Das Ganze in der Welt Unterschiedliche

Treffpunkt ist der Busbahnhof in Hückeswagen. Rudi und der WDR sind schon da. Rudi bekommt ein Mikro von mir, das ich an seinem Hemdkragen befestige, und ich bekomme ein Mikro von Daniela, die für die Lokalzeit Bergisches Land einen Beitrag über die Straße der Arbeit macht. Zu dritt ziehen wir los Richtung Wupper.

Rudi ist ein Fan von Gernstl unterwegs und auch vom Gipfeltreffen, das sind Formate des Bayerischen Rundfunks, in denen übers Leben geredet wird. Über das Leben im Leben und die Orte im Leben und die Krisen im Leben. Der DJ Ötzi zum Beispiel, sagt Rudi, war ein ungewolltes Kind aus einem One-Night-Stand. Er war sogar mal obdachlos. Aber er hat was draus macht, das finde ich stark. Auch Rudi hat eine Zeitlang in Bayern gelebt, im Allgäu.

Als ich später die Aufnahmen abhöre, sagt Rudi beiläufig, jetzt müssen wir durch die Wupper, und ich weiß nicht mehr, was er damit gemeint haben könnte. Jedenfalls sind wir nicht durch die Wupper gegangen.

Aufnäher mit der Schere aufschneiden

Ich bin nicht mehr der Arbeiter, der ich einmal war, sagt Rudi. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, wo Schicht gearbeitet wurde, von beiden Elternteilen. Wir waren vier Kinder. Wenn meine Kumpels am Wochenende ins Schwimmbad gingen, musste ich regelmäßig bei der Heimarbeit helfen. Heimarbeit, das bedeutet nicht, das Geschirr in die Spüle zu stellen oder den Rasen zu mähen – das bedeutet, Kugelschreiber zusammenzubauen oder Schrauben abzuzählen und in Tüten zu packen. In Rudis Fall hieß Heimarbeit, für ein Textilunternehmen Aufnäher mit der Schere auszuschneiden. Meine Mutter war recht streng und schon damals bin ich in bestimmte Vorstellungen gepresst worden, zum Beispiel durfte ich – trotz Empfehlung – nicht das zehnte Schuljahr machen, sondern musste in die Lehre gehen. Bei einem Raumausstatter sollte ich eine kaufmännische Ausbildung absolvieren, allerdings hat dort das Handwerkliche überwogen, erzählt Rudi. Statt Betriebswirtschaft und Buchhaltung zu lernen, musste er mit zu den Kunden und später auch tageweise auf Montage fahren.

Verantwortung zu tragen, das stand in seinem Leben immer im Vordergrund. Es fehlte aber in allem die Leidenschaft. Ich wurde immer in Stress gebracht, sagt Rudi. Auch die letzten 30 Jahre als Fußbodenleger, da war ich nur unterwegs, viel auf Montage, viele Stunden auf der Autobahn, und es wurde immer mit dem spitzen Bleistift abgerechnet. Weil wir im Akkord waren, sind irgendwann auch die Gelenke in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass ich lange von Schmerztabletten gelebt habe. Er hat Fußböden verlegt, PVC, Teppichböden und so weiter, das geht auf die Knie. Operationen und viele Krankzeiten folgten.

Montage und Akkordarbeit, sage ich, das ist aber eine krasse Kombination.
Ja, krass, oder?, sagt Rudi, er sagt es wie jemand, der von einer gelungenen Flucht erzählt, der sich gerade noch in Sicherheit gebracht hat.

Die Zeit, die er auf der Autobahn verbracht hat, wurde nicht als Arbeitszeit verrechnet. Das ist es ja, sagt Rudi, das Ganze in der Welt Unterschiedliche. Über diesen Ausdruck denke ich noch lange nach. Es schließt so viel mit ein: die Ungleichheit, den Zufall, die Willkür, mit der Privilegien verteilt werden. Aber es schwingt auch die Hoffnung mit, irgendwo in dieser Unterschiedlichkeit doch noch seinen Platz zu finden.

Haus an der Bevertalsperre

Du hast übrigens deinen Schuh offen, sagt Rudi. Auf den Aufnahmen gibt es seltsamerweise keine Anhaltspunkte dafür, dass ich den Schuh wieder zubinde, ich höre meine Stimme sagen, ich hatte heute morgen keine Zeit mehr, sie richtig zu schnüren.

Innerhalb der Familie hat ihn vor allem die Rolle als Ernährer unter Druck gesetzt. Man war immer kaputt, immer fertig, da blieb nicht viel Luft, um freundlich und nett zu sein. Als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, hat er darüber nachgedacht, kürzer zu treten.

Keiner weiß mehr weiter

Ich bin dann irgendwann aus dem Handwerklichen rausgegangen und wollte meine Erfahrungen in die Bauleitung einbringen. Doch in der Position zwischen Geschäftsführung, Architekt und den Handwerkern, die man anleiten muss, da bin ich dann irgendwann zusammengebrochen, und hatte viele Auszeiten.

Auch mit seiner neuen Partnerin und in der Patchworkfamilie blieb alles beim Alten. Du verbindest mit Arbeit sehr stark auch eine soziale Rolle, oder?, frage ich, und Rudi sagt, ja. Die aber meines Erachtens zulasten der Arbeitnehmer geht, zu ihrer Unzufriedenheit, was sich dann auch zuhause widerspiegelt, in Frust. Wenn du dann nach einem Arbeitstag mit viel Lärm und Hektik auf der Baustelle nach Hause kommst, ist es auch zu Hause laut, heutzutage hat jeder eine Musikanlage und einen Fernseher und es dröhnt und schallt. Das zu kombinieren mit Ich-will-jetzt-mal-abschalten, mich auf morgen konzentrieren, das hat mich in Phasen gebracht, die nahe am Burnout waren, natürlich auch in Zusammenhang mit den Belastungen, die es in meiner Kindheit gab, sagt Rudi.

Beim Abhören der Aufnahme muss ich plötzlich an Rolf Dieter Brinkmann denken, an sein Buch Keiner weiß mehr, das mein Hirn immer ergänzt mit weiter. Keiner weiß mehr weiter. Auch wenn es da die Frau ist, die das Geld brachte, die für ihn unerfüllbare Rolle des Familienvaters klebt bei Brinkmann an jedem einzelnen Buchstaben wie ein böser Spuk*. Von so einem Unbehagen erzählt auch Rudi jetzt, mit der reflektierten Klarheit dessen, der ausgestiegen ist.

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*Der böse Spuk, der ein Leben lang an meinen Fersen klebt nannte der Kulturwissenschaftler Mark Fisher seine Depression, die er stets in einem politischen Kontext der vom Kapitalismus erzeugten gespenstischen Lebenssituation betrachtete.

Weniger Konsum, weniger Arbeit

So hat Rudi sich mir nämlich auf Facebook vorgestellt: als Aussteiger. In einem Artikel der Westdeutschen Zeitung über Die Straße der Arbeit – die paradoxerweise in der Rubrik „Freizeit“ erschien – stand, dass ich mich auch für die Arbeit interessiere, die nicht ausgeübt wird. Und für die Menschen, die diese Arbeit nicht ausüben. Für Leute wie Rudi.

Was könnte man denn ändern, damit Eltern nicht so belastet werden? Das ist ein schwieriges Thema, sagt Rudi. Ich weiß es nicht, im Nachhinein kann ich eh nichts mehr ändern. Es geht halt immer mehr in den Tunnel hinein, dass Arbeitnehmer ausgenutzt werden, sagt Rudi, dem am Ende nur noch blieb, eine Auszeit zu nehmen. Und in dieser Auszeit hat er im Allgäu gearbeitet, bei der Lebenshilfe im Kleinwalsertal. Zumindest wollte er an einem Ort sein, an dem es schön ist, mit dem er positive Erlebnisse wie Urlaub, in der Natur sein verband. Er hat dort in einer Holzwerkstatt behinderte Menschen betreut. Da hat er zum ersten Mal gemerkt, wie zufrieden Arbeit machen kann. Mit Menschen, die einem das Glück zurückbringen, durch ein Lachen zum Beispiel, sagt Rudi. Und als meine Batterien wieder aufgeladen waren, war auch klar:

Ich will in dieses alte System nicht mehr rein.

Wir haben alles gehabt, Urlaub, Auto, dies und das; seit 2015 aber, seit meiner Rückkehr, lebe ich wie ein Student und gehe einem Job nach, der mir Zufriedenheit bringt. Das heißt: Ich gebe das Tempo vor, ich gebe die Ziele vor, ich bin zwar als One-Man-Power auf mich allein gestellt, da ich aber nicht mehr diese materiellen Ansprüche habe, muss ich auch nicht mehr so viel Leistung bringen.

Wie man so ein Modell auf die Arbeitsgesellschaft umsetzen könnte, da ist er überfragt. Unternehmen müssen schließlich wirtschaftlich denken, müssen Einnahmen haben, nur diese Einnahmen, sagt Rudi, die gehen, so sind meine Erfahrungen, zu Lasten der Arbeitnehmer. Als Gegenleistung kann sich jeder eine Freude machen, indem er in einen Kik reingeht oder in einen anderen Billigladen und sich an materiellen Dingen befriedigt. Da müsste es, so Rudi, mal einen Schritt zurück gehen, und er würde sich gerade von der grünen Politik wünschen, diese Thematik anzugehen. Demokratie kann ja nicht nur darin bestehen, dass jeder jederzeit irgendwas konsumieren kann. Da werden Jobs angenommen, für die Leute 200 Kilometer am Tag auf der Autobahn unterwegs sind – für einen Minijob. Und dafür stehen sie dann in Neuss, Düsseldorf oder Wuppertal stundenlang im Stau. Für 450 Euro! Da muss mal was im Arbeitsleben passieren!, findet Rudi.

Zwei Handwerker

Weniger Konsum, Arbeitstempo selbst bestimmen, Ziele selbst definieren – das könnte man doch durchaus auch gesamtgesellschaftlich ausdiskutieren. Weniger Kaufangebote, dafür mehr Mitbestimmung im Arbeitsleben.

Schutzengel liefen top in der Corona-Zeit

Rudi ist davon überzeugt, dass wir viele Dinge gar nicht vermissen würde. Außerdem würden wir das globale Müllproblem lösen. Vielleicht passiert das ja, irgendwann. Vielleicht auch nicht, zumindest ist unser jetziges System keins, in dem ein Alternativmodell vorstellbar ist.

Für sich selbst hat Rudi einen Weg gefunden. Man muss in sich selbst verliebt sein, findet er. Er lebt jetzt von seiner Holzkunst, die er auf dem Markt in Schwelm verkauft. Was stellst du da her, frage ich, und Daniela, die uns die ganze Zeit von Weitem gefilmt hat, ist auch neugierig geworden. Ich fertige in meinem Atelier Holzdekore, sagt Rudi. Die fertige ich aus Massivholz oder was ich halt so bekomme oder im Wald finde. Einfach geschnitten, geschliffen, bearbeitet mit dem Werkzeug, das ich zur Verfügung habe. Was zum Beispiel top lief in den Corona-Monaten, sind Schutzengel. Es gibt Leute, die sagen, es gibt sie, und es gibt Leute, die sagen, es gibt sie nicht. Auf jeden Fall ist ein Markt dafür da.

Seine Urlaube verbringt Rudi in der Bretagne auf dem Fernwanderweg. Dafür braucht er nicht mehr als 150 Euro die Woche für Mitfahrgelegenheit und Verpflegung. Geschlafen wird im Zelt. Auto hat er nicht mehr, aber man kommt auch so von Wuppertal nach Schwelm. Er ist Teil einer privaten Carsharing-Gruppe, das geht letztlich aber auch nur, wenn nicht jeder einen straffen Zeitplan erfüllen muss.

Auf den letzten Kilometern nach Wipperfürth denken wir darüber nach, wie stark ungesunde Arbeitsstrukturen auch unsere privaten Beziehungen beeinflussen. Die Unzufriedenheit bringst du nach Hause mit, sagt Rudi. Bei ihm war es so, dass für seine beiden langjährigen Beziehungen wenig Raum blieb, und dass es auch für ihn selbst wenig Freiraum in den Beziehungen gab. Denn das hängt ja irgendwie zusammen: nur wer selbst genügend Freiraum in seinem Leben hat, ist auch in der Lage, anderen Freiraum zuzugestehen. Und war nicht Raumausstatter Rudis Lehrberuf nach der Schule?

Auf der Straße der Arbeit von Hückeswagen nach Wipperfürth

Da! Da vorne, ein Hase, sagt Rudi. Und wirklich, ein großer grauer Hase hoppelt uns entgegen und als er uns bemerkt, springt er ins Feld und ist weg. Kurz darauf sehen wir einen Fuchs. Krass. Nein, es ist kein Fuchs, es noch ein Hase. Vielleicht ein Familienmitglied? Wusstest du, sagt Rudi, dass Rehe bellen. Rehe bellen, echt? Ja, wenn sie Angst haben. Als ich diese Stelle später in den Aufnahmen abhöre, bin ich etwas skeptisch, so dass ich Rehe bellen google. Tatsächlich: Rehe können bellen. Man nennt das in der Jagdsprache schrecken. Sie tun das, um ihr Territorium akustisch abzugrenzen oder um Artgenossen vor Gefahr zu warnen. Und ganz besonders fasziniert mich ihre Taktik, im Chor zu bellen, um ein angreifendes Raubtier zu verwirren.

Pünktlich zu unserer Ankunft in Wipperfürth zieht sich der Himmel zu und es fängt an zu regnen. Wir haben jetzt Lust auf ein Eis, finden eine Eisdiele und bestellen uns einen Walnuss- und einen Erdbeerbecher. Ich lade Rudi ein und Rudi schenkt mir ein Holzdekor: einen Handschmeichler in Form eines kleinen Kreuzes.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit III von Hückeswagen nach Wipperfürth
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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