Sechs: Schattenwurf

Als ich aus dem Haus trete, schaltet Frederik die Scheinwerfer ein. Ich gehe hinüber, öffne die Beifahrertür, sage hallo, aber wir verzichten auf den Handschlag, inzwischen ist das besser. Und?, frage ich. Was ist der Plan? Och, macht er, einen Plan gibt’s eigentlich nicht, ich dachte wir fahren durch die Gegend. Okay, sage ich. Klingt gut.

Ein Stück Landstraße, dann biegen wir in die Feldwege, vor uns ein Windpark. Was meinst du, wie hoch die Dinger sind?, fragt Frederik, zeigt auf eine der Anlagen, er bremst, lässt den Wagen ausrollen, über uns die Rotorblätter. Keine Ahnung, sage ich, lege dabei den Kopf schräg, um bis zur Nabe sehen zu können. Also, der Kölner Dom hat 157 Meter, sagt er. Hm, mache ich. Vielleicht achtzig oder neunzig? Frederik schüttelt den Kopf. Die Nabe liegt bei hundertfünfzig, mit dem Rotorblatt bist du bei über zweihundert. Etwas Kies spritzt auf, als der Wagen beschleunigt, ich stelle mir vor, ein Windrad auf dem Roncalliplatz, wenn man vom Hauptbahnhof käme, sähe man die Rotorblätter hinter dem Dom aufsteigen, absinken, aufsteigen und absinken, gleichgültig, träge.

Hört man die Dinger eigentlich? Frederik nickt, ja, schon, sagt er. Aber mich stört es nicht. Andere schon. Wie hört sich das an?, will ich wissen. Naja, es ist so ein Flappflapp-Geräusch. Aha, mache ich. Flappflapp. Die Straße steigt an, ein LKW kommt uns entgegen. Der Schattenwurf, sagt Frederik, der ist schwieriger. Ich gucke fragend. Also, setzt er an, stell dir vor, das Windrad steht leicht erhöht und die Sonne tief, dann kann es sein, dass es in dein Wohnzimmer blinkt. Licht. Schatten. Licht. Schatten. Oh, mache ich. Mhm, macht er. Aber das ist alles reglementiert, die Betreiber müssen eine Schattenwurfprognose erstellen, und bei dreißig Minuten pro Tag ist Schluss, dann muss das Ding abgestellt werden. Ich schaue in den Rückspiegel, der Windpark verschwindet hinter Bäumen.

Breite Schneisen im Wald. Es wird schon viel geschlagen, nicht? Ja, sagt Frederik, das ist alles tot, die letzten Sommer waren zu heiß, die Fichten geschwächt, und dann kam der Borkenkäfer. Guck mal dort, er zeigt auf eine Hügelkuppe vor uns, bräunlich bewaldet. Die ist bald kahl. Und dort drüben ist auch nichts mehr zu retten. Ich sehe Baumstümpfe, geborstene Stämme, die im Dickicht liegen, drum herum Gestrüpp. Klimawandel, sagt Frederik, dazu die Sturmschäden.

Im Schloss Corvey halten wir im ersten Hof, in den zweiten will Frederik nicht fahren, dort wohnt der Herzog. Der Herzog?, frage ich. Ja, sagt Frederik. Und da, er zeigt auf eine doppeltürmige Kirche, besäulte Aussparungen im Verbindungsgang, da liegt Hoffmann von Fallersleben begraben.

Immer wieder Herrenhäuser, manchmal mitten im Wald, manchmal am Rand eines Dorfes, gepflegt, meist brennt Licht in einem der Fenster.

Hier, sagt Frederik, und hier, er zeigt auf leerstehende Ladenflächen, während wir durch Nieheim rollen. Und hier auch. Die Schaufenster verhangen mit Plastikfolie. Einmal ein Geschäft mit schmutzigen Scheiben, in dem aufgerissene Kartons stehen, dazwischen Kleiderständer und gefaltete Pullover, über der Ladenzeile steht noch: Schulbedarf Meyer. Wir biegen in Straßenzüge, die frisch gepflastert sind, Fachwerk oder rot gemauerte Häuser, es ist hübsch. Dort, sagt Frederik, und dort auch, ich verstehe nicht ganz, erst auf den zweiten Blick erkenne ich heruntergelassene Jalousien, Lampenkabel, die einsam aus der Decke lugen, manchmal auch Putz, der von den Wänden blättert, ein wenig nur.

Es dämmert, wir schweigen. Irgendwann frage ich: Aber Bellersen geht es besser, nicht? Ja, sagt Frederik. Schon. Gibt es denn Leerstand dort? Kaum, sagt Frederik, kaum bisher. Dann frage ich, ob ihnen die Zeit nicht in die Karten spielt, die Mietpreise in den Städten, der Verkehr in den Straßen, der Feinstaub, die Digitalisierung. Klar, sagt Frederik. Klar. Aber bis es soweit ist, müssen wir hier weitermachen. Ja, richtig, sage ich. Stimmt.

Der Wagen schmiegt sich in die Kurven, wird vom Wald verschluckt, als er uns wieder ausspuckt, ist es dunkel. Überall blinkt es, rhythmisch und rot, es könnte eine Raffinerie sein, aber es ist nur ein Windpark. Spielst du Fußball?, fragt Frederik irgendwann. Nein, sage ich, eigentlich nicht. Du? Frederick nickt. Aber nur noch Alte Herren. Wir biegen ins Dorf. Bei der Stadtmeisterschaft vor einigen Jahren, erzählt er, gab es noch eine Mannschaft aus Brakel und acht Mannschaften aus den umliegenden Dörfern. Der TuS Bellersen hatte so viele Aktive, er hätte zwei Mannschaften ganz allein stellen können. Heute gibt es noch fünf. Fünf?, frage ich. Ja. Fünf. Sie haben sich mit Nethetal und Bökendorf zusammentun müssen. Oh, mache ich.

Ich steige aus, Frederik startet den Motor, rollt auf die Straße. Als ich ins Haus trete, ist es still. Die Nachtspeicheröfen knacken, das Wlan-Gerät blinkt. Ich öffne ein Fenster, draußen wieder die Kühe von der Weide. Klagend fast. Ich klappe den Rechner auf, entsperre den Bildschirm, ein leeres Dokument schaut mich an, fragend blinkt der Cursor, fragend und ratlos, irgendwie.

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Vier: Der Archivar

Frederik reicht mir ein schweres Buch über den Tisch, der Umschlag waldgrün. Kleine Chronik des Dorfes Bellersen. Der Autor ist ein Horst-D. Krus. Schenk ich dir, sagt Frederik. Oh, wow, sage ich. Das Kind steht im Flur, lugt schüchtern in die Küche, versteckt sich dabei halb hinter der Mutter, ich sage hallo. Das Kind heißt Antonia, die Mutter Andrea, beide sind kränklich und heute zu Hause geblieben, erzählen sie. Antonia quengelt etwas, aber als ich mit Frederik aus der Haustür trete, läuft sie uns neugierig hinterher, ich winke, sie winkt, dann wird es ihr unheimlich, sie rennt zurück in die Küche. Was denn?, höre ich Andrea von dort. Was ist denn?

Draußen erzählt Frederik von Horst Krus, dem ehemaligen Kreisarchivar, kürzlich verstorben, ein herber Verlust für das Dorf und die ganze Region. Er führt mich durch das Werkhaus, dem Vereinssitz, zeigt mir eine Ausstellung, die Krus noch selbst kuratiert hat. Es geht um einen Mordfall, um Hermann Georg Winkelhan, der den jüdischen Händler Soistmann Berend hinterlistig ermorderte und dann floh. Um die von Haxthausens, das örtliche Adelsgeschlecht, das damals über Bellersen herrschte, und um die Tochter einer geborenen von Haxthausen, Annette von Droste-Hülshoff, die aus Winkelhan den Protagonisten ihrer Novelle „Die Judenbuche“ machte, Friedrich Mergel, das Opfer hieß dort schlicht: Aaron. Würde man heute alles anders machen, sagt Frederik, deutet auf die Exponate, aber trotzdem, damals haben wir einen Preis bekommen. Aha?, mache ich und fotografiere die Schautafeln, damit ich sie später in Ruhe lesen kann. Krus sei ein Getriebener gewesen, habe einen unendlichen Forscherdrang gehabt. Zuletzt habe er sich Arabisch beibringen wollen. Ich blicke auf. Aha?, mache ich wieder. Die deutschen Archive seien so schlecht, habe er immer gesagt. Er habe in Algier recherchieren wollen, wo Winkelhan in Gefangenschaft und Sklaverei geraten sei, bevor Napoleon ihn freikaufen ließ. Aha, mache ich. Und dann, zack bumm, sei er tot umgefallen, einfach so. Das habe keiner erwartet. Frederik schüttelt den Kopf. Schlimm sei das für das Dorf. Für den Verein. Schweigend gehen wir durch die Ausstellung, ich trete so weit von den Sperrholzwänden, wie möglich, um alles ins Objektiv zu bekommen. Er könne mir sein Haus zeigen, sagt Frederik irgendwann. Wessen Haus?, frage ich.

Warte hier, murmelt er, geht über die Straße, ich bleibe stehen, sehe an der Fassade hinauf, roter Klinker, Efeu und wilder Wein, nebenan ein schief stehender Verschlag mit Feuerholz, das feucht aussieht, der Garten ein Urwald, Gestrüpp und Sträucher mit verholzenden Stämmen. Der Aufgang zur Tür ist überdacht, eine Sitzbank mit Aschenbecher, der angefüllt ist mit verblichenen Zigarettenfiltern. Dann steht Frederik hinter mir, ein klingender Schlüsselbund in seiner Hand.

Innen riecht es, modrig und schwer. Moment, sagt Frederik, geht hinein, ein blechernes Geräusch, dann das Klicken eines Schalters, endlich Licht. Staub liegt auf dem Boden, vor einer alt gewordenen Tapete hängen Bilderrahmen, ein Glückwunschschreiben adressiert an den Kreisarchivar a.D., eine Urkunde, daneben das Bellerser Wappen als Schnitzarbeit aus dunklem Holz. Links geht ein Raum ab, Bücher bis unter die Decke, in den Regalen, vor den Regalen, in der Mitte des Raumes stehen Regale gestapelt. Er hat alles gesammelt, sagt Frederik, alles, was mit der Region zu tun hat, oder mit Irland, Irland war ein Hobby. Mhm, murmle ich, während ich die Buchrücken abgehe, sein Ablagesystem zu verstehen versuche. Die Säugetiere Westfalens. Die Amphibien und Reptilien Westfalens. Die Avifauna von Westfalen. Darunter: Die Geschichte des Corveyer Waldes. Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen Nordrhein-Westfalens. Historische Landkarten Europa. Dann eine Illustrierte Geschichte der Medizin in sechs Bänden. Ein biographisches Lexikon in zehn Bänden. Ein Nachschlagewerk zum Deutschen Aberglauben in zehn Bänden. Neben der Tür ein beinahe mannshoher Stapel von Jahrgangsbänden der Westfälischen Forschung, außerdem vierunddreißig Bände Grimm-Gesamtausgabe. Abwesend streife ich durch die Räume, lege den Kopf nach links, nach rechts, nach links. Burgenkunde. Europas Wehrbau. Die deutsche Stadt im Mittelalter. Jüdische Literatur in Westfalen. Historische Orgeln. Barock in Westfalen. Wie viel Geld hier drin steckt, sagt Frederik, sieht sich um. Er muss jeden Cent in Bücher investiert haben. Ja, sage ich, kniend, um mir die Bände in den unteren Fächern anzusehen. Lexikon für Theologie und Kirche. Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Lexikon der Philatelie.

Wir haben schon etwas aufgeräumt, aber du siehst ja selbst, er zeigt auf einen schiefen Stapel Unterlagen, Broschüren und Ordner. Plötzlich ein Menschenschädel, grinsend starrt er zwischen Buchrücken hervor. Hm, ja, macht Frederik. Horst Krus war der Meinung, jeder große Denker müsse einen Schädel besitzen. Frederik zuckt mit den Schultern. Mir fällt ein: Goethe hat sich Schillers Schädel auf einem blauen Samtkissen bringen lassen. Er soll einen geblümten Gehrock getragen haben, während er in Schillers Mundhöhle umherfingerte.

Oben geht es weiter, mehrere Regalmeter voll nummerierter Aktenordner. Das ist die Chronik, sagt Frederik, zieht einen heraus und schlägt ihn auf. Ausgeschnittene Zeitungsartikel auf Kopierpapier geklebt, handschriftlich daneben Datum und Quellenangabe, manchmal zusätzlich mit Schlagworten versehen, dann in Klarsichthülle abgeheftet. Was für eine Fleißarbeit. Er hat alles archiviert, dokumentiert und abgelegt, alles, erzählt Frederik, während er den Ordner zurück ins Regal schiebt. Und das da ist das Fotoarchiv, ich drehe mich um, bemerke jetzt erst die Stapel von grauen und schwarzen Dia-Behältern. Bei jedem Dorffest, bei jedem runden Geburtstag ist er vorbeigekommen, hat fotografiert, das ist alles hier abgelegt, sagt er. Langsam wird mir klar, was hier lagert, zwischen staubigen Teppichen, vergilbten Tapeten, es ist das kollektive Gedächtnis eines Dorfes. Wahnsinn, sage ich. Wahnsinn, mehr bringe ich nicht heraus.

Frederik erzählt von Anträgen, die sie gestellt hätten, von einem riesigen Projekt. Sie wollten die Bibliothek unbedingt erhalten, das Archiv, und die Dias müssten digitalisiert werden. Unten solle ein Begegnungsraum für das Dorf entstehen, oben vielleicht ein Atelier für Kunstschaffende, Schreibende, wer auch immer sich mit Bellersen beschäftigen wolle, mit seiner Geschichte, mit der Region.

Am Ende des Ganges ein dunkles Zimmer, schemenhaft erkenne ich ein breites Doppelbett, darüber einen Bilderrahmen, verstreut stehende Möbelstücke. Ah, mache ich, das ist das Schlafzimmer gewesen? Nein, Frederik schüttelt den Kopf. Das war das Schlafzimmer seiner Eltern. Es wirkt unverändert, wie die Eltern es zurückgelassen haben. Echt? Frederik nickt. Das hat er also auch archiviert, murmle ich. Wir schweigen. Hm, ja, macht Frederik dann. Draußen dämmert es.

Ich gehe über die Straße, sehe mir von dort das Haus an, für einen Moment wirkt es beinahe belebt, bewohnt, aber innen läuft Frederik durch die Räume, ich höre seine Schritte, nach und nach erstirbt das Licht in den Fenstern, bis alles dunkel ist, verlassen liegt es da. Die Haustür scheppert hohl im Rahmen, dann kommt Frederik die Treppe herunter. Der Garten, sagt er, zeigt mit dem Daumen über die Schulter, wie er die Fahrbahn quert, ist eigentlich auch eine Sammlung. Er hat sich für Botanik interessiert, alle möglichen seltenen Pflanzen hat er da draußen gehabt, konnte dir genau sagen, was das eine ist und was das andere. Aber jetzt, Frederik guckt zurück, jetzt ist es ein Dschungel.

Mit der Chronik unterm Arm laufe ich durchs Dorf, die Laternen springen an. Als ich die Tür aufschließe, brüllen die Rinder von der Weide.

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Drei: Bellersen

Den ersten Menschen, den ich sehe, sehe ich von hinten. Gebückt steht er da, macht sich an einem Gartenhaus zu schaffen, die graue Hose spannt über dem Gesäß, schrubbend, scheuernde Geräusche, kurz überlege ich, ob ich grüßen soll, aber ich fürchte, er könnte sich erschrecken, also gehe ich vorbei.

Noch ein Mensch, wieder sehe ich nur den gekrümmten Rücken, einen Hinterkopf, Gesäß und Beine, Gartenschuhe. Eine Frau, sie jätet Unkraut im Garten. Dann, am Haus gegenüber, ein Mensch von der Seite, er macht sich an der Regentonne zu schaffen, trägt einen langen Stab, an dessen Ende eine Vorrichtung sitzt, die ich nicht ganz einordnen kann, ein Werkzeug jedenfalls. Von anderswo ein Fernseher, dumpf, hinter blickdichten Gardinen.

Plötzlich ein Jogger, ich grüße, er nicht.

Dann zwei Frauen, sie bleiben stehen, sehen mich an, ich blicke vom Handy auf, nur kurz, bald darauf notiere ich in die Notizen-App: Dann zwei Frauen, sie bleiben stehen, verstummen, sehen mich an, ich blicke vom Handy auf. Beide in Daunenjacke, die eine moosgrün, die andere blau. Beide tragen Halstücher, hell grundiert, blass bemustert. Beide mit Kurzhaarfrisur und Sonnenbrille. Die Gestelle ausladend, die Gläser undurchsichtig. Sie biegen um die Ecke, ich höre ihre Stimmen wieder. Ausgelassen, fast fröhlich.

Ein Wandgemälde mit Hirsch, im Hals des prächtigen Tieres sitzt ein Belüftungsschacht. Ich schaue durchs Fenster, das daneben liegt, erkenne eine Einbauküche, eine Dunstabzugshaube. In den Gärten stehen Bäume, in den Bäumen sitzen Vögel, pfeifen, quietschen, lärmen regelrecht. Ich bin es nicht gewohnt, höchstens ein paar Spatzen und Tauben, die sich um herabgefallene Pommes Frites streiten, oder grellgrüne Halsbandsittiche, die scharenweise durch den Park ziehen, manchmal halsbrecherisch tief, dass Läuferinnen den Kopf einziehen, Radfahrer bremsen müssen. Hier aber nichts dergleichen.

Hinter einer Mülltonne ein Huhn. Dann noch eins. Und noch eins. Behutsam setzen sie ihre Krallen in den Rasen. Als bedächten sie jeden Schritt einzeln. Begucken sich das Gras. Die Erde. Oder das Gewürm dazwischen. Herab fährt ihr Schnabel.

Ein Mädchen, sie trägt einen Jute-Beutel, darauf „I  <3  Höxter“.

Ich gehe eine schmale Straße hinauf, entdecke einen Briefkasten in Eulenform, aus Bronze geschlagen. Kurz darauf ein Scheunentor mit Basketballkorb. Kurz darauf ein zweites Wandgemälde, diesmal ein Holztransport mit Leiterwagen, vorneweg ein Pferd, obenauf ein Mann mit Peitsche. Ich fotografiere, damit ich eine Gedankenstütze habe, wenn ich meine Notizen später ins Reine schreibe.

Mitten im historischen Ortskern, zwischen prächtigem Fachwerk und gedrungenen Scheunen, ein modernes Wohnhaus, bodentiefe Fenster, oben steht ein Kind, es winkt. Ich freue mich, freue mich wirklich, winke zurück. Dann gehe ich weiter. Plötzlich öffnet sich unten die Haustür, ein Mann steht in der Tür, er ruft mich beim Namen. Kurz darauf sitze ich am Küchentisch, er reicht mir ein Glas Wasser.

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Zwei: Totholzhaufen

In den Wald, immer tiefer, irgendwo bin ich falsch abgebogen und zu stur, um umzukehren, es wird schon gehen, irgendwie. Anfangs noch eine ganze Reihe von Symbolen und Kennziffern für verschiedene Wanderrouten, A20, A21, AW, Historischer Agrarwanderweg, Droste-Hülshoff-Rundweg, jetzt aber nichts mehr, die Bäume ohne Hinweisschild, ohne Pfeil und Entfernungsangabe, ohne Logo des Regionalmarketings, manchmal liegen umgeknickte Buchen und Eichen auf dem Trampelpfad, manchmal versinkt der Weg in Schlamm. Irgendwann breche ich durchs Unterholz, stehe am Rand einer Weide, dahinter geduckte Hügelketten, davor ein Holzverschlag mit Wellblechdach. Links eine kleine, verlassene Ansammlung von Fichten oder Tannen. Dann, in einiger Entfernung, wieder Wald, aber nicht sehr dicht, blaues Licht schimmert zwischen den Stämmen hindurch. Darüber Windräder in unregelmäßigem Abstand, aber immer weit genug, um sich nicht in die Quere zu kommen.

Ich folge der Baumgrenze, in den Wipfeln lärmen Vögel, als ich näherkomme, verstummen sie, schweigend fliegen sie auf, wechseln den Baum, dann geht es wieder los. Später das Gleiche noch einmal. Als hätten sie Interna zu besprechen.

In der Ferne ein Windrad mit doppelter Rotorzahl, ich staune, dann erkenne ich, es sind zwei, das eine vor dem anderen, wie eine Tanzchoreographie.

Einmal bleibe ich stehen, blicke zurück, sehe mir das Dorf an, wie es daliegt, eingefasst von braun und grün, über den Dächern eine niedrige Wolkendecke, ich beobachte, wie sie absinkt, sich zu Boden reckt, sich ergießt. Abseits hellt es auf.

Jetzt regnet es auch bei mir, sobald ich den Schirm aufspanne, hört es auf, ich packe ihn weg, dann fängt es wieder an.

Der Wald steht locker, manchmal hat er breite Schneisen davongetragen, mir fällt der Geruch von brennendem Kaminholz ein, der mir in die Nase stieg, als ich in Bellersen aus dem Bus getreten war. Anderswo schließt es sich schon wieder, struppiges Geäst, störrisch und bräunlich steht es da, von Moos unterfüttert, undurchdringlich auch für den, der eine Axt mitbrächte. Es wehrt sich.

Man sieht so viel. Es ist ein Problem. Weil ich immerzu stehen bleiben muss und tippen muss, dass mir die Finger frieren, ich sollte gehen, später schreiben, aber dem Kurzzeitgedächtnis ist nicht zu trauen.

Mitten im Gestrüpp: Schneeglöckchen. Sie lassen den Kopf hängen, schwächlich blicken sie zum Moos. Ich kann es ihnen nachfühlen, es ist kalt und feucht. Und hinter ihnen, tiefer noch, kleine Kolonien zwischen schmalen, blattlosen Bäumen.

Immer wieder Wege, die unscheinbar ins Abseits führen, sie locken mich, aber ich gehe weiter, will nicht verschwinden zwischen Totholzhaufen und Gesträuch.

Abseits eine Amsel. Sie warnt. Vor mir.

Irgendwo eine Motorsäge. Anderswo ein Specht. Alles arbeitet hier. Auch das Moos. Es klettert die Stämme hinauf, störrisch.

Seit Stunden kein Mensch, niemand, nirgends.

Überall Hochsitze, mir fällt auf, ich trage eine braune Jacke, gehe querfeldein, jetzt werde ich nervös. Ich mache auslandende Schritte, schlenkere mit den Armen, als könnte ich auf diese Weise weniger mit einem Hirsch verwechselt werden.

Plötzlich eine Lichtung abseits des Weges, ich trete ins Offene, in die Sonne, wo es warm ist, Baumstüpfe, weißlich emporquellende Pilze, das Gras kniehoch, dazwischen ein schmaler Pfad. Dann fällt die Wiese ab, ein Hang, irgendwo fliegt ein Greifvogel auf, ich störe schon wieder. Unsichtbar, aber hörbar, die Landstraße Richtung Bellersen. Wie komme ich dorthin? Ich gehe weiter, pötzlich das Logo des Historischen Agrarwanderwegs, dann eine Schautafel mit einer Karte der umliegenden Ländereien, unterteilt nach Eigentümern: Freiherr von der Borch, Graf von der Asseburg, Stadt Marienmünster, Stadt Brakel, Freiherr von Haxthausen, ich glaube, das ist Verwandtschaft von Droste-Hülshoff.

Den Hang hinunter, über die Landstraße, über den Bach, der Brucht heißt, jetzt dämmert es. Rechts eine matschige Piste, sie führt zurück in den Wald, ich würde gerne, aber bald ist es Nacht. Einmal ein Hochlandrind, grimmig guckt es über den Zaun, Augen verborgen unter brauner Zottelmähne. Dann eine Kläranlage. Dann das Ortsschild.

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Eins: Wendeplatz

Es ist schon spät, als ich meinen Koffer packe, ich stehe zu lange am Bücherregal, kann mich nicht entscheiden, am Ende vergesse ich den Droste-Hülshoff-Band, den ich auf jeden Fall mitnehmen wollte, er fällt mir erst am nächsten Morgen wieder ein, als ich schon zur Stadtbahn hetze. Stattdessen habe ich Frost von Thomas Bernhard eingepackt, ein Famulant reist im Auftrag seines vorgesetzten Assistenzarztes nach Weng, ein kleiner, düsterer Ort, so schildert es der Erzähler, die Menschen dort seien kleinwüchsig und schwachsinnig, die Wirtin macht ihm Avancen, die ihm sehr zuwider sind, der Maler, dem er nachspionieren soll, ist der Bruder des Assistenzarztes, er ist voller Hass, der Erzähler hilflos, hinter Wuppertal lege ich das Buch zur Seite, ich merke, es ist das falsche, jetzt gerade ist es das ganz falsche.

Ein ältlicher Mann setzt sich neben mich, er ächzt etwas und riecht, außerdem trägt er eigenartige Kopfhörer, sie sehen aus wie die Modelle, die man aus den Nachrichten kennt, wo sie am Kopf von Vladimir Putin klemmen oder an dem von Angela Merkel. Der Mann aber hat keine deutsch-russische Übersetzung im Ohr, vielmehr ein bassloses Scheppern, ich glaube Run DMC, er wippt mit dem Bein, ich sehe aus dem Fenster.

Dann eine Frau in Blazer und Bluse, sie isst ein komplex belegtes Brötchen, ich entdecke Ei, aber auch Frikadelle und Gurke. Als sie aufgegessen hat, wischt sie sich den Mund mit einer Serviette, kurz darauf ist sie eingeschlafen, hängt mit der Stirn an der Fensterscheibe, hinter der ein Waldrand vorüberzieht. Wiesen. Himmel. Häuser am Siedlungsrand. Einmal ein langes, hallenartiges Gebäude, daneben ein schmales Silo, vielleicht Futtermais oder Soja aus Brasilien. Die Bahn leert sich.

Altenbeken, Bad Driburg, die Frau schläft noch immer. Ich frage mich, ob ich sie wecken sollte. Hinter ihr dunkeln die Felder, sie atmet, als träumte sie. Die Ställe. Die Höfe. Manche verlassen, andere mit mehrstöckigen Anbauten. Die Dämmerung.

Am Brakeler Bahnhof eine Reihe von Bushaltestellen, an keiner ist Bellersen angeschrieben, gegenüber noch mehr Bushaltestellen, also gehe ich über den Zebrastreifen, zwei Kleinwägen müssen halten, einer links, einer rechts, beide von Opel, aber nur einer mit Duftbaum. Ein Bus mit geöffneter Tür, der Fahrer raucht aus dem Fenster, ich frage nach der 585, er sagt, von Nummern weiß ich nichts, wohin willste denn? Nach Bellersen, sage ich. Er nickt. Da fährste gleich mit mir, aber drüben einsteigen, hier darfste nicht. Danke, sage ich, ziehe meinen Koffer zurück über den Zebrastreifen, diesmal ein Mazda links, ein Audi rechts.

Ich bin der einzige Fahrgast, schaue hinaus. Drei Männer auf einem Parkplatz, gemeinsam starren sie auf das Heck eines BMW. Ich gucke auch hin, kann aber nichts entdecken. Dann Supermärkte. Ein Rossmann, der aussieht wie ein Edeka. Ein Rewe, der aussieht wie ein Aldi. Skulpturen vor der Sparkasse. Ein bisschen Fachwerk. Ein Skatepark, darauf kleine Kinder mit Fahrrädern und Tretrollern, keine Halbstarken in Baggypants, kein 50-50 an der Curbbox, kein Heelflip auf der Quarterpipe. Dann freies Feld. In der Ferne Kräne und Einfamilienhäuser, eine Scheune. Windräder.

Ein Wald. Ein Bach. Eine Weide. Im Gras steht das Wasser. Höfe, Scheunen, keine Menschen, manchmal ein Auto, das uns entgegenkommt. Strommasten. Verstreut stehende Neubauten mit Solarzellen auf dem Dach. Eine Rutsche.

Dann biegen wir ins Dorf, die Straße windet sich durch den Ort, die letzte Haltestelle heißt Wendeplatz, ich steige aus und tatsächlich, der Bus macht kehrt, lässt mich zurück.

Hohl klappert mein Koffer auf dem Pflaster. Schöne Fachwerkhäuser, beinahe imposant, eine schlichte Kirche, ich glaube romanisch, eine Porzellanwerkstatt, kurz darauf ein Altbau, die Fenster schmutzig, wildes Gestrüpp, das am Gemäuer emporkriecht. Am Ende des Dorfes wird es kühl, ein paar Kühe stehen auf der Weide, ratlos, als hätten sie vergessen, was sie zwischen Tümpel und Holzverschlag verloren haben. Dann finde ich die Straße, die ich mir notiert habe, die Rezeption ist geschlossen, aber ein Umschlag klebt an der Tür, ich löse das Tesa, finde meinen Schlüssel. Innen taste ich nach dem Schalter, mache Licht, trete ein. Leise ticken die Nachtspeicheröfen, ein kleiner Wlan-Repeater blinkt in der Wand.

Nichts. Gar nichts. Ich höre nichts. Es fühlt sich an wie Druck auf den Ohren. Dann tippe ich weiter. Die Tastatur klappert. Es hilft.

Am Morgen wache ich auf, tappse ins Bad, es ist kalt, ich fummle am Elektroheizkörper, aber er will nicht anspringen. Als ich mich gewaschen habe, mache ich Kaffee, sehe aus dem Fenster. Erst Schneeregen. Dann nieselt es, fein, fast unmerklich. Gerade setze ich mich an den Schreibtisch, da klopft es. Ich stehe auf, gehe zur Haustür, die aus Glas ist, ich kann niemanden sehen. Ich öffne, schaue nach links, nach rechts.

Den Vormittag verbringe ich am Romanmanuskript, dann bekomme ich Hunger. Ich ziehe mich an, Jacke, Schal, Mütze, draußen ist es kalt. Als ich die Haustür hinter mir ins Schloss ziehe, spüre ich es nasskalt in der Handfläche, es ist weiß und grünlich, auf dem Türknauf auch, ein Vogel muss seine Kloake darauf entleert haben. Ich gucke mich um, als könnte der Übeltäter noch irgendwo im Gebüsch sitzen, hämisch zwitschern, aber nur leere Sträucher um mich her. Keiner da.

Nachmittags bin ich zurück und müde, ich versuche zu lesen, schlafe aber ein, als ich aufwache, klopft es. Ich horche, schleiche zur Tür. Niemand.

Mehr von Yannic Han Biao Federer