Lebendiges Wasser

Ort: Gemen | Datum: Mi, 23.08.2017 | Wetter: sonnig, 24°C

Putten und Paradiesvögel. Rahmen mit üppigen Rundungen. Vergoldete Schnörkel. Spiegel in allen Größen und Formen. Lüster, Blumenvasen, Ziersäulen. Akkurat gefaltete Handtücher auf weiß-goldenen Haltern. Altmodisch wirkende Trockenhauben über den Waschbecken. Die Mitte des Raumes beherrscht eine massive antike Kasse. Zwischen weißer und goldener Pracht Rollhocker, Wasserhähne und Haarpflegeprodukte.

 Mit Blick auf die schmale Straße schnippen die Scheren und rieseln die Haarspitzen.

Durch eine Tür nach hinten, wenige Stufen hinauf. Das emsige Geräusch verklingt. Auch hier Spiegel, Waschbecken und Handtücher. Barocke Rundungen. Dazwischen aber – eine Nische. Ein weißes Regal. Keine Schnörkel. In der Mitte steht ein neunarmiger Leuchter. Das Gebäude an der Neustraße 5 war seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der Hand der jüdischen Kaufmannsfamilie Löwenstein. Dieser Raum ein Ort der Versammlung und des Gebets für die jüdische Gemeinde Gemens und der Umgebung. In dieser Nische stand der Thoraschrein, erklärt Berno Rohring.

Berno Rohring hat in den späten 1960er Jahren zunächst nur den Raum im Erdgeschoss gepachtet. Der Frisörmeister richtete hier seinen barocken Salon ein. Vor 15 Jahren kaufte er dann das denkmalgeschützte Haus, das nach dem Stadtbrand von Gemen ca. 1870 wieder aufgebaut worden war. Nach und nach renovierte er die anderen Räume. Dabei entdeckte er etwas, das den Stadtbrand überdauert hatte. Im Keller, zugeschüttet und vergessen.

x_Orte sind auf den ersten Blick oft nicht zu erkennen, werden aber mit wenigen Hinweisen im Dialog von Wissenschaft und Alltag sicht- und erklärbar.

An der Wand ein feinsäuberlich ausgeschnittenes rechteckiges Loch im Holzfußboden. Etwas mehr als schulterbreit. Die Holzstiege hinunter ist steil. Wir machen uns rückwärts an den Abstieg. Mehrere hundert Jahre in anderthalb Metern. Das weiß getünchte Kellergewölbe ist niedrig. Wir müssen die Köpfe einziehen, gebückt stehen. Der Boden besteht aus dunklen quadratischen Steinen. Kühl ist es hier. Die Wände feucht. Noch vor einem Jahr, am 25. Juni 2016, hätten wir hier kniehoch im Wasser gestanden. Zur Linken ein schmaler Durchgang.

Im zweiten Raum flackerndes Kerzenlicht. Hier wurde vor 15 Jahren die Mikwe entdeckt. Das rituelle Tauchbad ist nicht viel größer als das Loch im Boden, durch das wir eben gestiegen sind. Ich lasse mich auf der niedrigen Empore am Durchgang nieder. Ob hier Tücher und Kleidung gelegen oder helfende Hände gewartet haben? Der rechteckige gemauerte Schacht liegt direkt vor meinen Füßen. Sein Grund nicht auszumachen. Ein Mensch konnte hier damals vollständig untertauchen. Noch heute steht das Grundwasser hoch. Gleich um die Ecke des Hauses wird die Bocholter Aa gestaut.

Das Wasser ist essenziell für die rituelle Reinigung.

Eine Mikwe muss von „lebendigem Wasser“ gespeist werden, erklärt mir Wilhelm Bauhus. Gesammeltes Regenwasser, Quellwasser, oder Grundwasser. Zur spirituellen Reinigung. Kein Wasser von außen. Auch kein warmes. Auch nicht im Winter. Wir sprechen hier leiser als oben im Salon. Das einzige kleine Fenster ist verschlossen, geht gen Westen. Zum Kleinen Hook hinaus. Zum Abendstern? Auf einer zweiten Empore hinter der Mikwe flackern Kerzen. Die Wasseroberfläche liegt still im Dunkeln. Ohne Spiegelungen.


Frisörmeister Berno Rohring hat uns heute mit seiner Tochter Pia, Inhaberin des barocken Salons Rohring, die Türen in die Geschichte seines Hauses in Gemen geöffnet. Mir und dem Team der Expedition Münsterland um Dr. Wilhelm Bauhus, dem Leiter der Arbeitsstelle Forschungstransfer der WWU Münster. Die Expedition Münsterland bringt seit 2010 Universität und Region ins Gespräch.

Im Rahmen des Teil-Projektes x_Orte werden Wissenschaft und Alltag an weitgehend vergessenen Orten des Münsterlandes zusammengebracht. Wissenschaftlich, künstlerisch und kulturell aufbereitet, werden ihre Geschichten der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung gerufen und zugänglich gemacht. Dabei arbeiten Wissenschaftler, Studierende, lokale Institutionen und interessierte Bürger im Sinne der Citizen Science zusammen.

Anhand von Ortserlebnissen werden aktuell Spuren jüdischen Lebens im Münsterland aufgearbeitet. Neben der Mikwe in Gemen werden im Rahmen des Projekts der jüdische Friedhof in Münster, der jüdische Friedhof in Darfeld, der Kibbuz in Westerbeck und die ehemalige Synagoge in Ascheberg einbezogen. In einer Ausstellung im Haus der Wissenschaft in Darfeld sind ab April 2018 diese x-Orte und ihre Geschichten zu sehen.

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Tanz den Flamingo

Ort: Zwillbrock | Datum: So, 16.07.2017 | Wetter: bewölkt, 18°C

Rosafarbene Zuckerwatte am Stiel, wie auf der Kirmes. Nur mitten in den See gesteckt, unweit des Schilfgürtels in der Ferne. Kunst? Skulptur Projekte, eine Stunde Fahrt von Münster entfernt? Über allem das Geschrei der Lachmöwen, wenn auch heute verhältnismäßig ruhig, so Bettina. Als wüssten sie, dass Sonntag ist. Da vorn eine Gans, da drei Kormorane, unbeweglich, mitten im Grau. Der Nieselregen setzt wieder ein und ein leichter Wind kommt auf. Da, plötzlich, es muss ein Geräusch gewesen sein. Unruhe auf dem See. Die Zuckerwatte fliegt auf.

Flamingos. Im Münsterland. Nicht im Zoo, nicht im Kino. In freier Wildbahn. Ja, genau. An der Palme links und dann Sandstrand voraus? Nicht ganz. Im Naturschutzgebiet Zwillbrocker Venn, mitten im Lachmöwensee, liegt die Flamingoinsel. Von Strandbar, Cocktails und Sonnenschirmen sind wir hier allerdings weit entfernt. Seit 1982 kommt jedes Jahr eine Flamingokolonie hierher. Um zu balzen, zu brüten und die Küken großzuziehen. Bis es, wenn die Jungen flügge sind, zum Überwintern in die Niederlande ans Rheindelta geht.

Do the Flamingo Dance: head-flagging, marching und wing-salute

Ich bin heute Morgen an der Biologischen Station Zwillbrock verabredet. Mit sieben Kindern und Elternanhang geht es ins Zwillbrocker Venn. Geführt von Bettina. Und Frieda und Fred. Frieda ist ein Chileflamingo. Fred ein europäischer Flamingo. An den beiden kuscheligen Miniaturausgaben können wir die Unterschiede der beiden Arten erkennen. An der Farbe der Beine, des Schnabels und der Augen. Sie begleiten uns auf unsere Expedition. Und finden zeitweise Unterschlupf in Bettinas Tasche, als wir selber erproben, wie die Flamingos zur Balz tanzen. Oder herausfinden, dass sie sehr viel müheloser auf einem Bein stehen können als wir. Beneidenswert.

Wir stoßen entlang des Lachmöwensees auf einen Wasserskorpion, daumennagelgroße Frösche – die Saison hat gerade begonnen – und Moorschnucken. Die Flamingos hingegen habe sich in Richtung Insel verzogen, hinter den Zaun. Der wurde zum Schutz vor Meister Reineke im seichten Wasser aufgestellt. Um die brütenden Flamingos nicht zu stören. Heute dürfen wir, in Begleitung von Bettina, die öffentlichen Wege verlassen und schlüpfen durch ein Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Zauns. Der Trampelpfad ist schmal. Als es über einen Steg geht, wird deutlich, dass wir tatsächlich mitten im Moor unterwegs sind.

Seeblick-WG mit Familienanschluss

Neben einer kleinen Holzhütte klettern wir auf einen Hügel. Tatsächlich: Flamingos im Münsterland. Mitten im See. Die sechs Flamingoküken tarnen sich in der Gruppe der Lachmöwen auf der Insel. Ebenso grau-weiß. Überhaupt eine gute Partnerschaft, erklärt Bettina. Denn es müsse eher Flamingoeltern statt Rabeneltern heißen. Naht ein Feind, lassen sie alles stehen und liegen. Auch ihre Küken. Da sind die Lachmöwen sehr viel verteidigungslustiger. Und sie sorgen dafür, dass der ansonsten nährstoffarme See mitten in der Moorlandschaft genügend Futter für die Flamingos und alles, was da sonst so kreucht und fleucht, bereithält.

Woher die nördlichste freilebende Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn kommt, weiß niemand genau. Vielleicht aus einem Zoo oder aus privater Haltung entwischt? Eine Vermisstmeldung gab es jedoch diesbezüglich nie, so Bettina. Chileflamingos und europäische Rosaflamingos kommen seit Jahren gemeinsam zum Balzen und Brüten her. Bis im letzten Jahr war sogar ein Kuba-Flamingo dabei. In Zukunft gibt es dann vielleicht den Zwillbrocker Venn Flamingo. Darauf dann einen Cocktail!


Von März bis August kann man mit etwas Glück einen Blick auf die Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn erhaschen. Entweder auf dem sechs Kilometer langen Rundweg aus der Ferne, oder, mit einer der geführten Wanderungen des Bildungswerks der Biologischen Station Zwillbrock, von einem näher gelegenen Beobachtungsposten. Zum Beispiel in Begleitung von Bettina und Flamingo Frieda. Bettina Hüning ist Diplom-Landschaftsökologin und führt für das Bildungswerk der Biologischen Station Zwillbrock Klein und Groß durch das Zwillbrocker Venn.

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Cross the borders

Ort: Vreden | Datum: Sa, 15.07.2017 | Wetter: sonnig, 21°C

SPRACHGRENZE. GRENZE DES GUTEN GESCHMACKS. REVIERGRENZE. Ich überquere sie mit wenigen Schritten auf dem Weg in den ersten Stock. Handel und Schmuggel. Mit Kiepe, Hundekarren, Händlerwagen und Berkelzomp verkehrten die Menschen zwischen den Niederlanden und Deutschland. Vreden liegt im Westmünsterland, in unmittelbarer Nähe zur Region Achterhoek, Niederlande. Reger Austausch von Waren im Grenzgebiet. Neben Fliesen, Tabak und Pfeifen stehen heutige Exportschlager der Region. Hier schließt sich der Kreis: mein Navi stammt ebenfalls aus dem deutsch-niederländischen Grenzgebiet.

AUSGRENZUNG. EINGRENZUNG. GRENZVERKEHR. GRENZEN heißt die neue Dauerausstellung des KULT in Vreden. Die Grenze wird hier als ein Ort präsentiert, ein Raum der Bewegung und Begegnung. Ein Anlass, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beiden Seiten der Staatsgrenze zu sinnieren. Und zu erkunden, ob auch im Alltag der Menschen – damals wie heute – ebenda eine Grenze verläuft. Alltagsgegenstände wie Holzschuhe und Hauben lassen allerdings auf ganz andere Kriterien der Grenzziehung schließen. Wirtschaftliche, soziale und religiöse.

Korn und Frikandel. Frau Antje und der Kiepenkerl.

Es geht auch an die eigenen Grenzen. Automatische Zuordnungen hinterfragen. Stereotype entlarven. Deutsche? Münsterländer? Niederländer? Nach dem Rundgang sitze ich im zukünftigen Sonderausstellungsbereich. Heute gibt’s hier Kaffee und Kuchen. Neben mir am Tisch unterhalten sich zwei Paare lebhaft. Auf – ja, auf was eigentlich? Einzelne Wörter erkenne ich als Deutsch, andere als Niederländisch. Und dazwischen? Platt! Sie stammen, so entnehme ich dem Gespräch, aus der Region. Aber ob von deutscher oder niederländischer Seite kann ich auch nach einem Stück Donauwelle nicht sagen.

Zwischen Zwillbrock und Eibergen

Jetzt will ich sie aber auch sehen, die Staatsgrenze. Spätnachmittags erreichen der Bulli und ich einen kleinen Flachdachbau. Keine Vorhänge, keine Rollladen, keine Hausnummer. Drinnen: eine leere Kakaoglasflasche im Fenster und ein Sicherungskasten, dessen Tür offensteht und in den weißen Raum hineinragt. Draußen, unweit des Baus: ein von hohem Gras und Sträuchern umrankter Grenzstein mit zwei Wappen. Auf der einen Seite drei Balken, auf der gegenüberliegenden zwei Löwen.

Auf der anderen Straßenseite das blaue Schild mit gelbem Sternenkreis und der weißen Aufschrift „Nederland“. Daneben ein Schild „Berkelland“. Daneben: eine freistehende Skulptur. Der Rasen hier ist kurzgeschoren. Durch eine Edelstahllinse folgt der Blick einem schmalen Graben. Links davon Weidezaun und Gehöft, rechts davon Weidezaun und Gehöft. Open Schakel / Offenes Kettenglied von Piet Slegers wurde als gemeinsames Projekt der Städte Vreden und Eibergen 1995 zur Öffnung der Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland aufgestellt.


GRENZEN heißt die neu eröffnete Dauerausstellung des KULT in Vreden. Anhand der Region Westmünsterland wird aufgezeigt, welche Bedeutungen einer Grenze im Alltag zukommen können. Und wie der oder die Einzelne damit umgeht. Stichwort Schmuggel. Originale sind zu diesem Thema übrigens leider noch nicht zu sehen. Trotz mehrfacher Aufrufe in der Lokalzeitung. Ein in Aussicht gestellter Schmuggel-BH wurde in letzter Minute doch noch zurückgezogen. Hier also nochmals der Aufruf: Wer doch noch ein Schmuggler-Unikat in den Dienst der Wissenschaft geben möchte, melde sich beim KULT in Vreden. No questions asked…

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