Schreiben in Bewegung

Ort: quer durch NRW | Datum: Do, 31.08. 2017– Fr, 08.09.2017 | Wetter: Herbstanfang

Sie wischen am Fenster vorbei, halten stellenweise kurz inne, warten einen Moment, bevor sie weiterziehen: Münsterland, Ostwestfalen, Hellweg, Ruhrgebiet, Bergisches Land, Rheinschiene, Region Aachen. Städte und Stadtteile, Weiß auf dunkelblauem Grund. Daneben beschriebene und beklebte Bänke. Plakatwände auf Backstein und Beton. Aufgemalte gelbe Vierecke am Boden, von denen sich Rauchfäden gen Überdachung spinnen. Am Schotterrand des Bahndamms, unweit der Schienen, blüht der Schmetterlingsflieder. Vor Bahnhofsgebäuden, Industriebrachen und Fabrikskeletten dicke lilafarbene Blütentrauben.

Erstmals seit Beginn des Projekts lasse ich den Bulli eine Woche lang zurück. Eine Woche in fremden Betten. Fremde Vorhänge. Fremder Kaffee. Eine Woche voller Fahrpläne, Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Bus, S-Bahn, Straßenbahn. Taxis und Mitfahrgelegenheiten. Eine Woche lang quer durch NRW. Das Steuer nicht mehr in der Hand. Dafür Hände, Augen und Ohren offen für das, was ich sonst umfahren habe. Das Umsteigen. Das Warten. Fester Streckenverlauf. Kilometerlange Schienennetze und S-Bahn-Linien.

Tausche Mittelstreifen auf Asphalt gegen Betonsprossen auf Schotter.

Aachens Norden: das Depot. Noch ist es den TaxifahrerInnen nicht geläufig – in seiner heutigen Funktion. Ein Ort der Begegnung, des Austausches. Steigt man ins Untergeschoss, kreuzt man noch den Weg der Schienen. Einst trafen hier Busse und Straßenbahnen ein. Instandhaltung, Reparatur, Neujustierung. Heute sind es Interessierte, Autorinnen und Autoren sowie ProjektkoordinatorInnen, die Bergfest feiern. Zwischenfazit ziehen. Stadt, Land und Text präsentieren, begutachten, justieren. Und dann wieder raus, auf die Schienen, die Straßen, die Regionen.

Köln: Hauptbahnhof. Über den Rhein und die Hohenzollernbrücke, die mit jeder Liebesbekundung schwerer wird, fährt man auf ihn zu. Den Dombau. „Wennse vorne fertig sind, fangense hinten wieder an.“ Einfahrt in den Bahnhof. Der Verkehrsknotenpunkt zurrt sich zusammen. Am hinteren Ausgang die Bahnhofsbuchhandlung Ludwig, noch immer. Eine Lesung mit Koffertreiben im Augenwinkel. Nicht nur mittwochs schweift der Blick über Anzeigentafel, Bahnschalterschlange, Fahrpläne hinter Plexiglas, während das Ohr der Spur der Bücher folgt.

Am Rande Ostwestfalens: St. Vit. Ein ganzes Dorf in Bewegung: von Bobbycar-Rennen über Bambini- und Schülerlauf bis zu 4,8- sowie 10-km. START – Kreisfeuerwehrschule, Kirche, Kindergarten, Fichtenbusch, Friedhof, Flüchtendenunterkünfte – ZIEL. Fahnen schmücken die Straßen ringsum. Wer nicht mit seinem Laufen Gutes tut, feuert die rund 1000 LäuferInnen an. Musikgruppen, Cheerleader, Wasserstationen. Oder sitzt mit Nachbarn und Freunden an der Strecke. Auf der Bierbank vor der Garage. Bei Start- und Zielgeraden gibt‘s Kuchen, Kaffee, was Warmes.

Für die Sieger ein großes Weizenbier. Von der Brauerei um die Ecke. Ich bin fast zurück.

Über Land blickt man nachts durch Panoramascheiben ins Dunkel. Der Außenraum verwehrt ein Durchdringen, der Innenraum hell erleuchtet. Dazwischen die Funklöcher. Gegen Mitternacht nur noch wenige Blicke, die man treffen könnte. Während der Fahrt also erstmals wieder der Griff zu Tinte und Papier. Schreiben in Bewegung. Kugel und Räder rollen gleichmäßig. (Ge-)Schichten überlagern sich. Orte im Wandel. Momentaufnahmen. Zwischendrin Innehalten, erleuchteter Bahnsteig, Schotter und Schienen. Irgendwo im Dunkeln der Flieder.

Mehr von Claudia Ehlert

Maria, die „gute Seele“ vom Kloster Steinfeld

Ich wollte immer wissen, was ein Mädchen dazu treibt, ins Kloster zu gehen. Wie diese Entscheidung getroffen wird? Was sie dazu motiviert, ihr Leben Tag und Nacht als „fromme Dienerin“ zu verbringen? Nun steht vor mir eine Frau im fortgeschrittenen Alter, die meine Mutter sein könnte. Sie sieht ihr ähnlich: dieselben hellen, lebendigen Augen, hohe Wangen, ein dunkler Rock, das helle Hemd, keine Uniform. Sie lächelt mich an, nicht weniger neugierig auf mich als ich auf sie. Ich fühle mich wohl bei ihr, habe keine Hemmungen, stelle ihr Fragen, die ich einer Nonne oder einer Ordensschwester schon immer stellen wollte und mich nie getraut habe.

——

Wenn Maria Goretti Augustin, 78, gütige Augen, Igelfrisur, glänzende Zähne, zurück auf ihr Leben blickt, strahlt sie Ruhe und Gelassenheit aus. Ob sie alles richtig gemacht habe, das wisse der Herr besser als sie. Sie habe ihm, dem Allmächtigen, ihr Leben geschenkt, ihre Träume anvertraut, ihre Ängste auch, sie habe ihre Gelübde abgelegt für ihn, Gott, den Schöpfer, um für die Menschen „da“ zu sein. Eine Art Eid, ein Versprechen, das sie „mit Herz und Seele“ immer gehalten habe.

„60 Jahre lang“.

St. Maria Goretti Augustin

Für Gott und die Menschheit da sein

Als Maria noch Rosa heißt, macht sich ihre Mutter große Sorgen. Das Mädchen, fünfzehn Jahre alt, gerade nicht mehr Kind, lebendig, neugierig, ganz dieser Welt zugewandt, habe nicht nur den Jungs den Kopf verdreht.

Rosa will alles sehen, hören, riechen, alles erleben. In einem Kloster will sie sogar drei Tage lang versuchen, zu schweigen. Die Ordens-Schwester, die die Einkehrtage organisiert, muss über das Mädchen laut lachen:

„Aber nicht Du, Rosa! Länger als eine Minute still zu bleiben, das schaffst Du, mein Kind, sowieso nicht!“

Diese Worte ärgern Rosa und wecken ihren Ehrgeiz. Gepackt vom Trotz und dem Willen, allen und sich zu beweisen, sie könne alles, auch drei Tage schweigen, geht sie mit der frommen Mädchengruppe in ein Schweigekloster: und sie schafft es. Tatsächlich hält sie drei Tage lang komplett ihren Mund. Sie sitzt ruhig und hört Stille. In der Stille begegnet sie einer Stimme. Rosa hört diese Stimme in sich wie eine Vision, die so „klar, so entschlossen“ gewesen sei wie nichts bis dahin:

„Ich will für Gott und die Menschheit da sein! Ich will eine Ordensschwester werden!“

Ihre Mutter habe nur den Kopf geschüttelt, als Rosa nach drei Tagen Schweigekloster nach Hause kommt mit ihrem frommen Wunsch.

„Ach, Kind, Du machst mich noch wahnsinnig. Hattest du vor dem Kloster nicht eine andere Vision? Wolltest Du nicht Mutter von 12 Kindern werden? Eine große Familie haben? Nun willst Du die Welt retten: für Gott und die Menschheit da sein!?“

Rosas Vision: Gott

Rosa schweigt zuerst und kämpft dann. Wie ein Mantra wiederholt sie, sie wolle in das Kloster gehen, sie wolle Gott und der Menschheit dienen, sie wolle in einen Orden eintreten, bis ihre Eltern schließlich ihren Widerstand aufgeben.

Diese Sätze hören sich in den Ohren von Rosas Eltern wie eine kaputte Schallplatte an, wie eine Schleife, sich unendlich wiederholend wie ein Wahn. Sie sind besorgt, wissen nicht, wie sie ihre einzige Tochter zu Vernunft bringen sollen. Der Vater, ein verschlossener, in sich gekehrter Mann, vom Krieg gezeichnet, versucht sein Kind mit Versprechungen zu lenken: er wolle Rosa, seiner Tochter jetzt schon alles geben, ihr sein ganzes Vermögen hinterlassen, jetzt schon sie glücklich sehen. Rosa schweigt. Sie sei glücklich, wenn ihre Eltern sie gehen ließen, sagt sie. In den Orden. Zu den Salvatorianerinnen.

Die Eltern weinen, segnen sie, und dann lassen sie ihre Rosa ziehen..

Mit 17 tritt Rosa in den Orden der Salvatorianer ein und nimmt einen neuen Name an. Es ist der Name eines italienischen Mädchens, das gerade im Vatikan heilig gesprochen wird. Maria Goretti, die Märtyrerin, die um ihre Unschuld gekämpft hat bis zum Tod, ist ab jetzt ihr Vorbild.

 Stimme der Stille

 Rosa kam ein Jahr bevor der Krieg ausbrach in Plattling bei Passau zur Welt als erstes, als erwünschtes, mit „Liebe und Freude umarmtes“ Kind.

Ihr Vater muß an die Front. Das Kind erinnert sich an ihn kaum. Maria erinnert sich an Wiesen, Wälder, Bäche. Das schöne grüne Bayern, ihre Heimat taucht immer wieder in ihren Träumen auf. Auch die Tränen ihrer Mutter, ihr Zittern als die Schüsse, „die Donner des Krieges“, zu ihnen nach Bayern kamen. Der Vater kam aus dem Krieg wie gebrochen. Das lebendige, aufgeweckte Kind fühlt sich manchmal sehr einsam, eingequetscht zwischen den schweigsamen Eltern, der besorgten Mutter und dem traurigen Vater, träumt Rosa manchmal von einer großen Familie. Sie will 12 Kinder haben.

Doch dann hört sie in der Stille des Schweigeklosters diese Stimme und folgt ihr. Sie verlässt ihre Eltern und  und wandert, wie von ihr verlangt, von einem Kloster des Ordens zum nächsten. Sie entdeckt die Bundesrepublik kreuz und quer. Im Allgäu, auf ihrer ersten Station, beginnt sie, in einem Kindergarten zu helfen. In Schweinfurt arbeitet sie in einem Krankenhaus als Pflegehelferin. In Horrem bei Köln wird sie Postulantin, Nonne auf Probe. Ein Jahr später legt sie in Köln ihr Gelübde ab.

Als Ordensschwester dient sie in den nächsten vier Jahren in Westfalen. In Warburg wird sie das „Mädchen für alles“. Sie hilft, wo sie gerade gebraucht wird: in der Küche, Wäscherei, im Garten, bei der Erziehung der Heimkinder.

Die Arbeit mit den Kindern habe ihr so große Freude gemacht, sagt Maria, dass daraus ihr Beruf wird. In Dortmund hat sie in den 60-er Jahren ihre Erzieherinnenausbildung absolviert und wird nach Kall in der Eifel in ein Internat versetzt. Hier findet sie ihre Berufung. Sie erzieht in den nächsten 30 Jahren 177 Kinder: schwer erziehbare Kinder, Kinder aus schwierigen, zerrütteten Familienverhältnissen, Kinder von alkohol-und drogenabhängigen Eltern, Kinder, die viel Leid und Gewalt erlebt und gesehen haben, Kinder die wenig Liebe gespürt haben, Kinder die keiner will.

Marias 177 Kinder

Marias ganze Freude, Marias ganze Sorge, Marias Leben: Die Kinder. Keine zwölf eigenen, wie sie sich das als junges Mädchen gewünscht habe. Dafür 177 Heimkinder! Jungs im Alter von 12 bis 14: verlassen, misshandelt, empfindsam, traurig, aggressiv, zart.

„Alle Geschöpfe Gottes“, sagt sie.

Sie habe sie herzlich empfangen und geduldig getröstet, unterrichtet, motiviert, ihnen geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Mit jedem einzelnen habe sie gelitten, gehofft und sich gefreut.

Am Anfang, als sie ins Internat kam, sei sie noch jung gewesen. Der Ton im Internat war streng, barsch und autoritär. Die Kinder sollten mit Regeln und Rute gerade gebogen werden und wurden „mit fester Hand“ gezüchtigt. Sie sei grundsätzlich immer dagegen gewesen. Sie sei mit den Kindern milder, freundlicher umgegangen, habe sie angelächelt, ihnen vergeben, mit ihnen geredet, an sie geglaubt.

„Laissez-faire“ kontra autoritär

In den Siebzigern sei es dann zu großen Veränderungen in den deutschen Internaten gekommen. „Über Nacht und per Gesetz“.  Der Erziehungsstil verwandelte sich in ein „Laissez-faire – lass jonn!“. Und habe die Kinder machen lassen, was sie wollen.

„Auch falsch!“ meint Maria, die erfahrene Erzieherin. Die Kinder hätten sich beschwert, niemand interessiere sich für sie, hätten sie gesagt. Überhaupt keine Regel, überhaupt keine Strenge täte den Kinder genauso wenig gut wie „zu viel Strenge, zu viel Rute, zu viele Regeln“. Kinder suchten Halt.

„Und was Kinder vor allem brauchen ist die Liebe!“ sagt Maria. „Wenn sie Liebe spüren, wenn sie sich auf jemanden verlassen können, dann können ihre schlimmsten Verletzungen geheilt werden. Dann verändern sich Kinder, werden fröhlicher, entspannter.“

Maria Gorretti wird bald Leiterin des Internates und arbeitet dort bis zur Pensionierung.

Zweifel und Pflege

Ob Sie Zweifel gehabt habe, die richtige Entscheidung damals getroffen zu haben, frage ich.

„All diese Jahre…?“

„Zweifel? Naja… wer hat keine Zweifel?!“ sagt Maria.

Die Zweifel gehörten zum Glauben. Für ihre Entscheidungsfreude sei sie sehr dankbar. Die Entscheidung sei weniger wichtig als ihre „Pflege“. Egal was man im Leben entscheidet, man müsse es „pflegen“. Wer heirate, Kinder habe, solle das pflegen. Genau wie die Entscheidung für den Orden.

„Alles braucht Pflege. Ohne Pflege geht alles kaputt.“

Maria glaubt, dass nichts verloren gehe, was man pflege. Es bleibe für immer.

„In diesem oder in einem anderen Leben.“

An das ewige Leben glaube sie selbstverständlich!

„Wir Menschen haben den Himmel auf der Erde. Unser Schöpfer hat uns die Fähigkeit gegeben, aus Himmel und Erde alles zu schaffen. Gott hat uns den freien Willen dazu gegeben! Voilà“.

Schmerztabletten

Aus dem Internat Kloster Steinfeld ist heute ein schickes, topmodernes Gästehaus geworden, in dem Geschäftsleute, Hipster und Künstler Ruhe und Inspiration suchen. Maria Goretti Augustin, 78, genießt ihre Gesellschaft.

Sie freue sich, von ihnen „frische, windige Energie“ zu bekommen und ihnen etwas von ihrer „Ruhe, Liebe und Freude“, die sie in all diesen Jahren im Dienste Gottes für die Menschheit gewonnen habe, „im Gegenzug“ zu geben. Und sie freue sich und sei Gott dankbar, dass das Kloster dank eines tüchtigen Geschäftsmannes, „einem aus der Gegend“, und seinem Manager, der als Kind im Kloster zur Schule gegangen sei, jetzt weiterhin existieren könne und sie und ihre drei Mit-Schwestern und die neun Patres da leben und beten lasse.

„Mit Geduld, Freude und Dankbarkeit“, trage Maria alle ihre Kreuze. Sie erzählt von ihrem Brustkrebs, der Operation, der Chemotherapie, den Bestrahlungen, der Prothese, einem Fahrradsturz, einem Hund, der sie gebissen habe, gerade als sie sich von den Strapazen der Krankheit erholt hatte, mit einem Lächeln. Ich traue meinen Ohren nicht und glaube etwas falsch verstanden zu haben.

„Aber das muss doch alles furchtbar wehgetan haben. Wie kommen Sie mit Schmerzen klar? “

„Ach, Schmerzen…! Es gibt so wunderbare Schmerzmittel!“, sagt Maria und lacht so herzlich, als ob sie einen guten Witz erzählt hätte.

Ich bin perplex. Alles habe ich erwartet, aber nicht so eine profane Antwort, so unpathetisch, ehrlich, eine, die dazu auch noch stimmt. Ich habe keine Fragen mehr.

Maria Rosa Goretti Augustin, „die gute Seele“ vom Steinfeld Kloster, wie alle im Kloster die Schwester nennen, habe vor 60 Jahren einen „Deal mit dem Herren“ abgemacht. Sie diene ihm und allen seinen Geschöpfen, „ohne wenn und aber“, leidenschaftlich, ehrlich, geduldig, und ER trägt dafür all ihre Ängste, beruhigt ihre Zweifel, stillt ihre Schmerzen. Mit Schmerztabletten, wenn es sein muss.

„Dank sei dem Herren dafür.“

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Wie Aachen zu mir kam – Versagen, eine Vorgeschichte (4)

Folge 4 

Ob seine Frau für immer nach Peru geflogen sei oder ob sie doch noch zurück nach Deutschland komme, frage ich. Manni beißt sich auf die Lippen, zieht stumm seine Augenbrauen hoch. Das wisse er noch nicht, sagt er dann. Sie melde sich nicht mehr.

„Macht Dir keine Sorge.“ sagt Hannes.

„Sie kommt zurück. Alle Frauen kommen irgendwann zurück.“

Ich will lieber nichts dazu sagen.

„Von der Heimatliebe lebt man doch nicht ewig!“ sagt Hanni und versucht dann mit mir zu kokettieren:

„Tako je, ili?“ sagt er in meiner Sprache, was so viel heißen soll wie „Ist es so, oder nicht?“

Ich runzle die Stirn. Woher er meine Sprache kenne, frage ich.

Als junger Mann habe er auf dem wilden Balkan eine Zeit lang gelebt und dort auch studiert: Bulgarisch, Griechisch und Romanisch!

„Ach!“ staune ich. „So viele unterschiedliche Sprachen?“

„Natürlich ohne Abschluss!“ faltet er seinen Mund. Zählen kann er aber heute noch in allen diesen Sprachen. Den Balkan kenne er besser als seine eigene Tasche, sagt er. Irgendwann habe er die Chaoten satt gehabt.

„Verstehe… aber ich verstehe immer noch nicht, warum drei so unterschiedliche Sprachen?“ Griechisch, Bulgarisch und Rumänisch seien, auch wenn die Länder aneinandergrenzen, gar nicht verwandt… alle drei erfolgreich abzuschließen, würde ich sicherlich auch nicht schaffen können, höre ich mich das Verständnis für Hannes Balkan-Misserfolg zu zeigen. Warum habe er es sich so schwer gemacht hat, will ich wissen.

Aud der Spuren der alten Geschichte

„Ach, warum??“ Das sei der deutschen Geschichte zu verdanken, murmelt er. Er wollte weg aus Deutschland. Einfach weg. Irgendwo leben, wo man ihn nicht sofort in Verbindung mit dem Faschismus, mit der deutschen Schuld und all den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bringe. So sei er Ende der 80er unter anderen auch nach Sofia gereist. Vorher sei er viel im Westen unterwegs gewesen… Und egal wohin er ging, ob nach Holland, Frankreich oder England, habe man ihn überall sofort in Verbindung mit Hitler gebracht und mit seinem Verbrechen konfrontiert oder beschimpft. Er habe „die Nase voll davon“ gehabt; keine Lust gehabt, sich ständig schuldig zu fühlen, sich immer wieder entschuldigen und rechtfertigen zu müssen, dafür, was er selber gar nicht getan habe, wofür er nichts könne. Im Bulgarien habe man ihn kurz vor der Wende mit seinen „Vaterland-Sünden“ in Ruhe gelassen. Als Deutschen habe man ihn dort hinter dem eisernen Vorhang, „im kaputten Sozialismus“, eher mit dem deutschen Wunder, Wohlstand, Mercedes und der beliebten deutschen Mark assoziiert. So entdeckte er Stück für Stück den wilden Balkan: seine Wunderländer Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland, Rumänien. Überall standen ihm die Türen offen.   Hanni hatte Freundlichkeit und das Interesse der „Balkanjeros“ an ihm und seinem Deutschland in vollen Zügen genossen. Die Bulgaren, Rumänen, Jugos, Griechen hätten sein Land bewundert und die deutsche Tugenden: Fleiß, Disziplin, Ordnung, von dem er in die Welt geflüchtet sei, gelobt. Alle wollten nach Deutschland. Hanni habe sich wie ein Prinz gefühlt und entschied sich mit 28 zu studieren… Sprachen. Auch um die „Balkanjeros“, seine neuen Freunde, die ihn einen neuen Blick auf sein Deutschland, geschenkt hatten, besser zu verstehen und zwar im Original, in ihren Sprachen. Dass die drei Sprachen aber so unterschiedlich seien, dazu jede schwerer als die andere, das habe er natürlich nicht sofort gewusst. Nach fünf Semestern habe er dann sein Traum an den Nagel gehängt…

Mein 1.Stammtisch

Hannes lebt heute alleine, ohne Frau und festen Beruf… Als Kölner Boheme scheint er sich äußerlich fröhlich und unbekümmert   durch die Tage zu schunkeln. Seine Aufgabe heute Nacht, seinen alten Kumpel Manni zu trösten, aber nimmt er sehr ernst.

Alte Freunde aufzurichten, die sich „Luxusprobleme wie Frau und Beruf leisten können“, das mache ihm „viel Spaß“, sagt er und grinst.

Also doch: Mujo und Haso, die sich in  Hanni und Manni verkleidet haben.

Manni, der Unglücksrabe, der Pendler zwischen Köln und Aachen, dessen Gedanken um seine geflüchtete peruanischen Ehefrau kreisen und sein zynischer Tröster, der Jugendfreund Hannes, bestellen uns allen noch eine Runde Bier.

„Etwas stärkeres, balkanisches…tschechisches bitte!“

Der Tscheche aus der Flasche macht aus uns Experten für alle wichtigen politischen Fragen der Zeit. Hanni stürzt sich auf Angela, `den Mafiaboss mit mädchenhaftem Lächeln, die alles schaffen will und dabei ihre Feinde meisterhaft verschwinden lässt`. Mein deutscher Mann lobt Martin, der mit ihm nicht nur die Partei retten , sondern auch die Gerechtigkeit in Deutschland wiederherstellen will.

„Vergiss es!“ sagt der kleine, dicke Hannes abwertend.

„ Gerechtigkeit ist mi DER Partei nicht mehr zu holen.“

Hannes ganze Familie habe traditionell seit Jahrzehnten Rot gewählt, jetzt seien sie aus Protest und Wut alle ausgestiegen.

Wohin seien sie übergelaufen, will ich fragen, beiße mir aber auf die Zunge. Wählen ist eine zu private Sache, erinnere ich mich. So wie Sex und Religion…

Die letzte  Folge: Verschwörung – analog – bei der Lesung in Aachen, das Bergfest, am 31. 08. 2017  

Mehr von Slavica Vlahovic

Wie Aachen zu mir kam – Verwechslung, eine Vorgeschichte (1)

Folge 1  

„Mujo & Haso!“, hätte ich fast gerufen als ich den staunenden Blick der beiden hereinspazierenden Männer erwische, die wie zwei alte ausgehungerte Bären die neue Veedels-Kneipe betreten und ihre Augen an mir kleben ließen. Wie auf Kommando hebt sich meine Hand zum Gruß.

Dass auch sie die neue frisch eröffnete Veedel-Szenekneipe in Shabbychic-Look entdecken würden, wundert mich nicht. Die Stimmung aus Nostalgie, Zerstörung und Lust auf Freiheit, die alten goldblumigen Tapeten, gemischt mit den neuen Wallblechimitaten in 3d und groben, abgerissenen, unverputzten Wänden ist genau die Mischung die ich an diesem Abend brauche, um meiner Aufregung vor den Aufgaben, die vor mir stehen und den aufgewühlten Stimmen in meinem Kopf freie Luft zu geben.

Flora 6 Hirsch

Aber dass   „Mujo und Haso“, die komische Gestalten aus meiner Heimat, die mich überall und immer wieder verfolgen, sich trauen an so einem Abend und so einem Ort genau bei mir um die Ecke aufzukreuzen? Das geht mir zu weit!

Seit Jahren tauchen die beiden schrägen Vogel vor mir auf, sobald ich meinen Koffer gepackt habe, sobald sich meine Ohren vor Aufregung, Freude, Traurigkeit oder Glück spitzen.

Jetzt hat es mich wieder gepackt: Ein Stipendium in Aachen wartet auf mich und die schöne Aufgabe, eine ganze Region vier Monate lang in deutschen Wirtschaften zu erforschen, sie unter meine ganz persönliche Lupe zu nehmen, meine Stammtische  mitten im deutschen Wunderland zu gründen. Der Alien in mir war erwacht und bereit auf das Abenteuer.

Veedel-Szenekneipe in Shabbychic-Look: Die Stimmung aus Nostalgie,

Zerstörung und Lust auf Freiheit

Mein deutscher Mann hatte mich kurz zuvor von unterwegs angerufen. Nach seiner ersten Parteisitzung wollte er mit mir in der „Flora 6“, dieser neuen Hip-Kneipe in Köln-Nippes, auf seine und meine neue Ära anstoßen. Ich war sofort dabei. Seine frisch geweckte Leidenschaft für Politik stachelt mich an. Sein feuriger Genosse aus Würselen,   hat auch mich mit seinem „Wind of Change“ angefeuert und ich bin bereit ihn, meinen deutschen Mann wieder zu bewundern und seine Ansichten aus allen Ecken und Nähten in Angriff zu nehmen. Wer, wenn nicht er, mein Held, soll die Sozialdemokratie und damit Deutschland retten? Und mich, den Alien, der sich in Deutschland wieder langsam fremd fühlt. Und fürchtet. Und: wer wenn nicht, ich, seine Ehefrau,   soll ihn dabei unterstützen. In meiner Tasche knistert die frisch ausgedruckte E-Mail,   der Stipendium-Vertrag aus Aachen. Ich will ihm, meinem deutschen Mann, damit imponieren. Mit einem triumphierenden Lächeln, wortlos damit vor der Nase winken. Doch dann treten die beiden Männer mit den ansteckenden Blicken in die Kneipe, glotzen mich an und ich kann nicht anders als die Hand zu heben und sie anzulächeln.

Das hätte ich lieber sein lassen sollen, wünscht sich mein deutscher Mann am nächsten Tag beim Frühstückt. Die beiden komischen Kerle, die ich offensichtlich mit meinen Heimathelden verwechselt hatte, hätte ich uns besser erspart…

…die nächste Folge: Verfolgung

Mehr von Slavica Vlahovic