Vom Leben und vom Sterben

Brigitte holt mich an einer Bushaltestelle im bergischen Nirgendwo ab. Am Morgen hat sie einen Kuchen gebacken, der wartet jetzt im Kofferraum. Wir fahren in ein kleines Dorf bei Nümbrecht, wo Brigitte die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Mit den Eltern wohnte sie im Haus von Tante Elli, die alleinstehend war, beide Brüder im Krieg gefallen, wovon Tante Elli sich zeitlebens nicht erholt hat. Die weinte und schrie, oft stundenlang, sagt Brigitte, heute würde man sagen, sie war depressiv. Überhaupt war der Krieg in der Kindheit gegenwärtig. Die Eltern ließen Flüchtlinge aus Ostpreußen bei sich wohnen. Ein paar Meter vom Haus entfernt, befindet sich ein Kriegerdenkmal, da gehen wir jetzt hin. Da haben wir als Kinder gespielt. Die Namen von Tante Ellis Brüder stehen auch drauf.

Noch beim Abhören der Aufnahmen kann ich hören, wie still dieser Ort ist. Die Vögel zwitschern und das Gras wächst.

Ist Krieg Arbeit?, denke ich, und dass ich mir diese Frage noch vor zwei Monaten nicht gestellt hätte. Es kommt alles wieder hoch, sagt Brigitte. Hinter dem Denkmal erstreckt sich ein Bolzplatz zwischen hohen Bäumen. Meine Eltern waren arm, aber wir hatten das Notwendige. Im Garten weideten die Kuh und ein paar Schafe, Hühner gab es auch, denn Tante Elli hatte eine kleine Landwirtschaft, da half Brigittes Vater mit, wenn Not am Mann war. Aber eigentlich war er bei der Post beschäftigt. Die Mutter war ebenfalls berufstätig und zwar beim Fernmeldeamt in Waldbröl. Da hat sie die Menschen per Draht miteinander verbunden. Das war ihr Ding. Und später hat sie bei Steinmüller in Gummersbach als Rezeptionistin gearbeitet, 16 Jahre lang.

Das Ding explodiert jeden Augenblick

Die Mutter hatte Schichtdienst, von ein Uhr mittags bis zehn Uhr abends. Einmal weinte Brigitte im Unterricht, weil sie ihre Mutter vor der Schicht noch sehen wollte. Da schickte der Lehrer sie nach Hause. Die Mutter fuhr mit dem Rad zur Arbeit und wieder zurück. Zwanzig Kilometer jeden Tag, auch nachts. Bus gab es nicht. Nach der Arbeit wartete noch der Haushalt. Mit dem Wirtschaftswunder kam die erste Waschmaschine. Von Tante Elli. Die Mutter saß zwei Stunden davor und passte auf, sagt Brigitte und lacht. Die hatte Angst, das Ding explodiert jeden Augenblick.

Brigitte ist evangelisch getauft, aber vor zehn Jahren zum Katholizismus konvertiert. Der Glaube und die Kirche tragen sie und geben ihr Kraft, sagt sie. Inzwischen sind wir nach Wiehl gefahren, haben das Auto vor der Tropfsteinhöhle geparkt und auf dem Parkplatz den Kuchen gegessen. Auf der Straße der Arbeit wandern wir an Schloss Homburg vorbei und weiter nach Nümbrecht.

Wir sprechen von der Jagd. Brigitte ist nämlich Jägerin. Ich bin überrascht. Eine Jägerin habe ich mir anders vorgestellt. Wie genau, kann ich gar nicht sagen. Ihre Familie hat ein Jagdrevier im Wildenburger Land gepachtet und zwar vom Neffen der Gräfin Marion Dönhoff, der ehemaligen Herausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit. Aber das nur nebenbei. Die Tiere, die sie im eigenen Revier erlegt, gehören der Familie und werden vermarktet. Besonders vor Weihnachten floriert das Geschäft.

Schießen bedarf viel Übung

Schon in der Bibel steht, dass man Tiere essen darf, sagt Brigitte, das ist eine Art Abschöpfen des Überflusses, ähnlich der Weizenernte. Wildschweine zum Beispiel haben keine natürlichen Feinde bei uns. Oder Kaninchen – wenn es Überbestände gibt, entwickeln sie die Myxomatose, die in der Regel tödlich ist. Es gebe viele Beispiele dafür, wie die Natur bei Überbeständen sich selbst reguliere. Ein interessantes Phänomen könne man bei Rehen feststellen. In Brigittes Revier, wo der Jagdbestand angepasst ist, wiege ein Reh satte 18 bis 20 Kilo. In manchen Gegenden, wo nicht gejagt, wird, seien sie deutlich leichter. Die Tiere dort haben Stress, sagt Brigitte. Sie brauchen ihr Territorium und das ist bei Überbeständen nicht gegeben.

Für den Jagdschein muss sehr viel gelernt werden, acht Monate lang paukte Brigitte, damals 45 Jahre alt, Jagdtheorie, Jagdrecht, Waffenkunde, Waffenhandhabung, Hundewesen, Wildbiologie, Spuren lesen, Baum-Arten. Hinzu kommt, dass sie das Schießen lernen musste, das mochte sie nicht so sehr. Es bedarf viel Übung, die Tiere sollen ja nicht unnötig leiden.

Schweine in sechs Stockwerken übereinander

An der Jagd interessiert sie gar nicht so sehr das Tiere Töten. Sondern das Drumherum, das In-der-Natur-Sein. Zwei bis drei Stunden lang verbringt sie dann am Hochsitz, am liebsten allein. Das ist wie Meditieren. Manchmal kommt auch nichts. Ist auch ok. Das Sitzen im Wald schärft ihre Wahrnehmung. Man sitzt eine Stunde da und auf einmal hört man, ach da rauscht ja ein Bach ganz in der Nähe.

Neulich, es war schon fast dunkel, hat sie ein Reh erlegt. Man sollte natürlich immer in die Zehn treffen, das heißt ins Herz, sagt Brigitte. Nur, manchmal drehen sie sich plötzlich, während man schießt, und dann flüchten die Tiere und es dauert eine Weile, bis die Organe aufhören. Der Hund fand das verendete Reh schließlich. Weidet man das dann gleich an Ort und Stelle aus?, frage ich. Nein, nein, sagt Brigitte, die Erde würde das Fleisch verunreinigen. Erst wird das Tier zum Haus getragen, dort aufgehangen und aufgeschärft. Danach kommt es ins Kühlhaus und muss eine gewisse Zeit abhängen, bis es die Fleischreife erreicht hat. Der spezielle Wildgeschmack, den viele nicht mögen, entsteht, wenn Wild lange abhängt. Hautgout, nannte man das früher. Das Fleisch war dann fast schon gammelig. Macht man heute aber nicht mehr so.

Marderkot, oder der eines Wiesels? ©Bleier

Schlimmer als das Töten von Tieren findet Brigitte die Massentierhaltung. Schweine in sechs Stockwerken übereinander halten, unter grauenhaften Bedingungen. Gäbe es nur Billigfleisch, wäre sie Vegetarierin.

Sie bückt sich und zeigt auf ein Häufchen Kot, das mitten auf dem Weg liegt. Wahrscheinlich ein Marder. Oder Wiesel, sagt sie. Ich mache ein Foto, es ist wahrscheinlich das erste Foto in meinem Leben vom Kot eines anderen Lebewesens. Ob ich mal mit auf den Hochsitz kommen möchte, fragt sie mich. Etwas in mir sagt sofort ja, etwas in mir sagt sofort nein. Klingt schon verlockend, sage ich. Ich überleg’s mir.

Was ist denn eine Grüne Dame?

Brigitte ist nicht nur Jägerin. Sie ist auch Seelsorgerin, seit 20 Jahren. Gelernt hat sie Medizinische Fachangestellte, bei einer Kinderärztin, weil sie immer etwas mit Kindern machen wollte. Nach der Lehre kam sie nach Waldbröl ins Klinikum Oberberg, in die Radiologie, hat dort Strahlenschutz und andere Weiterbildungen gemacht. Damals hatten die noch 700 Betten. Heute sind es weniger. Bei Wikipedia lese ich, es sind sogar weniger als die Hälfte, nur noch 320.

Bis heute ist sie dem Krankenhaus verbunden, als Grüne Dame. Was ist denn eine Grüne Dame, frage ich und überlege, ob ich Grüne Dame klein oder groß schreiben werde. Grüne Dame, das ist ein ehrenamtlicher Dienst, man geht über die Zimmer und fragt: Brauchen Sie etwas, ein Gespräch oder was zu trinken oder zu essen oder Batterien für das Hörgerät. Besonders sensibel müsse man mit den Angehörigen der Sterbenden umgehen. Und generell wichtig sei, sich selbst zurückzunehmen. Darf ich für Sie beten, fragt sie dann vorsichtig. Manchmal geschehen Wunder, erzählt Brigitte, auch wenn die Kranken schon nicht mehr ansprechbar waren, beten sie manchmal das Vater Unser mit.

Wir sind mittlerweile kurz vor Schloss Homburg und machen einen kleinen Abstecher zu den Dicken Steinen. Die liegen mitten im Wald herum und sind tatsächlich ziemlich dick. Und grün bemoost und sehr schön. Im Internet steht, es handelt sich um Quarzit-Härtlinge aus der Devonzeit. 350 Millionen Jahre alt. Wir machen Fotos von den Steinen und von Brigitte auf den Steinen.

Gesprächsprotokolle zerpflücken

Brigitte als Grüne Dame

Danach habe ich noch die klinische Seelsorge-Ausbildung gemacht, da habe ich viel dazugelernt. Zum Beispiel Gesprächsprotokolle schreiben, die hinterher auseinander gepflückt werden. Ich bin gespannt, ob Brigitte auch mein Gesprächsprotokoll auseinanderpflücken wird. Ich hoffe nicht. Besonders schätzt sie die Supervision, das sei wie eine eigene Therapiestunde. Überhaupt ist ehrenamtliche Arbeit gesellschaftlich unverzichtbar. Seelsorge zum Beispiel fängt auch das Fehlen von dringend benötigten Therapieplätzen auf. Zudem ist es ein niedrigschwelliges Angebot. Beim ambulanten Hospizdienst bin ich auch. Da wird man beispielsweise gefragt, ob man zu bestimmten Zeiten die Angehörigen ablösen kann, damit die mal Pause machen oder nach Hause fahren können.

Zudem ist Brigitte Mitbegründerin des Hilfswerks St. Martin e.V., dessen Prinzip Helfen durch Teilen ist. Wichtige Grundsätze sind unter anderem Völkerverständigung und Förderung internationaler Gesinnung. Unterstützt werden Projekte in Kenia, Uganda oder dem Kongo, aber auch Menschen, die an Weihnachten einsam sind oder in Not geratene Familien.

Und nebenbei passt sie aufs Enkelkind auf und abends geht sie trommeln. Wow, sage ich. Und zu alldem müssen Sie sich auch noch mit der Regionsschreiberin treffen! Sie lacht. Das hört sich alles sehr viel an, aber ich kann das gut sortieren. Weil ich auch gelernt habe, nein zu sagen.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit III von Wiehl nach Waldbröl
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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