Gedenken ohne Gedächtnistheater

Die letzten Jahre, als ich noch ausschließlich in Deutschland lebte, waren nicht leicht für mich. Das lag auch, aber nicht nur, an der Weltmeisterschaft von 2006, in der die Deutschlandflagge wieder salonfähig wurde. „In Deutschland“, schreibt Michael Ebmeyer, ruft die „Flaggenseligkeit (…) Abscheu hervor“. Die historische Hemmschwelle, sich mit Schwarz-Rot-Gold zu identifizieren, gehört zum Selbstbild von uns nachgeborenen Deutschen. Wir sind nicht stolz auf unser Vaterland, denn wir wissen, „der Sonderweg des deutschen Nationalstolzes ist der Weg in die Katastrophe“, so Ebmeyer. Darüber ist sich meine Generation so bewusst wie keine andere. Wir haben Stolz mit Scham ersetzt. Dahinter steht das pädagogische Konzept der Betroffenheitspädagogik. Diese Form der Lehrmetode entstand in den siebziger Jahren, beeinflusst aus Erlebnispädagogik und Gestaltpädagogik, untermauert von den Schriften Theodor Adornos zur Erziehung nach Auschwitz.

Dass sich diese Form der gesellschaftlichen Bildung immer auch auf dem Schneideweg zwischen Scham und Schuld befindet, habe ich selbst als Kind erlebt.

Während heute meine eigenen Kinder und ihre Freunde mit dem Begriff Hitler als Inkarnation des Bösen aufwachsen, wurde er in meiner Jugend diese Persönlichkeit noch als der, dessen Name man nicht ausspricht, gehandelt.

Bevor wir von Hitler lernten, lasen wir Bücher wie „Damals war es Friedrich“ in der Schule. Die Erzählung von Hans Peter Richter von einem jüdischen Jungen, der sich selbst überlassen wird, weil sein ganzes Umfeld Systemtreu reagiert und der am Ende qualvoll stirbt, hat mich als Kind aufgewühlt zurück gelassen. Ich hatte das Buch schon zu Ende gelesen, bevor wir es in der Schule überhaupt fertig besprochen hatten und ich weiß noch genau, wie ich danach zu meiner Großmutter ging, um sie zu fragen, ob sie Juden gekannt hatte. Juden in Südwestfalen, oder Juden in unserer Heimatstadt, in Olpe.

Natürlich hatte sie, da waren Geschäfte gewesen, die von Juden geführt wurden und Mädchen, die mit ihr in eine Klasse gegangen waren. Und irgendwann waren sie nicht mehr da gewesen, alle. Mehr erfuhr ich nie von ihr.

Danach richtete ich mich an meine Mutter, sie hatte den Krieg nie erlebt, war erst an zu Kriegsende überhaupt geboren worden, hatte aber viel mehr zu sagen. Und an diesen Moment der Aufklärung habe ich eine sehr deutliche und einschneidende Erinnerung. Ich kann den Raum, indem meine Mutter mich über die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgeklärt hat, noch genau vor mir sehen, in meinem Gedächtnis kann ich ihn abrufen wie einen auswendig gelernten Text, da war in ihrem Arbeitszimmer, eine weiße Wand, ein heller Teppich am Boden, die Blumenkästen vor den Fenstern und alles voll mit ihren Worten und das Grauen, über das Unvorstellbare der Vergangenheit einer Nation, der ich angehörte.

Dieser Moment wurde schließlich einer von vielen in meiner persönlichen Konfrontation mit der deutschen Vergangenheit. Eine historische Realität, die ich als immer erdrückender erlebte, und auch immer weniger aushaltbar, je mehr Fahnen und je mehr Nationalismus wiederaufkam. Schließlich, das muss ich mir doch eingestehen, habe ich die Flucht ergriffen.

Heute bin ich sehr glücklich, wenn ich, in dem Pariser Vorort, indem meine Familie zu Hause ist, unsere Nachbarn am Samstagmorgen, wie jeden Sabbat (sofern kein Corona ist), zusehen darf, wie sie in die Synagoge gehen.

Doch muss ich mir eingestehen, dass es vor der allgegenwärtigen Anwesenheit der deutschen Vergangenheit, eben vor dem, was in Auschwitz geschah, keine Flucht gibt. Ich bin Deutsche und bleibe es, da hilft auch keine zeitliche oder räumliche Distanz.

In seinem Werk zu „Geschichte und Gedächtnis“ schreibt der französische Historiker Jacques Le Goff: „Die Beziehungen, die eine Nation zu ihrer Vergangenheit unterhält, die historischen Traumata, die sie erlitten hat, die Eigentümlichkeiten ihrer Historiographie, sind wesentliche Bestandteile ihrer kollektiven Identität. Der eigenen Geschichte ins Angesicht zu blicken, ist eine Pflicht, sowohl für Nationen wie auch für Individuen.“

Einer, der nicht davor geflohen ist, ist Tom Kleine. Seine, mit Hartmut Hosenfeld gestartete, Initiative „Jüdisch in Attendorn“ wurde 2019 ausgezeichnet. Die Hansestadt Attendorn kann stolz auf diese Initiative sein, die sich 2018 mit der Aktion „Shalom Attendorn“ und der Eröffnung des ersten jüdischen Themen-Wanderweges hervortat. Wenn, wie ich zuvor geschrieben habe, von unserer Generation der Stolz mit Scham ersetzt wurde, bringen Menschen wie Tom Kleine und Hartmut Hosenfeld diesen Stolz auf das, was man im allgemeinen Wortschatz Heimat nennt, in anderer, neuer Form zurück.

Tom Kleine und Harmut Hosenfeld

Auf ihrer sehr ausführlichen Internetseite „Jüdisch in Attendorn“ gibt es eine Vielfalt an Informationen und Geschichten zu entdecken, aus der Vergangenheit und Gegenwart der Hansestadt. In der es jüdisches Leben seit dem Jahre 1451 dokumentiert ist. Die jüdischen Familien der Stadt waren Metzger, Händler, Fabrikbesitzer und die vielen zusammengetragenen Dokumente, wie ein Lehrlingsvertrag aus dem Jahre 1926, zeugen von einem auf gegenseitigen Respekt beruhenden Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften, das leider durch den Nationalsozialismus ein brutales Ende fand.

Ein Mensch, der zu dieser Gemeinschaft aus Vielen davor gehörte, war Julius Ursell, ihm ist der Themenweg gewidmet. Sein Lebenslauf liest sich, wie der eines typischen Bewohners Südwestfalens jener Zeit, der das Metallunternehmen eines Vorfahren übernahm, das, wie so viele in der Region, von einem „Fabriksen“ zu einem anschaulichen Unternehmen wurde. Julius Ursell war begeisterter Wanderer, Mitglied im Schützen- und Turnverein. Er starb an einer Erkrankung auf einer Geschäftsreise 1936. Sein Grab liegt noch heute in Attendorn. Viele seiner Nachfahren sind schon in die Region gereist, um den Themenweg zu besuchen.

Einweihung der Gedenkstele

Aber das ehrenamtliche Engagement von Tom Kleine hört nicht bei „Jüdisch in Attendorn“ auf, beruflich als Pressesprecher der Stadt Attendorn, ist er auch der muslimischen, katholischen und evangelischen Gemeinden nahe. Die Moschee in Attendorn wurde 2017 eröffnet. Der Moscheeverein hat zu Beginn der Coronakrise noch eine Blutspende-Aktion durchgeführt.

„Aber natürlich“, erzählt mir Tom Kleine bei unserem Videointerview lachend, „ist bei uns in Attendorn auch nicht nur heile Welt, aber wir kommen hier sehr gut miteinander aus.“

Er begleitet selbst viele Gruppen, die den Julius Ursell Weg entdecken. Das Angebot wird vor allem von Lehrern genutzt, auch aus Olpe.

Fast wünsche ich mir, dass es zu meiner Schulzeit schon solchen Initiativen gegeben hätte, die mir damals hätten helfen können, das historische Traumata zu bewältigen. Doch die Dinge brauchen ihre Zeit, oder wenigstens ihre Geschichte. In Attendorn wohnt auch wieder eine Familie jüdischen Glaubens, verrät mir Tom Kleine. Diese, so entnehme ich seinen Worten, ist Teil der Gemeinde, ohne als jüdische Minderheit von dieser für die eigene Läuterung missbraucht zu werden. Diese „Läuterung“, wie der deutsch-jüdische Lyriker Max Czollek sie nennt, besteht darin, dass jüdische Minderheiten in Deutschland oft mit einem „Gedächtnistheater“ instrumentalisiert werden, um den lebenden Beweis zu liefern, dass die deutsche Gesellschaft ihre mörderische Vergangenheit gut verarbeitet hat. In seiner Streitschrift warnt Czollek davor, dass nach den Moscheen, auch wieder die Synagogen brennen.

Die Gefahr besteht in Deutschland, doch Menschen wie Tom Kleine setzen ihr Engagement dagegen und indem sich „Jüdisch in Attendorn“ aktiv mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, müssen keine neuen Minderheiten im Gedächtnistheater instrumentalisiert werden. Das ist schön, und das hätte auch ich gar nicht so gedacht, und ich hoffe, dass mir, Corona zum Trotz, noch Gelegenheit gegeben wird, gemeinsam mit Tom Kleine die Geschichte „Jüdisch in Attendorn“ zu entdecken.

Jüdischer Friedhof in der Hansestadt Attendorn

 

Die Bilder in diesem Beitrag wurden von Tom Kleine zur Verfügung gestellt, Herzlichen Dank dafür!

 

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