wetterlage hergeben – in den Wintermonaten ist dafür die passende Saison. Bei meinem Besuch konnte ich Sonnenflecken, die Aura der Sonne, Baumkronenblätter und den Wanderfalken betrachten. Nur der Mond, der sich an dem Tag eigentlich zur Partiellen Mondfinsternis zeigen sollte, war nicht zu sehen.

Mehr von Melanie Huber