Neue Legenden für alte Karten: Stoff
26. Juni 2020
26. Juni 2020
29. Juli 2016
Tag 1 – Düren bis Langerwehe
Düren. Die Sonne scheint als ich mit dem Zug von Aachen am Dürener Bahnhof ankomme. Knapp eine halbe Stunde bin ich gefahren. So weit wird es also schon nicht sein…dachte ich! Durch die Innenstadt geht es für mich zunächst in Richtung Annakirche. Und da ist heute einiges los, denn es ist Annentag! Schon seit über 500 Jahren feiert die Dürener Gemeinde jedes Jahr die Annaverehrung. Die heilige Anna gilt als eine Patronin der Ehe und als Trägerin der menschlichen Hoffnung und von eben dieser gelangte 1501 ihr Haupt nach Düren. Der Geschichte nach soll ein Steinmetz aus Kornelimünster die Reliquie bei Arbeiten an einer Mainzer Stiftskirche gestohlen und nach Düren gebracht haben. Die Mainzer wollten das Annahaupt natürlich wieder zurückhaben, aber durch einen päpstlichen Dekret wurde schließlich entschieden, dass die Reliquie in Düren verbleiben soll. Seitdem wird in Düren am 26. Juli der Annentag gefeiert. Kurzerhand hole ich mir meinen ersten Stempel im Pfarrbüro ab, dann geht es weiter. Zwar erst in die falsche Richtung, aber weiter; aus der Stadt hinaus, vorbei an Sanitärfachhandel, Heizungsdiensten, durch Wohngebiete, bis auf‘s Feld.
Derichsweiler. „Ich hätte gern einen Stempel“, bat ich einen Mann an der Kirche in Derichsweiler. „Pokemonstempel? Hab ich nicht!“, entgegnete der Kinderbetreuer und schaute mich skeptisch. Sind Sie nicht ein bisschen alt dafür, junge Frau, stand förmlich auf seinem Gesicht. Kein Wunder, dass dem Guten nur Pokemons im Kopf rumschwirrten, denn die Kinder um ihn hatten nichts anderes im Kopf. „Oh, ein wildes Taubos“, schrie ein Junge als ich auf den Vorhof einbog. Und tatsächlich liefen die meisten völlig euphorisch mit ihren Smartphones zwischen der alten und der neuen St. Martinskirche hin und her, um die virtuellen Tiere zu fangen. Übrigens ist die alte St. Martinskirche in Derichsweiler als erste Kirche im 2. Weltkrieg von einer Brandbombe getroffen worden. Die Ruine ist zwar modern restauriert worden, aber man kann den Zerstörungsgrad noch genau rekonstruieren. Schlussendlich habe ich dann doch den Stempel der Kirche in den Pass bekommen. Weiter geht’s.
Der Jakobsweg
Seit 1987 setzt sich die Deutsche Sankt Jakobus Gesellschaft für Pilgerschaft nach Santiago de Compostela ein. Zu ihren Aufgaben zählen insbesondere die Beratungen für Pilger und die wissenschaftliche Erforschung des Jakobuskultes. Jedes Jahr stellen die ehrenamtlichen Helfer der Gesellschaft rund 10.000 Pilgerausweise aus. In Santiago angekommen, erhalten Pilger eine Pilgerurkunde. Voraussetzung ist, dass mindestens die letzten 100 Kilometer auf dem Jakobsweg – dem Camino – zu Fuß zurückgelegt worden sind. Um das zu beweisen müssen Pilger jeden Tag mindestens zwei Stempel mit Datum und Unterschrift in ihren Pilgerpass eintragen lassen.
Schlich. Es fängt an zu nieseln. Nicht viel, aber von vorne. Ich krame zum ersten Mal meine Regenjacke aus dem Rucksack. Doch der Regen hält nicht lange an. In Jüngersdorf hat sich das Wetter schon wieder gebessert und in Langerwehe scheint schließlich schon wieder die Sonne. Hier biege ich kurzer Hand vom eigentlichen Weg ab, um mir das Töpfereimuseum anzuschauen. Denn hier können Pilger ein ganz besonderes Souvenir erstehen: Die Aachhörner. Auf ihnen machten die Pilger bei der Ausstellung der Heiligtümer im Wallfahrtsort Aachen einen ohrenbetäubenden Lärm, um ihren Jubel zum Ausdruck zu bringen, erzählte mir Töpfermeister Matthias Kurtz. Zusammen mit seinem Sohn hat er alles, was im Museumsladen zu sehen ist, selbstgetöpfert.
Tag 1 geht langsam zu Ende. 17 Kilometer bin ich heute gewandert und brauche jetzt erst einmal eine Pause. Morgen geht es weiter – dann von Langerwehe bis nach Kornelimünster.
Die Jakobsmuschel
Tag 2 – Langerwehe bis Kornelimünster
Die Sonne scheint, der Himmel ist blau – großartiges Wetter, um zu wandern. Der Weg von Langerwehe bis zum Kloster Wenau verläuft an einer Landstraße entlang, aber dafür beginnt hinter dem Kloster direkt eine schöne Strecke durch einen Wald, der bis Schevenhütte reicht. Zwischen Schevenhütte („von der Hütten“) und Langerwehe trieb der Wehebach im 16. Jahrhundert mehr als ein Duzend Hammermühlen an, die das Messing der Stolberger Hütten verarbeiteten. An der Kirche in Schevenhütte darf ich trotz Bauarbeiten eine kleine Pause am Pilgerkasten einlegen.
Von dort aus geht es schließlich weiter über Mausbach bis nach Vicht. Durstig und auf der Suche nach dem Pilgerstempel lief ich kurzerhand in das Gemeindehaus und stolperte so zufällig direkt in ein Treffen der Interessengemeinschaft Schönes Vicht (IGSV) und der Städteregion Aachen hinein. Die Gemeinschaft hatte Andrea Drossard und Ruth Roelen aus dem Amt für Regionalentwicklung der Städteregion eingeladen, um sich über die Zukunft von Vicht zu beraten. Günther Scheepers, der 1. Vorsitzende der Gemeinschaft, hofft, dass im Dialog mit der Städteregion Ideen entstehen können, wie junge Leute dazu motiviert werden können, sich im für ein schönes Vicht zu engagieren. „Wir brauchen diese Hilfe jetzt“, sagt er und meint damit nicht nur Ideen, sondern auch finanzielle Unterstützung durch die Städteregion. Dass Schautafeln nicht der einzige und ideale Weg sind, darüber sind sich beide Seiten bewusst: „Wir müssen einfach mehr mit den umliegenden Dörfern wie Mausbach und Breinig ins Gespräch kommen“, findet Hildegrad Lüttecke, 2. Vorsitzende der IGSV. Drossard und Roelen führen die Idee weiter und schlagen einen gemeinsamen Veranstaltungskalender aller umliegenden Vereine vor. Und auch zum Thema Jugendnachwuchs haben die beiden eine Idee. „Wie wäre es denn, wenn die IGSV die Jugenddisco als Plattform nutzen würde?“, fragt Drossard. Dort könne man spielerisch herausfinden, was sich die Jugendlichen in ihrem Vicht wünschen. Und vielleicht finden sich sogar ein paar technikaffine Jugendliche, die die IGSV beim Auftritt im Social Web unterstützen möchten.
Jakobus
Jakobus der Ältere war ein Fischer, lebte am See Genezareth und wurde der Bibel nach zu einem der ersten Jünger von Jesus. Jakobus soll zur Missionierung nach Spanien entsandt worden sein, kehrte aber ohne Erfolge nach Jerusalem zurück. Hier soll er im Jahr 44 als erster Apostel den Märtyrertod durch das Schwert erlitten haben. Der Legende nach soll sein Leichnam auf ein Schiff gebracht worden sein, dass ihn an die spanische Westküste brachte. Von dort sei der Leichnam in den Himmel aufgestiegen und nach Santiago gebracht worden, wo ihn heutzutage noch zahlreiche Pilger verehren.
Von Vicht geht es steil bergauf ins Naturschutzgebiet. Merklich ändert sich die Landschaft. Der Pinienwald geht über in eine hügelige Wiesenlandschaft. Was man beim ersten Hinsehen nicht vermutet: Dies ist eine besondere Ökonische. Denn durch die zinkhaltigen Galmeiböden können hier nur wenige Pflanzen gedeihen. Allein schwermetalltolerante Gewächste können die toxischen Böden besiedeln. Einige wenige wachsen sogar nur hier; wie das gelbe Galmeiveilchen oder die Galmeigrasnelke.
Aus dem Naturschutzgebiet führt der Weg mich in Richtung Breinig. Dort ist der Pilgerstempel in einem kleinen Holzkästchen im Sockel eines Jesuskreuzes versteckt. Während ich den Stempel in meinen Pass drücke, komme ich mit Uschi und Susanne ins Gespräch. Die beiden drehen jeden Tag ihre Runde um Alt Breinig herum und fahren zusammen auch gerne in den Wanderurlaub. Breinig selbst kennen sie selbstverständlich wie ihre linke Jackentasche und zeigen mir auf unserer gemeinsamen Wegstrecke ein Haus, das als Filmkulisse für die Edelsteintrilogie genutzt wurde.
Kurz vorm Ziel, also oberhalb von Kornelimünster komme ich an quaderförmigen Ausgrabungen vorbei: der gallorömische Tempelbezirk Varnenum. Die Anlage wurde nach der Eroberung durch Caesar hier erbaut. Heute sind zwar nur noch die Grundmauern zu erkennen, aber es ist wahrscheinlich, dass hier auch Götter verehrt wurden. Hungrig schleppe ich mich den letzten Abstieg nach Kornelimünster hinab. 25 Kilometer bin ich gelaufen – mein Tagesrekord. Morgen steht die letzte Etappe bis nach Aachen an.
Tag 3 – Kornelimünster bis Aachen
Es ist nass, es ist warm – gruselige Kombi, aber ich muss da raus. Die letzte Etappe steht an. Zu Beginn darf ich dann aber noch einmal ins Trockene, da ich mich mit dem Abt Friedhelm im Benediktinerkloster Kornelimünster treffe. Breite Gänge, schwere Eichentüren und Stille begrüßen mich hier. Durch die ockerfarbenen Vorhänge schaue ich nach draußen ins Regenwetter; warte auf den Abt. Friedhelm ist seit über 40 Jahren Mönch. In Kornelimünster lebt er mit acht Mönchen zusammen. Das Kloster in Kornelimünster findet er so schön, „weil es nicht von dicken Klostermauern umgeben ist, sondern viele Menschen hier ein und aus gehen“. Mal zum öffentlichen Gottesdienst, mal zum Sprachkurs, der zweimal wöchentlich im Kloster für Geflüchtete stattfindet, mal um eine Nacht als Pilger, in einem der 20 Gästezimmer zu nächtigen.
Und das geht ausgesprochen schnell. Vorbei an den heißen Quellen am Burtscheider Markt. Dann der letzte große Anstieg und schließlich über die Brücke, durchs Marschiertor bis zum Dom. Hier bekomme ich den letzten Stempel der Reise. Ich bin angekommen. Ein schönes Gefühl. Doch das Schönste sind die Erinnerungen. Ich habe zahlreiche hilfsbereite und interessierte Menschen kennengelernt, bin durch Wiesen und Wälder, durch Städte und über Felder gewandert: 60 Kilometer, drei Tage, meine Reise durch die Region.