Manchmal in Jülich

Manchmal ist die Zeit reif

Sich mit seinem Schatten zu treffen

Auf der Straße

Im Spiegel eines leeren Ladens

Beim Ausführen seines Hundes

In seiner Stadt

In Jülich

 

Manchmal springt ein Hund ins Bild

Ein Schnappschuss der Touristin

„Entschuldigen Sie“,

sagt das Herrchen

Als Ouvertüre seines Lebens-Laufs

Die Überlebensbiografie voller Brüche

Transportiertes Wesen

 

Der Kampfhund, ein Kuscheltier

 

Seine Stadt und sein Hund,

Er blinzelt – stolz wie Oskar – auf Jülich und Alfa,

Er streichelt das kräftige Tier,

Das ihn, dürre Stange, über die sonnige Jülicher Straße zieht

Unter dem blauen Käppi glühen seine schwarzen Augen,

Lachen die weißen Zähne

Sein Rottweiler, Muskelpacket, bringe ihn manchmal

Zu seinen Lieblingsplätzen:

Der Zitadelle und dem Campus der Fachhochschule,

In Jülich

 

Der Kampfhund schnüffelt an der Touristin

Sie zuckt, zieht sich zurück,

Keine Angst, sein Hund sei sanft,

wolle spielen

Das Kuscheltier sei gut erzogen, sagt der Herr

Er habe mit Alfa alle Hundeschulen besucht

Teuere Schulen

wie die Kampfhundejahressteuer

Sein Vater verdrehe heute noch die Augen

Seine Freunde auch

Warum Hund in die Schule, und er, das Herrchen, ohne Abschluss

Er habe seine Schule abgebrochen

Früher sei er

„ – sagen wir mal so – “

zu temperamentvoll gewesen,

Früher vor Alfa, habe er seine Fäuste sprechen lassen

Als hoffnungsvoller Boxer und Fußballer

In Jülich

 

Nun bringe Alfa seine kaputte, nie zusammengewachsene Hüfte,

auf die Straße

Der Kampfhund mit Hochschulabschluss spare ihm eine Menge Pillen

Sein Kuscheltier stille seinen Dauerschmerz, bringe ihn auf Trab

Sein Teuer-Freund heile seine gestohlenen Illusionen

Versöhne ihn mit seinen verlorenen Träumen

 

Ihn kenne jeder in Jülich,

Und jeder, der vorbei geht,

grüßt ihn

Er, der Herr, grüßt zurück

Lächelt

 

Süß. Bittersüß

 

Mit elf sei er nach Jülich gekommen

Als Sohn eines Albaners und einer Belgraderin,

Nach dem Krieg im Kosovo

Sein Zuhause sei nun Jacqueline, seine Frau, Alfa und sein Job

In Jülich

Er schaffe bei Pfeifer & Langen

Er verwandle Rüben in Zucker

Sechshundert Tonnen am Stück

Im Takt der Maschinen

Auf Knopfdruck und mit ein bisschen Kopf

Als Schichtarbeiter in der Zuckerfabrik

Wie der deutsche Schwiegervater mit dreißig Jahre Akkordarbeit

Sein Vorbild

Und: seine kaputte Hüfte mit Dauerschmerz mache mit

Mit Alfa, seiner Frau und der Liebe

 

Manchmal am Rand der Geschichte

 

Manchmal ist die Zeit reif

Sich mit seinem Schatten zu treffen

Auf der Straße

Im Spiegel eines leeren Ladens

Am Rand der Geschichte

In einer Stadt

In Jülich

 

Manchmal springt der Gedanke mutig ins Bild

Er, das Modell. Sein Hund. Die Fotografin.

„Entschuldigung“, meint sie vor einem leeren Laden

Er, achtundzwanzig Jahre erst, schlau, jung, gutes Deutsch

Er könne sein Schulabschluss nachholen, studieren… noch kostenlos

Seine Bildung wäre günstiger als die Hundeschule seines Kampfhundes

In Jülich

Ja, er wisse es, lächelt er, alle sagen das…

Es sei aber… zu spät

Keine Zeit… leider

Er müsse schaffen

Akkord am Fließband

Als Schichtarbeiter in der Zuckerfabrik

Er bauche Geld… viel Geld

Fürs Leben, seinen Alfa, für seinen Passat, den Polo seiner Frau…

Seine Schätze

 

Früher sei er – „sagen wir mal so“ – zu temperamentvoll gewesen…

Heute habe er ein süßes, bittersüßes Leben

In Jülich

 

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