Die Mitte Europas – Meeting Halfway

Ort: Auf der Hälfte zwischen Athen und Reykjavik | Datum: So, 08.10.2017 | Wetter: wechselhaft, 10°C, oder: ein isländischer Sommertag

Stanislaw Mucha macht sich in seinem 2004 erschienenen Dokumentarfilm Die Mitte nicht auf, die Ränder und Grenzen Europas zu betrachten, wie es viele europäische Road Movies auf der Suche nach einer postmodernen europäischen Identität machen. Er fragt nicht nach dem Anfang oder Ende. Sondern er sucht das Zentrum des Kontinents. Er und sein Team begeben sich in zwölf Ortschaften, die allesamt behaupten, die Mitte Europas zu markieren. Seine Recherche führt ihn dabei nicht nur nach Deutschland und Österreich, sondern auch nach Polen, Litauen, die Slowakei und die Ukraine.

Ausstellung "Meeting Halfway" im Rahmen des Münsterland Festivals part 9 im DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst. Im Anschluss ist die Ausstellung mit den fotografischen Arbeiten in der Burg Vischering zu sehen.Zumindest diesen Herbst liegt sie vorübergehend im Münsterland, die Mitte Europas. Hier, auf halber Strecke zwischen Athen und Reykjavik, treffen Kunst aus dem hohen Norden und dem tiefen Süden Europas für zwei Monate intensiv aufeinander. Beim Münsterland Festival part 9. Auf der heutigen Kunsttour zur Eröffnung der Druckgrafik-Ausstellung im Dormitorium des Klosters Bentlage in Rheine und in der Galerie Münsterland Emsdetten sowie einer abschließenden Kuratorinnenführung zu Meeting Halfway im DA Kloster Gravenhorst ganz buchstäblich. KünstlerInnen und BesucherInnen sind im Bus gemeinsam unterwegs, machen an den drei Orten im Münsterland Station, kommen über Kunst ins Gespräch.

Kunst, Musik und Dialoge im Spannungsfeld von Gegenwart und Vergangenheit

Vielfalt und Facettenreichtum. Unterschiede und Gemeinsamkeiten. In Paraskevi Papadimitrious Werk mischen sich Medusenhäupter mit Playmobilmännchen und Aliens. Widersprüche in ein und demselben Körper der Gegenwart. Von der Drei- hin zur Zweidimensionalität und zurück. So kann man in Valgerður Hauksdóttirs Euphonie nicht nur verschiedene Ebenen und ihren Dialog entdecken, sondern auch durch sie hindurchschreiten. Ein Kunstbuch Anna Snædís Sigmarsdóttirs wird zur isländischen message in a bottle. Thanos Tsiousis erzählt in seinen Holzschnitten antike Muster neu. Ein Über- und Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart.

Der isländische Fotograf Einar Falur Ingólfsson bereist auf den Spuren von W.G. Collingwood und Johannes Larsen Saga Sites. Konkrete Orte, die Eingang in die isländische Sagenwelt gefunden haben. Manche wirken bis auf den letzten Stein unverändert, in der Wildnis der Zeit enthoben. Manche im Tourismuszeitalter angekommen. Deutliche menschliche Spuren in der Landschaft. Verstrichene Zeit. Manche von der Natur wieder eingeholt. Ins Auge stechen die Fotografien von Zäunen, mitten in der Weite. Jeder Bauer baut sie aus dem, was er gerade (übrig) hat, hat einen eigenen Stil. Sie begrenzen nichts. Dienen allein den Tieren als Schutz, als Zufluchtsort vor der Witterung. Shelters.

Der Umgang mit den alten als eine Suche nach den neuen Mythen Europas?

Panos Kokkinias nimmt ebenfalls Landschaft in den Blick. Er inszeniert seine Fotos, wartet auf den perfekten Augenblick. Ein stilles Meer. Eine leere Ebene. Und setzt dann den Menschen hinein. In Konflikt? Verloren? Unheimlich? Der Betrachtende steht in Distanz zum Geschehen. Distanz, die Raum für Ironie und Befremden schafft. Yorgos Zois‘ Videoinstallationen beschäftigen sich mit der Wirtschaftskrise. Leere Werbeschilder wirken wie ihre Zeichen. Out of Frame. Casus Belli. Ein sich schließender Rollladen bringt eine ganze Gesellschaft zum Einsturz. Der Kollaps beginnt still, am Ende der Schlange, aber pflanzt sich von dort aus fort. Vor der Kulisse eines abgesperrten Amphitheaters.

Wo Salz von Nordatlantik und Mittelmeer aufeinander treffen.Die unterschiedlichen Arbeiten werden zu Reiseführern ihrer Länder, die Klischees bestätigen und brechen. Es geht um das kulturelle Erbe und seine Bedeutung in der Gegenwart. Ganz materiell und figürlich bis hin zur abstrakten Einbindung in die druckgrafischen Werke der isländischen und griechischen KünstlerInnen. Zwischen Fiktion und Realität. Ein Zusammenbringen von Techniken, Mustern, Themen, Zeiten. Von Holzschnitten über Collagen und Fotografien bis hin zur Videoinstallation. Trotz aller Kontraste finden sich auch Parallelen in den künstlerischen Arbeiten: Natur, Sagenwelten, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen und das Meer.

Treffen auf halber Strecke. Island – Griechenland. Nordatlantik – Mittelmeer. Ein Treffen in der Mitte. Einige Werke der Grafikprojekt-Ausstellung entstanden während der zweiwöchigen gemeinsamen Arbeit in der Druckwerkstatt auf dem Kloster Bentlage im Mai 2017 in Rheine. Begegnungen zwischen KünstlerInnen, Landschaften und Gedankenwelten. Porträtdrucke, über die sich Blumen ranken. Ein gestochenes Tagebuch mit Überraschungsmoment: das Wasser, das über Bündel aus Schwarzdornreisig rinnt. Geht man am Gradierwerk in Rheine entlang, schmecken die Lippen danach salzig. Wie nach einem Spaziergang am Meer.

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Survival Gardening

Ort: Alte Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine | Datum: Fr, 06.10.2017 | Wetter: Reste des Sturms auf den Wegen, regnerisch, 9°C

Die Regale sind leer. Scheiben blind. Scherben und Verpackungsmüll knirschen unter den Sohlen. Plastikfetzen und Blätter rascheln über gesprungene Fliesen. Trübes Tageslicht dringt bis zum Kassenbereich, vielleicht noch bis zu den ersten Regalreihen. Die Kühlabteilung, tief im Inneren, im Taschenlampenlicht in Streifen zerschnitten. Es ist still. Kein Radio, keine Durchsagen, kein Summen der Kühltheken, kein Rauschen der Gefriertruhen. Was tun, wenn das System zusammenbricht? Wenn Supermärkte leer, Cafés und Restaurants verlassen, ausgeräumt sind. Wenn Dosen und in Plastik verschweißte Vorräte langsam zur Neige gehen.

Im Krisengarten des Künstlerduos Scheibe & Güntzel auf der alten Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine.Seit April diesen Jahres arbeiten Swaantje Güntzel und Jan-Philip Scheibe auf der Ökonomie von Kloster Bentlage. Hier haben sie auf etwa 100 qm ihren Krisengarten angelegt – auf Basis eines Gemüsesaatgut-Bevorratungspakets, das eine vierköpfige Familie im Katastrophenfall ernähren soll. Ist fruchtbares Land und sauberes Wasser gefunden und gesichert, soll dieses Paket dem Überleben dienen. 20 reinsaatige Samen, verpackt in 20 Tütchen. Erbsen, Bohnen, verschiedene Kohlsorten, Kürbis, Karotten, Zwiebeln, Mais, Salat. An Wissen allein das, was auf der Rückseite der Packungen steht. Nichts über die Beschaffenheit des Bodens, die Schädlinge oder die Witterung.

Ein europaweites agierendes künstlerisches Projekt begibt sich in bekannte Gefilde – nach Westfalen.

Einen Moment lang, einen Augenblick, Anfang des Sommers, im Juli, war alles perfekt, so Philip. Da hätte man die Zeit anhalten wollen. In der „Grünen Blase“. Bis auf die Paprika gehen alle Samen im selbst angelegten Garten der alten Ökonomie am Kloster Bentlage an. Neben dem Krisengarten die Auseinandersetzung mit konkreter Landschaft und Natur. Ein Dekodieren von Texten, ein Erfahren des lebendigen Archivs. Begegnung mit den BewohnerInnen vor Ort. Daraus entwickeln Swaantje und Philip Ideen für Interventionen im öffentlichen Raum. Performances, die Traditionen und Geschichten einer Landschaft und ihrer BewohnerInnen reflektieren. Sie aufrufen und befragen. Mit vergleichendem Blick in die Gegenwart.

Am Gartenzaun, der aus herumliegenden Zaunelementen und Holzlatten selbst gezimmert wurde, kommt es während des Survival Gardening Projektes immer wieder zu Begegnungen mit den Menschen aus der Region. Mit ihrer Beziehung zur Natur, zur Scholle. Und, was daraus hervorgeht. Hervorkommt. Über – Lebensmittel. Essen. Gemeinschaft. Die Versorgung aus dem eigenen Nutzgarten ist hier noch Teil des Gedächtnisses. Ein Zurück dahin? Nicht vorstellbar. Keine romantische Verklärung oder Landlust-Ästhetik, sondern vor allem die lebendige Erinnerung an – harte Arbeit. Ein Vermissen – ja. Ein Zurück – nein.

Wann schlug die Selbstversorgerkultur zur Supermarktkultur um?

Vor dem Ersten Weltkrieg waren Gärten zur Selbstversorgung vor allem bei der Arbeiterschaft verbreitet. Erst während des Krieges setzte sich der Garten auch in der Bürgerschicht durch. Blick in den Krisengarten des Projekts "PRESERVED // Survival Gardening" des Künstlerduos Scheibe & Güntzel auf der alten Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine.Wer während des Zweiten Weltkriegs einen Garten hatte, erfuhr zwar Mangel und Entbehrung – aber keinen Hunger. Wer keinen hatte – Philip und Swaantje geben wi(e)der: Erinnerungen an Hamsterfahrten. Städter aus dem Ruhrgebiet. Butter in der Kleidung versteckt. Nachts. Die Sperren umgehend. Ein Leuchten nach noch unreifen Beeren. Ein Suchen nach den letzten zurückgelassenen Bohnen im Kraut auf dem Feld. Tauschgeschäfte durch den handbreit geöffneten Türspalt. In Krisenzeiten ändert sich das Verhältnis von Mensch und Natur. Eine (Wieder)Entdeckung scheinbar vergangener Kulturtechniken. Der eigene Nutzgarten. Beeren und Maronen sammeln. Giersch und Brennnessel als Nahrungsmittel. Einkochen und einlegen. Rote Beete färbt den Stoff.

Die Performances und Installationen brechen Bekanntgeglaubtes auf. Leuchten neue Räume aus. Bei manchen PassantInnen streifen sie die Wahrnehmung nur. Oder aber treffen mitten hinein. Fordern Reaktionen heraus. Stoßen an. Treffen auf Unverständnis bis Ablehnung, aber auch auf Neugierde und Interesse. Was nimmst du mit? Was macht das mit dir? Sie liefern keine Antworten. Sie stellen Fragen. Tragen sich fort. Bis nachhause gehe ich noch ein paar Schritte. Den Rucksack voll mit Maronen. In Händen einen kopfgroßen Kohlrabi aus dem Krisengarten. Es nieselt. Mir kommen fünf Personen entgegen. Drei von ihnen stellen Blickkontakt her. Drei von ihnen lächeln mich an.

Wo stehen wir heute im Verhältnis zur Natur? Schützen, konservieren, kontrollieren?

P.S.: Es gibt Grünkohlsorten, die keinen Frost benötigen. Es gibt Kohlrabisorten, die nicht verholzen, wenn sie größer als faustgroß werden. Es stimmt. Ich habe sie probiert.

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