Der Wald hängt voller Spiegel

Ratingen-Cromford liegt definitiv nicht an der Straße der Arbeit. Dennoch treffe ich mich mit Thyra im Café der ehemaligen Textilfabrik – die nicht irgendeine Fabrik war, sondern die erste industrielle Fabrik auf europäischem Festland. Gebaut hat sie bereits 1783 ein gewisser Gottfried Brügelmann, der sich die Konstruktionspläne für die industrielle Verarbeitung von Baumwollgarn nicht ohne ein beträchtliches Ausmaß krimineller Energie beschafft hatte, nämlich durch Industriespionage. Immerhin hat er seine Fabrik nach dem britischen Vorbild in Cromford benannt und einen vollendeten englischen Landschaftspark um das Gelände bauen lassen.

Thyra ist schon da und bestellt gerade einen Kaffee.
Frau Holst, sagt die Kellnerin, wie schön, dass Sie mal wieder vorbeischauen.

Dabei ist es schon 16 Jahre her, dass Thyra hier gearbeitet hat – natürlich nicht in der Textilfabrik, sondern für den Landschaftsverband (LVR), der in der ehemaligen Produktionshalle mit angrenzendem Herrenhaus ein Industriemuseum betreibt.

Es ist eine seltsame Geschichte, sagt Thyra, dass ich damals hier gelandet bin. Denn eigentlich bin ich Tanzlehrerin.

Das war ein Knochenjob

Wir brechen auf und laufen Richtung Anger, wo mich Thyra auf die Wiesen hinweist, auf denen früher das Tuch ausgelegt und gebleicht wurde.

Hier wurde das Tuch auf den Bleichwiesen der Anger getrocknet

Das war ein Knochenjob, sagt Thyra. Hinter den Wiesen überqueren wir den Fluss und laufen auf ein herrschaftliches Anwesen zu. Es heißt Haus zum Haus.
Keine Ahnung, was das ist, auf jeden Fall ein staatstragender Name, sagt Thyra und lacht und ihr Lachen hört sich glücklich an, diese Art von Glück, die keinen Grund braucht.
Ich habe hier ja nur drei Jahre gewohnt; und davor war sie in Gummersbach, wo sie ihre erste Anstellung bekommen hat, in einer Ballettschule in Gummersbach, im Alten Rathaus.

Der Besitzer hatte das Rentenalter längst erreicht, aber wie Tänzer halt so sind, sagt Thyra, der hatte soviel Begeisterung für die Schule und für seine Kundschaft, der konnte gar nicht aufhören. Das war mein allererster Job. Meine Wohnung in Bergneustadt hat mir der Ballettschulenbesitzer besorgt.

Für unsere nächste Ballettschulenaufführung suchen wir Kinderspielzeug wie Roller oder Puppenwagen und außerdem suchen wir eine kleine Wohnung für unsere neue Mitarbeiterin.

350 Schülerinnen zwischen 3 und 80 Jahren hatte die Schule und jede bekam einen solchen Flyer in die Hand gedrückt. Eine Woche später hatte ich eine Wohnung. Er hat mich selbst hingefahren, mit seinem dicken Mercedes.

Der wusste über jeden Dackel Bescheid

Irgendwann, nach der Ich-weiß-nicht-wievielten Knieoperation, musste er die Ballettschule dann doch verkaufen, Tänzer haben eben meistens einen ziemlich kaputten Körper, sagt Thyra. Er war auch sehr groß, sogar größer als ich.
Thyra ist tatsächlich ziemlich groß, sicherlich über 1,80. Ich kann sie mir sehr gut als Tänzerin vorstellt, sie strahlt Disziplin und Leichtigkeit aus.
Der alte Besitzer war eine Institution in Gummersbach, der kannte Hans und Franz und wusste über jeden Dackel Bescheid, und wenn so jemand geht, geht eben auch die Kundenbindung in die Binsen.

Kostenfaktor Thyra

Der neue Besitzer wollte schließlich von mir wissen, warum denn so viele Leute die Schule verlassen. Der meinte offenbar, dass es an mir liegt.
An dir?
Ja, ich war die einzige Festangestellte und damit auch der Kostenfaktor schlechthin.

Wie war denn dein Tagesablauf?
Der Arbeitstag begann um 14 Uhr mit den Kleinen und das ging dann wie die Orgelpfeifen, weil die Älteren ja erst später aus der Schule kamen und am Abend waren die Erwachsenen dran. Und am nächsten Tag wieder um 14 Uhr angefangen. Bis abends um 20 Uhr.
Ganz schön viel, jeden Tag 6 Stunden unterrichten, sage ich (die nach jedem 1-Tages-Workshop zwei Wochen Urlaub braucht.)
Ja, das war wirklich viel.
Dann, eines Abends, ich wollte gerade nach dem Unterricht nach Hause gehen, ach Thyra, hieß es da, ich habe noch einen Brief für Sie, können Sie mir bitte den Empfang bestätigen, ja klar kann ich, sagte ich und quittiere den Brief und mache ihn auf und dann war das meine Kündigung.

Unterbezahlt für 23 Euro die Stunde

Im Nachhinein gesehen, war es aber gut, dass die mir damals in der Tanzschule gekündigt haben. Ich konnte nämlich, sagt Thyra, am Abend keinen Schritt mehr gehen vor Schmerzen. Ich habe das damals einfach akzeptiert und gedacht, meine Knie sind eben nicht die besten. Und erst, als ich dann arbeitslos war, habe ich gesehen, das geht auch anders! Das lag tatsächlich am vielen Stehen und am unaufgewärmten Tanzen.

Schön hier, oder? sagt Thyra. Und schau mal die Birke, die hier so einen 90 Gradwinkel macht.

Sieht ein bisschen aus wie ein Tänzerknie, oder?

Glücklicherweise habe ich ein Foto von der tanzenden Birke gemacht. Beim Abhören der Aufnahmen denke ich, dass es doch erstaunlich ist, wie sehr die Umgebung immer unsere Gespräche spiegelt und unsere Themen. Im Grunde, denke ich, hängt der Wald voller Spiegel, und in manche schauen wir hinein und in andere nicht.

Birke mit Tänzerknie

Danach habe ich erst einmal keinen neuen Job gefunden. Was auch daran lag, dass eine Festanstellung an einer Ballettschule extrem selten ist. Die meisten arbeiten als Honorarkräfte, wie das auch an der VHS üblich ist, wo man unterbezahlt für 23 Euro arbeitet. Brutto! Und das unternehmerische Risiko allein trägt.

Während sie arbeitslos war, hat Thyra sich künstlerisch engagieren können und das Musicalprojekt Oberberg mitgegründet. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit stolperte sie über eine Anzeige in der Zeitung, dass die Rheinland Kultur in Lindlar fürs Bergische Freilichtmuseum jemand suche, der bäuerliche Hauswirtschaft vorführt. Und da habe ich gedacht, naja, Kartoffeln kochen und Kräuterquark rühren, das kann ich.

Ich bin ganz überrascht, welche Trampelpfade deine App kennt, sagt Thyra, während wir durchs Gebüsch Richtung Stadtwald laufen.

Das war also mein Einstieg im Museum, sagt Thyra, und das ist ein total schöner Job, wenn man Natur mag. Ich habe gelernt, wie man auf einem Kohleofen kocht und das Holz hackt und das Anzündeholz abspaltet von den großen Brennklötzen. Ich habe Wildkräuter gelernt und Kühe melken und von der Milch Käse machen. Ich könnte auch auf einer Alm überleben, lacht Thyra. Der Hof Peters ist ein Bauernhof auf dem Stand der 1960er Jahre, und es ist natürlich viel anschaulicher für das Publikum, wenn da tatsächlich jemand wirtschaftet, wenn es da nach Essen riecht und im Herd das Feuer ist. Einen Bildschirm kann man immer montieren, aber das zu erleben, ist etwas ganz anderes.

Das Ding ist nur, sagt Thyra und lacht ihr Lachen, wenn ein Jahr vorüber ist, geht das ganze Programm wieder von vorne los. Und das fand ich … ein bisschen langweilig.

Die kann mehr als Ziegen melken

Im Freilichtmuseum hatte sie eine feste Stelle, vier Tage die Woche. Nach drei Jahren hat der LVR dann aber festgestellt, oh, Freilichtmuseum ist eine gute Sache, nur, im Winter ist da ja weniger los. Das müssen wir mal optimieren. (Es war die Zeit der großen Arbeitsoptimierung). Der LVR hatte damals regionale Kultur, Gesundheit und Straßenbau. An der Kultur wird natürlich als erstes gespart. Den Straßenbau haben sie an die spätere Straßen.NRW abgegeben, die sitzen auch in Gummersbach, hinterm Steinmüller.

Der LVR hat also Saisonbetrieb eingeführt, was eben bedeutete, dass ich die Hälfte des Jahres arbeitslos sein würde, und an dieser Stelle werden wir beinahe von Mountainbikern überfahren, deren Strecke über unseren Pfad verläuft.

Ratingen Stadtpark

Ich war allerdings vorher schon in der Zentrale aufgefallen. Vor allem dadurch, dass ich hartnäckig nachfragte, wie das Alternativkonzept aussieht, da ich ja meine Miete bezahlen muss. So bekam ich eine Aufgabe in der Zentrale in Brauweiler und konnte zeigen, dass ich organisatorisch und konzeptionell gut bin.

Damals hat der Landschaftsverband das Projekt Musik in den Klöstern initiiert. Und der Kollege, der das machen sollte, der war sehr gut in Marketing und Kommunikation. Aber nicht in Fleißarbeit. Die hat er an mich weitergegeben. Dann habe ich noch ein paar Vorschläge gemacht und ein paar Fragen gestellt, und dann war klar, die kann mehr als Ziegen melken. Tatsächlich bin ich dann nicht mehr zurück ins Freilichtmuseum, sondern nach Ratingen-Cromfort. Als Kassenleitung.

Plötzlich Führungskraft

An meiner Reaktion in den Aufnahmen wird klar, dass ich keine Ahnung habe, was eine Kassenleitung ist. Man verantwortet den Kassenbetrieb, schreibt die Dienstpläne und führt das Team, erklärt Thyra.

Meine Einstellung war vor allem auch der Tatsache geschuldet, dass ein elektronisches Kassensystem eingeführt werden sollte. Bis dahin ging beim LVR die Buchhaltung zu Fuß, sagt Thyra, und wie aufs Stichwort höre ich in den Aufnahmen ein Flugzeug auf seinem Anflug zum Düsseldorfer Flughafen, der nur 8 Kilometer entfernt liegt. Und – ganz revolutionär – sagt Thyra, wir fingen sogar an, E-Mails zu schreiben! Das war 2003. Vom Ziegen melken direktemang in die Digitalisierung.

Dann ging es Schlag auf Schlag mit der Karriere. Nach 3 Jahren Kassenleitung in Cromford wurde ihr die übergreifende Objektleitung aller damals sechs LVR-Industriemuseen angeboten.
Und auf einmal war ich Führungskraft mit 80 Mitarbeitern, sagt Thyra und lacht, noch immer überrascht von diesem gewaltigen Karrieresprung. Das Coole daran war, dass ich alles ja selbst schon einmal gemacht hatte, das hat mir sehr geholfen.

Wir bleiben stehen und sagen tolles Bild, nur weiß ich leider nicht mehr, was wir in diesem Moment bewundert haben.

Wahrscheinlich haben wir dieses Mohnblumenfeld gesehen

Später hat Thyra die Hälfte der Museen abgegeben und sich museumsübergreifenden Themen gewidmete, das bedeutete Projektarbeit. Man gab mir ein Buch und sagte, lesen Sie dieses Buch. Da steht alles drin über Projektmanagement. Ich dachte, ok, ich habe zwar nicht alles verstanden, aber probieren wir es einfach mal. Schritt für Schritt. Wie im Tanzunterricht.

Sag mal ein Beispiel, bitte ich sie. Zum Beispiel, sagt sie, wie planen und erfassen wir die Arbeitszeit der Mitarbeitenden? Bis dahin gab es handschriftliche Dienstpläne und Stundenzettel. Das ist aber old school und fehleranfällig, deshalb haben wir auf Software mit elektronischer Stempeluhr umgestellt. Ein riesiger Aufwand war das.

Wir stehen an einer Ampel gegenüber einem Haus. Auf einem Schild ist ein Hund abgebildet, der als Warnung gelten soll. Zu unserer Verblüffung steht genau dieser Hund plötzlich direkt neben uns, in echt. Ist das derselbe Hund, der hier abgebildet ist, frage ich die Besitzerin und deute auf das Schild. Nee, nicht ganz derselbe, lacht sie. Aber das ist wirklich meine Küche, sagt die Frau und deutet auf das Küchenfenster neben dem Schild.

Die kleinste Abteilung der Welt

Die Ampel springt auf grün.

Inzwischen, sagt Thyra, bin ich seit 23 Jahren bei der Rheinland Kultur.
Und seit die neue Chefin da ist und den Bereich umstrukturiert hat, hat Thyra sogar ihre eigene Abteilung bekommen. Am Stammsitz in Brauweiler leitet sie „die kleinste Abteilung der Welt.“
Endlich bin ich da angekommen, wo ich selbst gestalten kann. Wir machen museumsübergreifende Projekte. Die nächste Arbeitsbesprechung am Montag wird übrigens eine Arbeitswanderung sein!, sagt Thyra. Hoffentlich hält das Wetter!

Die Frau mit dem Hund überholt uns und wünscht uns ein schönes Wochenende. Wir wünschen zurück.

Findest du, dass es überhaupt Führung und Leitung geben muss?, frage ich Thyra, während ich meine Jacke anziehe, die Sonne ist weg und Wolken türmen sich auf.

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, gesellschaftlich stehen wir an dem Punkt, dass wir schon noch jemand brauchen, der den Hut aufhat. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht vielleicht auch eine Entwicklung geben könnte, die das eines Tages überflüssig macht. Wenn man die Historie anschaut, könnte das schon eine logische Weiterentwicklung sein.

Zurück in Cromford essen wir im Museumscafé einen unfassbar guten Käsekuchen, der noch ganz warm ist.
Du musst dir unbedingt das Museum anschauen und das Herrenhaus, sagt Thyra.
Zu jeder vollen Stunde wird das Mühlenrad in Bewegung gesetzt und man kann den berühmten Waterframes zuschauen, wie sie ihre Arbeit tun.
Und das mache ich auch.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Rundwanderung von Ratingen Cromford zum Blauen See
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Plan B (Teil II)

Ah, diese Aussicht, sagt Tina und ich höre beim Abhören der Aufnahmen, wie sie in großen Schlücken Wasser aus ihrer mitgebrachten Flasche trinkt. Wir schauen auf die Wupper und sprechen über einen Begriff, der seit der Coronazeit in aller Munde ist: Systemrelevanz. Tina ist, wie bereits in Teil I erwähnt, nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Leiterin der Zentralen Studienberatung an der Uni Wuppertal. Wir sind für alle Fragen rund ums Studium da, sagt Tina, vor allem dann, wenn’s schwierig wird.

Die Arbeit als Studienberaterin ist eine pädagogische Arbeit, denn es geht darum, junge Menschen von einem Bildungsabschnitt in den nächsten zu begleiten. Die Beratung richtet sich an Studierende, aber auch an Schülerinnen und Schüler. Gerade im ersten Prozess mit den Schüler:innen geht es immer auch ein bisschen um Selbsterfahrung, darum, wie man mit Selbstzweifeln umgeht oder auch der Klassiker: Ich kann alles ein bisschen, aber nichts so richtig. Wir werden ja hineingeworfen, in die Freiheit der Berufswahl, zu Engels‘ Zeiten war das noch anders, da wurde man in sein Milieu hineingeboren. Heute ist dagegen vermeintlich alles in unserer eigenen Verantwortung, wir stecken in keinem Wertekorsett mehr.

Industriemuseum Wülfingfabrik

Passend zum Thema bleiben wir nun stehen und diskutieren, wie wir gehen müssen und wo wir stehen. Zuerst hat die eine recht, dann die andere, dann gehen wir in die eine Richtung und dann doch in die andere. Dann kehren wir um. Wir sind über die Nase gelaufen, höre ich Tina in meinen Aufnahmen sagen, was für ein Satz, denke ich.

Biographiearbeit und Arbeitsbiographien

In der Corona-Zeit ist die psychologische Beratung, die auch zur Studienberatung gehört, sehr in den Fokus gerückt, wir haben zusätzliche Stunden angeboten und den Service aufgestockt. Was heißt es, wenn ich mich einer Gesellschaft nicht zugehörig fühle? Arbeit ist ja nur eine Facette im Leben. Wir sprechen mit den Studierenden auch über deren Lebenskontext. Ich nenne das Biographiearbeit, sagt Tina, und ich sage, lustig, bei der Straße der Arbeit geht’s um die Arbeitsbiographie. Das ist jetzt das Komplementär dazu.

Wie läuft denn so eine Studienberatung ab? Es geht vor allem um Reflexionsprozesse: Was habe ich als Kind werden wollen, was macht mir Freude, gibt es Vorbilder? Aber auch: Was gibt es für Hinderungsgründe, zum Beispiel im Ausland oder was mit Tieren, da heißt es dann Ach nö, dafür muss ich ja Medizin studieren. Oder lange ins Ausland ausgehen, das kann ich nicht. Manchmal reicht es aber auch vom Numerus Clausus her nicht oder es gibt sonstige Ausschlussgründe, die gegen ein bestimmtes Studienfach sprechen. Und dann schauen wir nach Alternativen. Es ist ja eh ganz gut im Leben, einen Plan B zu haben.

Wir sind beide der Meinung nach, dass der Plan B eines der wichtigsten Dinge überhaupt im Leben ist. Wer einen Plan B hat, kann mit Plan A scheitern und das absolut Ok finden.

Vielen sei das nicht wirklich klar, sagt Tina, sie glauben, es müsse alles immer perfekt sein, perfekter Urlaub, perfekter Körper, perfektes Studium, perfekte Familie. Und vergessen dabei, dass zum Leben eben auch ganz viele bescheuerte Tage dazu gehören, und ich sage, besteht nicht das ganze Leben vor allem aus denen?

Heilungsprozesse durch die Literatur

Vor ein paar Jahren hat Tina eine Zusatzausbildung im Bereich Integrativer Therapie mit Schwerpunkt Poesie- und Bibliotherapie absolviert, am Fritz-Perls-Institut, hier in Hückeswagen, direkt an der Bevertalsperre. Was ist das denn, frage ich. Etwas ganz Tolles, sagt Tina, da geht es um die Heilkraft der Sprache, des Lesens und des Schreibens, aber auch der anderen Künste. Das Lesen und Hören von literarischen Texten einsetzen in pädagogische Entwicklungsprozesse. Oder auch in Rekonvaleszenzprozesse. Ich habe schon in der Germanistik bemerkt, dass Literatur über die reine Ästhetik der Sprache hinausgeht. Es hat ein viel größeres Potenzial, um in andere Welten, Zeiten, an anderen Orten einzutauchen. Das gilt sowohl fürs Rezipieren als auch fürs Schreiben.

Der Weg, auf den wir nun einbiegen, ist alles andere als perfekt. Wäre dieser Wald ein Zeitabschnitt, wäre er einer der bescheuerten Tage. Umgefallene Bäume, über die wir steigen oder unter denen wir herkraxeln müssen, Gestrüpp, Wurzeln, kleine Äste, die sich in die Haut bohren. Mein Oberschenkel blutet. Auf den Aufnahmen sage ich tapfer, lass uns noch ein paar Meter versuchen. Tina ist skeptisch, möglicherweise denkt sie schon an den Plan B. Der würde lauten: umkehren. Ich aber kehre ungern um, denn wer A sagt, muss auch B sagen, jaja, ich weiß, dass das falsch ist, aber was heißt schon wissen. Nach weiteren zehn Minuten Kraxelei lasse ich mich dann doch überzeugen. Beim Weg zurück sehe ich, wie sich ein dünnes, schwarzes Kabel über eine gefallene Buche schlängelt. Lustig, denke ich. Sieht aus, wie das von meinem Aufnahmegerät.

Wo Riesen Mikado spielen

Es ist nicht nur das Kabel, es hängt sogar noch das Aufnahmegerät dran, das auf der anderen Seite der Buche pendelt. Pendelfriedrich lässt grüßen. Das Mikro und mit ihm der Rest muss sich von Tinas Kragen gelöst haben, als sie an einem Ast hängen geblieben ist. Zum Glück sind wir umgekehrt, sage ich. Und denke, vielleicht muss man erst scheitern, um etwas wiederzufinden, von dem man gar nicht wusste, dass man es verloren hat.

Manchmal muss man auch erst scheitern, um danach den einfacheren Weg zu sehen. Zu sehen, dass auch auf der Straße der Arbeit ein Plan B existiert. In unserem Fall beginnt Plan B etwa 20 Meter vor den ersten Baumleichen. Er führt uns steil, aber elegant durch den Wald, vorbei an dem Chaos aus Stämmen und Sträuchern, die von oben aussehen, als hätten gelangweilte Riesen Mikado gespielt. Und hinter jeder Lücke glitzert die Wupper auf ihrem Weg nach – ja wohin eigentlich? Nach Leverkusen, sagt Tina, dort mündet die Wupper in den Rhein.

Hier lesen Sie Teil eins der Wanderung mit Christine Hummel

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit II von Radevormwald nach Hückeswagen
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Bergisch Babel III

Wuppertales (Warmlauschen)

(Anm.: So hat das beim letzten Mal auch schon angefangen, Bergisch Babel I & Bergisch Babel II)

 

„Ja kommste? Ja wat haste denn? Ja kommste jetzt mal? Ja willste nich? Ja wohin willste denn? Wohin willste? Haste wat gefunden? Ja wat haste denn gefunden? Ja zeigst du’s mir? Ja zeigst du’s mir gleich? Ja aber da ist doch nix? Da ist doch gar nix? Da ist doch nix, jetzt komm aber mal! Komm jetzt her, Frauchen wird kalt!“

 

//

 

„Und dann gibt es ja auch diese schönen Masken.“
„Ach.“
„Die in Wuppertal hergestellt werden.“
„Aha?“
„Die hab ich letztens gekauft. In blau. Und in türkis.“
„Sehr schön.“
„Die sind halt ein bisschen gröber.“
„Ja?“
„Ja. Aber das gehört sich auch so.“

 

//

 

„Die Mama muss weg.“
„Aber warum denn?“
„Die Mama muss weg!“
„Schau doch mal, hier ist gibt es doch Eis.“
„Will kein Eis!“
„Und Döner.“
„Was ist Döner?“
„Sowas wie der Mann da hat.“
„Will kein Döner!“
„Bist du gar nicht hungrig?“
„Nein!“
„Wollen wir dann vielleicht nachhause gehen?“
„Nein!“
„Was dann?“
„Die Mama muss weg!“
„Wohin soll die Mama denn gehen?“
„…“
„Schau, jetzt geht die Mama weg, ist das richtig so? So?“
„…“
„Soll die Mama vielleicht gar nicht weggehen?“
„Doch!“
„Aber warum?“
„Das haben die im Film gesagt!“

 

//

 

„Haben Sie auch Waschmittel?“
„Aber sicher, der Herr.“
„Auch das richtige?“
„Kommt ganz drauf an, was Sie meinen.“
„Das weiße mein ich.“
„Hier sind alle Sorten, die wir …“
„Nein, nein, nein, das weiße mein ich doch! Nicht das bunte Zeug hier.“

 

//

 

„Du, ich bins. Ich steh an der Bahn und wollt mich kurz melden. Wir sind jetzt durch. Volles Rohr. Einmal die ganze Nummer. Voll schade, dass du nicht dabei sein konntest. War nämlich wieder sehr schön gewesen. Wirklich sehr schön. Echt au-ßer-ge-wöhn-lich. Hätt ich vorher nicht gedacht. Diesmal kam aber auch alles zusammen. Das kann man ja nicht planen. Also, insgesamt eben voll toll. Ich freu mich mega. Und jetzt geht’s nachhause. Der Zug kommt auch gleich. Hoffentlich bist du bald wieder dabei.“

Mehr von Tilman Strasser

Zwischenruf: Schnipsel

Als Regionenschreiber ist man ja oft auf der Jagd. Nach DEM Satz, der wirklich etwas von der Umgebung erzählt, DEM Moment, in dem Menschen etwas offenbaren. Die Jagd macht müde. Deshalb setzt man sich. Und wenn man dann sitzt, ereignen sich Satz oder Moment manchmal völlig unvermittelt. Viel öfter noch ereignet sich gar nichts. Und am häufigsten ein Weder-Noch, das erstaunlich dringend aufgeschrieben sein will. Verstreute Notizen.

Blecher, Talweg. Zwei Jungs in Jeansjacken, die mit Fingern auf das staubige Fenster eines verlassenen Hauses malen. Sie kichern sich zu, der eine vollendet sein Werk mit gekünsteltem Schwung, während der andere ihn vor Aufregung zu boxen beginnt: Schnell, mach schnell! Ihre Gelfrisuren glitzern in der Sonne, endlich ist der größere fertig, sie sprinten los, noch im Rennen platzt Gelächter aus ihnen, ein Kieselstein springt ins Gebüsch. Auf dem staubigen Fenster ein Herz, darin steht: Anna + Nils.

Solingen, Hügelstraße. Die Katze, die den Notierenden mustert, gemessen an ihm vorbeischreitet, noch den Kopf dreht, als sie fast schon an der nächsten Ecke ist, als bliebe sie zu gern auf ein Schwätzchen, würde aber leider dringend andernorts gebraucht.

Remscheid, Am Bahnhof. Vor dem Schaufenster sprechen zwei Mädchen über die darin ausgestellten Handyhüllen. Sie zeigen auf einzelne und lachen schrill und sind sich einig, dass sie süß oder fake oder voll eklig sind. Ein junger Mann tritt aus dem Laden und beschäftigt sich abschätzig mit seiner Zigarette. Er raucht ein paar Züge, die Mädchen mustern ihn. Als er fast fertig geraucht hat, geht er kurz ins Geschäft und kommt mit einer der Handyhüllen aus dem Schaufenster wieder. Er geht zu dem linken der beiden, die etwas längere, glatt-glänzende Haare hat, und sagt: Schenk ich dir. Das Mädchen sieht auf das Produkt hinab, ein Gummilappen mit Flausch, dann sieht es die Freundin an, mit Wimpern, so schwarz und lang, als könnten sie Entschuldigungen zufächeln. Sie fächelt, flüstert fast: Ey, ich hasse die Farbe.

Hochdahl, Hildener Straße. Der BMW, goldbraun, fabrikneuer Glanz, der an den Straßenrand rangiert, als handele es sich um eine denkbar knappe Parklücke (obwohl weit und breit kein anderes Auto steht). Der Mann, der aussteigt und sich Staub von der Kleidung wedelt, er wedelt an sich hinunter, hinauf, noch einmal hinab. Kein Körnchen zu sehen. Dann schließt er die Tür, worauf der Kofferraum aufgleitet, welchem er eine Yogamatte entnimmt. Der Kofferraum gleitet wieder zu, und nach beiden Seiten winkend gehen Mann und Matte ab.

Mettmann, Jubiläumsplatz. Auf der Bank einer Bushaltestelle ein junger Mann mit raspelkurzen Haaren, daneben ein hagerer alter mit ballonseidenem Trainingsanzug. Der junge erzählt, dass er nicht mehr jeden Tag Bier trinken könne, am Jubi, dass er auch mit dem Scheiß aufhören müsse, dass er die Bude aufgeräumt habe, dass die Sachbearbeiterin ihm ein Merkblatt mitgegeben habe, ein Merkblatt, sagt er, an das er sich halte. Er spricht von Perspektive und dass er diesmal durchziehen wolle, er wiederholt, durchziehen, er fügt hinzu, er habe jetzt ein paar Jahre die Zügel schleifen lassen, aber das sei nicht das Ende der Welt. Der alte trinkt Bier und nickt und trinkt und raucht und trinkt und nickt und unterbricht und fragt: Haste noch eins?

Odenthal, Johann-Heck-Straße. Ein Mann mit karierten Hosen stampft aus der Tür. Er blickt um sich, dann läuft er auf einen Wagen zu, packt den Griff, rupft aus dem Inneren ein Päckchen Zigaretten. Er steckt sich eine an, pafft drei Züge, hält dann die Luft an und blickt in den Himmel. Als er den Rauch wieder auspustet, ist kaum mehr etwas davon zu erkennen, als hätten sich die Schwaden in seinem Inneren abgesetzt. Zufrieden hustet er zweimal.

Grund, Grunder Schulweg. Eine Frau mit metallisch gewellter Frisur beugt sich über ein Hochbeet voller Salatköpfe. Mit einem Schäufelchen stochert sie vorsichtig große Radien um die Pflanzen herum. Dabei spricht sie in beruhigendem Ton auf die Blätter hernieder, als müsste sie Pferde bändigen, zärtlich reibt sie einen Lollo rosso zwischen den Fingern. Als sie den Beobachter bemerkt, hält sie die Luft an, dreht dann ruckartig den Kopf und führt ihr Gespräch fort wie nach unterbrochener Verbindung.

Mettmann, Goldberger Mühle. Zwei Gestalten waten ans Ufer des Bachs durch den zähen Moorschlamm Routine. Sie sind mit Fremdheit aneinander gebunden, wie das nur Vater und Sohn gelingt. Der Vater trägt Latzhose und einen Pullover mit greller Aufschrift, der Sohn Baseballkappe und darunter fettiges Haar. Am Rand des Wassers angekommen, zücken sie Angelruten und entfernen sich voneinander. Eine Gruppe Enten gleitet tuschelnd davon. Der Sohn wirft die Angel aus, lässt sie zurücksurren, sein Blick milchig vor Pubertät. Wenn der Vater ihm etwas zuruft, unverständliche Silben, dreht er sich mit einer Schwere um, in der Verzweiflung über die Existenz des Elternteils aufglimmt, sie scheint ihm selbst vor dem Beobachter peinlich zu sein. So angeln sie beide eine halbe Stunde lang, gehen ein paar Schritte hin, ein paar her, achten darauf, einander niemals zu nahe zu kommen, keiner fängt einen Fisch. Dann nickt der Vater dem Wasser zu. Er tritt den Rückzug an, der Sohn folgt ihm, ihre Ruten tragen sie auf der Schulter. Die Enten haben sich in der Mitte des Bachs versammelt, das Schnattern eingestellt, sie blicken den beiden staunend hinterher.

Erkrath, Neandertal. Wie ich das Handy an den Computer anschließe, um rasch ein paar Bilder von meinen Ausflügen auf die Festplatte zu ziehen. Wie es mir entgleitet, zwischen die Sofakissen rutscht und auf dem Boden aufschlägt. Wie ich es an seinem Ladekabel vorsichtig wieder aus dem vergessenen Reich unter dem Polstermöbel hervor bugsiere, vorbei an Beinen, über Teppichkanten hinweg. Wie ich es schließlich hervorziehe und mich das Display anblinkt, staubig und staunend wie ein erwachtes Kind.

Mehr von Tilman Strasser

Der Wald

Mir ging’s tatsächlich nur darum, dass die Kinder mit in den Wald können. Auch zur Corona-Zeit. Einmal die Woche. Wir machen hier 120 Waldführungen im Jahr. Und bis zum Sommer sind die natürlich erstmal alle abgesagt. Ich hab ja selbst drei Kinder zuhause und erleb´, wie die sich mühen, diese Zeit zu überstehen. Und da hab ich gedacht: Wie krieg ich vielleicht stattdessen den Wald zu denen?
So kam die Idee. Ich hab jetzt nicht das tollste Handy. Aber eins, was Filme macht. Und ich hab nen Schwager in Hamburg, der ist professioneller Filmemacher. Der dreht – wat weiß ich, wat der dreht: Werbefilme auf der AIDA, Bandvideos, der kann alles. Ich sag: Torben, pass auf, was kost’ das? Wenn ich dir die Aufnahmen schicke und du schneidest die und du sagst mir, dass ich ein schlechter Filmemacher bin, und dann sagst du mir, wie es richtig geht. Nenn mir den Preis! Aber bitte, mach keinen Schwager-Kurs.
Sagt er: Pass auf, mach erstmal ein paar Aufnahmen. Und dann schick mir das. Und dann kam direkt: So geht das nicht.
Du musst mit ´nem Konzept anfangen.
Du musst ´nen Spannungsbogen aufbauen.
Das entscheidende ist der Vorspann. Und der Abspann.
Und denk dran, dass du nicht bei jeder Szene ´nen anderen Pullover anhast! Da werden die Leute ja irre, visuell. Boah.
Und dann musste ich das lernen. So kam das.

Hannes, hampel nicht.

Im Moment brauch ich drei Vormittage, um so einen Film zu machen. Technisch geht’s jetzt schon besser. Am Anfang bin ich einfach mit dem Handy in den Wald. Da hab ich mein Sätzchen gesprochen. Und gedacht: Uh, tolle Szene. Dann bin ich zurück: Ja, warum hat der jetzt nichts aufgenommen? Bis ich mal gelernt hab, diese Einstellung zu aktivieren, dass keiner von außen ans Handy rankommt. Denn wenn einer anruft, dann bricht das ab. Das hat erstmal fünf Filme gedauert.
Und das war auch Frust! Jetzt war das so gut! Und dann musst du das nochmal erzählen! Bin ja auch kein gelernter Schauspieler. Manchmal hab ich auf die falsche Stelle in der Kamera geguckt. Manchmal darf man auch gar nicht reingucken. Bewegen muss man sich. Aber nicht zuviel bewegen! Das sind so Tipps, die man vom Profi kriegt. Was leichter gewesen wär, wär der Profi mit mir vor Ort gewesen. Dann hätte er einmal draufgeguckt und gesagt: Hannes, hampel nicht.
Immerhin, Themen hab ich genug. Denn draußen ist ja immer was los. Das Problem ist eher: Man kann ja nicht 15 Minuten da reinstellen. Da hören die Leute nicht mehr zu. Maximal 6! Als muss man sich beschränken. Wobei mich der Torben beschränkt hat. Der hat gesagt: Ich schneid´ sowieso alles weg. Also beschränk dich schon mal selber.

Checker Tobi, Checker Can, Checker Weißichnich

Jetzt ruft grad hier ´ne Kräuterpädagogin an. Die will wissen, wann wir weiterdrehen. Das muss dann nämlich alles bis Sonntag fertig sein. Damit der Torben das schneiden kann. „Stressfaktor“ ist noch ein bisschen übertrieben. Aber jetzt warten die Leute drauf. Die sagen: Dienstag, wir freuen uns schon wieder. Wenn der Film dann erst Mittwoch kommt? Da ist man plötzlich schon unter Zugzwang.
Und ich sag mal, ich weiß durch den ganzen Kram meine Rundfunkgebühren jetzt noch mehr zu schätzen. Denn klar, auf dem Level, auf dem wir das jetzt machen, geht das schon so irgendwie. Aber für den nächsten Schritt? Da bräuchte man Kamerateam und Skript und Mikro und haste nich gesehen. WEIL: Um so ´nen richtig coolen Film zu machen, wie Checker Tobi oder Checker Can oder Checker Weißichnich. Das kostet! Das ist nicht: Laberlaber, fertig. Das ist ein Aufwand. Hab ich jetzt kapiert. Klar, der Förster Hannes kann so ein bisschen dummes Zeug erzählen. Aber das ersetzt niemals eine gute Produktion.
Außerdem muss ich letztlich mit dem arbeiten, was ich so finde, ne? Und ich guck dann immer. Neulich zum Beispiel, was haben wir gehabt? Da war ein Baum, der musste weg, da waren aber Spechtlöcher drin. Hab ich gesagt: Schade, den möchtest du nicht fällen, ne? Pass mal auf, da schicken wir ´nen Kletterer rein. Der sägt den runter, bis da, wo die Spechthöhlen sind. Und da kann man auch ´nen schönen Film draus machen. Hab ich gesagt. Naturschutz und Wald.

Darfste nicht, darfste nicht

Bisschen Angst hatte ich nur vor dem Lehrvideo über Jagd. Denn klar. Da gibt’s auf der einen Seite die Jägerschaft. Auf der anderen Seite die kompletten Jagdgegner. Da sitzt man schnell mal dazwischen. Und dann die Frage: Wie kannste das in 6 Minuten überhaupt hinkriegen? Du kannst ja ÜBERHAUPT kein Thema in 6 Minuten so erklären, dass nicht wenigstens einer sagt: Da haste aber wat vergessen. Und ich wusst´ überhaupt nicht, ob ich das kindgerecht vermittelt kriege.
Aber ich glaube, es ist dann doch ganz witzig geworden. Und so, dass man zumindest eine Idee davon kriegt: Aha, so ist die Jagd, darum gibt’s die Jagd. Und dann kann man ja diskutieren.
Zumindest hab ich bislang noch keinen völligen Abriss gekriegt. Auch sonst noch nicht. Das würd´ mich natürlich schon erwischen. Ich bin ja nicht so abgebrüht. Wobei alle sagen: Darfste nicht persönlich sehen, darfste nicht, darfste nicht. Gibt immer auch Idioten, die einfach nur Idioten sind.
Im Gegenteil. Die Rückmeldungen sind meistens positiv. Und du kannst ja auch mal ´ne Frage beantworten. Aber wichtig auch, dass das nur der Blick eines Försters auf eine Sache ist, möglichst nicht zu wertend, für Kinder gedacht. Das ist der Anspruch. Dem möcht ich gerecht werden.

Piuuuh! Ein Buntspecht

Kinder sind immer Kinder. Egal, aus welchem Elternhaus die kommen. Ob die arm sind oder reich oder Migrationshintergrund haben oder ob deren Uropa schon hier war – im Wald, da sind die alle gleich. Und machen sich alle gleich gern dreckig. Wenn sie dürfen.
Und sind gleich interessiert an der Natur. Ganz oft ist es tatsächlich sogar so, dass die Kinder, die in der Schule vielleicht gar nicht so klarkommen, in den MINT-Fächern, dass die aufblühen im Wald.
Beispiel. Ich hatte ein ganz auffälliges Kind, ADHS vielleicht, man weiß es nicht. Der wurde im Wald richtig ruhig. Der wuselte zwar immer noch vor sich hin. Aber dann kam er wieder und hatte sich so einen Ring gebaut, aus ´nem Herbstblatt. Und sagt direkt, warte, ich mach noch was. Die Lehrerin wollt´ den schon einfangen, ich sag: alles gut, alles gut. Und der kam mit der nächsten tollen Idee. Waren die anderen Kinder so: DAT WILL ICH AUCH! Sagt der: Musst du so, dann musst du so – und hat denen das erklärt. Und wir stehen am Rand und sagen: Boah. Was ist mit dem Kind los, ne?
Wo wir dann feststellen: Der Lernort Draußen, das Lernen mit allen Sinnen, das fördert Kinder, die mit der Schulsituation nicht so gut klarkommen. Oh, da! Piuuuh! Ein Buntspecht.

Du machst dat schon

Wenn jetzt jemand aus Nicht-Heiligenhaus das schön findet. Der darf’s natürlich genauso gerne gucken! Aber es ging wirklich überhaupt nicht darum, bei YouTube jetzt eine Ego-Präsenz zu haben. Deswegen darf man auch nicht davon ausgehen, dass Förster Hannes jetzt der größte Wald-Influencer aller Zeiten wird. Wie jetzt Peter Wohlleben. Nicht, überhaupt NICHT so gedacht.
Und ist ja auch Blödsinn. Weil, ich halt da zwar mein Gesicht hin. Aber die ganzen Leute drum rum haben daran Minimum so ´nen großen Anteil. Die, die mitspielen, Rat geben, Ton machen, schneiden. Die sagen: Ich brauch noch was für Dazwischen, also geh mal dorthin und film mal das und das im Halblicht. WO? WAT? HALBLICHT? Genau. 
Oder auch die Kohle besorgen. Da wird ja kein Geld mit verdient. Null, null, null, null, null. Und ich werd auch nicht plötzlich Werbung für Rasierwasser machen. Wär auch komisch bei mir, ne? Nee, dat kostet. Und ich hab das Glück, dass der stellvertretende Vorsitzende von unserem Förderverein gesagt hat: Ich kümmer mich. Musst dir gar keinen Kopf drum machen. Geld ist da.
Ob das von Anfang an da war? Weiß ich gar nicht. Aber muss ich auch nicht. Weil der das eben gesagt hat. Und weil ich auch einen Bürgermeister und einen Dezernenten habe, die nicht meinen: Da guckste aber mal auf deine Überstunden. Oder denkste dran, Samstags nicht ohne Beschluss des Personalrats zu arbeiten. Sondern die sagen: Du machst dat schon.
Ich weiß auch nicht, ob´s so geniale Menschen gibt, die das alles alleine hinkriegen würden. Aber ich finde immer: Das Zusammenarbeiten im Team. Das ist so Gold wert. Sei es, dass man selber auf bestimmte Ideen kommt, sei es, dass der andere eine bestimmte Idee überhaupt erst HAT. Die hat er Gottseidank, wie schön ist das denn! Und da bin ich fernab davon, zu denken, ich bin jetzt der tolle Käse hier.

Corona-Milde

Ich stelle fest, dass man jetzt mehr Leute im Wald sieht. Und das erfreut mich. Ich entwickle sogar so etwas wie eine Corona-Milde. Denn eigentlich bin ich ja auch Polizist im Wald. Und wenn ich dann sehe, da haben jetzt so ein paar Kids eine coole Bike-Strecke gebaut, ne? Da müsste ich eigentlich sagen: Leute, habt ihr sie noch alle? Der erste, der mir da entgegenkam, war auch gleich mal noch mein Neffe.
Aber mal ehrlich. Ob die Kinder ein halbes Jahr mehr oder weniger in der Schule waren. Das merken die mit 90 doch nicht mehr! Die werden sich dran erinnern, wie bei ihnen mit der Krise umgegangen wurde. Hat uns der Förster aus dem Wald geschmissen? Oder haben wir die tollsten Bahnen gebaut?
Ich seh´ das an so vielen Enden. Sei es beim Einkaufen! Und wenn da einer dreimal länger braucht, weil er jetzt zum fünften Mal in seinem Portemonnaie … Ach komm. Lass sie. Jeder so, wie er et grade kann. Das würde ich allen Menschen wünschen.
Und der Förster versucht das, indem er sagt: Diese Bike-Strecke? Da muss ich ja jetzt nicht hingucken. Ich fahr da jetzt heute mal oben rum. Und die Natur wird sich auch davon erholen. Ganz bestimmt. Amen.

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Der Tod III

(Teil I)
(Teil II)

Wir übernehmen Verantwortung für das, was wir tun. Und ich hab bisher noch nicht erlebt, dass wir dafür Ärger bekommen hätten. Wir machen den Menschen, die zu uns kommen, klar, dass der Prozess nicht einfach nur ein Abhaken von Punkten ist. Das geht schon damit los, dass der Verstorbene nicht sofort abgeholt werden muss. Wir glauben, dass jeder Ort immer nur der zweitbeste Ort gegenüber dem Zuhause sein kann. Räumen, mit denen ich vertraut bin, in denen ich alles habe, in denen ich mich heimisch fühle. Wir sprechen auch immer davon, der Trauer eine Heimat zu geben.
Wichtig ist: Man kann nichts falsch machen. Alles, was wir tun, haben Menschen in den letzten Millionen Jahren auch ganz gut ohne Bestattungsservice hingekriegt. Es geht darum, wieder vertraut zu sein mit der Materie. Deswegen ist es schwierig, dass manch ein Bestatter sofort sagt: Wir kommen gleich und holen den weg. Gesetzlich hat man hier 36 Stunden, kein Landesgesetz erlaubt mehr als 48, aber unserer Meinung nach können nur die Menschen, die jemanden verloren haben, uns sagen, wann sie soweit sind. Wann sie denjenigen weggeben können.
Wenn das bei jemandem drei Wochen dauert, dann dauert das eben drei Wochen. Dafür kriegt man von keinem Amtsarzt eine Genehmigung, aber es gibt auch genügend Fälle, in denen so etwas offiziell geduldet wurde. Bei unserem Altkanzler Kohl beispielsweise, als dessen Kinder Abschied nehmen wollten, hat es ja ein paar Anläufe gebraucht. Und als es dann klappte, war das vier Tage nach seinem Tod. Wenn jemand nicht eine ganz schlimm ansteckende Krankheit wie Ebola oder Milzbrand hatte, kann da nichts passieren. Und selbst dann herze ich meinen Verstorbenen vielleicht nicht, küsse ihn nicht mehr, aber ich kann ihn trotzdem sehen und berühren, wenn ich mich normal verhalte.

Leichengift ist ein Großstadtmythos

Dieses Leichengift jedenfalls? Ist ein Großstadtmythos. Klar, man sieht auch, wie der Verstorbene sich verändert. Aber nicht, wie das bei CSI, Bones, Walking Dead oder ähnlichen Sendungen ist, wo es vor allem auf gruselige Szenen ankommt. Ich denke an eine Familie aus dem Kreis Mettmann, die haben ihren Vater geschmückt, als der im Sommer gestorben ist. Blumen aus dem Garten geholt, ihn auf einen Tatami gelegt, tolle Bilder gemacht. So hatten sie ihn noch eine Weile da.
Da glauben wir an den Ausspruch unseres Vaters, dass der Tod Lehrmeister zum bürgerlichen Ungehorsam ist. Na, vielleicht ist das auch nicht von ihm, vielleicht hat er sich da beeinflussen lassen. Von Thoreau oder so. Wenn jedenfalls jemand das Gefühl hat, er oder sie braucht Hilfe, kommen wir direkt hinzu. Versorgen noch mal, auch gern mitten in der Nacht, wir kühlen. Wobei wir kein Freund von Einbalsamierungen oder Nähen sind. Wir versuchen auch, nicht zu schminken. Ein Toter soll nicht aussehen, als ob er gerade vom Strand von Ibiza käme.

Bepflanzung im Bestattungshaus. Foto: (c) promo

Nie wieder Frühstücksei

Ich? Ich habe einen Abschluss in BWL. Konnte noch ein bisschen Psychologie studieren, und ich habe eine Ausbildung als Trauerbegleiter, als Myroagoge. Dabei lernt man auch, dass man ein Stück weit wissen muss, was die eigenen Gefühle sind, damit man die anderer zulassen kann. Und sich abgrenzen kann. Ich habe immer gehört, dass unser Vorgänger hier die traurigste Person auf dem Friedhof war, ne? Und ich kenne auch viele Beispiele, bei denen der Bestatter seine Klienten, wir sagen lieber: Gäste, in den Arm genommen hat. Das geht nicht.
Heißt natürlich nicht, dass man nicht nah mit ihnen sein kann, dass da nicht auch eine Beziehung oder gar bleibende Freundschaft entsteht. Doch eben um diese Balance zu halten, denken wir, dass es eine Ausbildung braucht. Zugleich war unser großer Schatz immer, dass wir hier viele Seiteneinsteiger haben. Die kommen aus ganz anderen Bereichen. Wir schicken auch unsere Auszubildenden an tausend andere Orte, wo sie ihren Horizont weiten sollen. 
Ich zum Beispiel habe auch lange im Hotel gearbeitet, als Page. Ich hatte nie so viel Geld frei zur Verfügung wie als Page im Grand Hotel Schloss Bensberg. Doch, das war ganz gut! Und ich habe großen Respekt vor Service seitdem, ich will nie wieder jemandem ein Frühstücksei anbieten müssen. Aber an der Rezeption ging es immer um Gastlichkeit. Und darum geht es bei uns ja auch.

Friedhof am Supermarkt

Es gibt aber natürlich auch viele Unterschiede. Das, was wir hier machen, ist kein Angebot, das ich aus einem Katalog machen kann, ne? Das setzt auch voraus, dass wir das leben. Dass es hier nicht von acht bis fünf geht, sondern dass man ansprechbar ist, bereit ist, auch Sachen, die vorher nicht definiert werden können, mit Menschen anzugehen. Und nicht zu gucken: Oh, das haben wir jetzt aber gar nicht im Leistungsverzeichnis, schade. Und wir denken hier weiter. Neulich durfte ich zum Beispiel auf einer Konferenz sprechen, wo es auch darum ging, ob Friedhöfe überhaupt noch irgendeinen Sinn haben. Oder ob man sie alle zumachen sollte. Alle Friedhöfe haben heutzutage das Problem, dass sie gleich aussehen, dass sie zu viele Regeln haben, sie haben auch ganz große Leerbestände, die müssten alle defragmentiert werden, wie man jetzt sagt. Sind mal als große Gebiete angelegt worden, nach der französischen Besetzung durch Napoleon, nachdem man die Friedhöfe also nicht mehr direkt um die Kirche im Ort hatte. Aber eigentlich müsste der Friedhof heute am Rathausplatz sein, oder am Supermarkt, ne? Mitten in der Gesellschaft.

Wedding Planner? Stelle ich mir gruselig vor

Und zugleich darf das Bestattungswesen nie noch mehr werden wie eine Art Reisebüro. Das nimmt heute schon überhand. Wir empfinden es teilweise tatsächlich wie modernen Ablasshandel, dieses Aussuchen von Särgen – da legt man dann für die Zeit, die man vielleicht nicht mit dem Angehörigen verbracht hat, noch ein bisschen was drauf, da soll dann plötzlich alle perfekt sein. Nee. Da lasse ich mich doch lieber auf die persönliche Erfahrung ein, da begegne ich dem, was mich da erwartet, und mache mich davon frei, dass hier irgendwas perfekt sein muss. Ich kann mir keinen schöneren Job vorstellen.
Und wissen Sie, welchen ich niemals machen wollen würde? Wedding Planner. Mit allem darauf hin arbeiten, dass es dieser eine beste Tag des Lebens wird, und selbst wenn’s klappt, kann es danach nur noch schlechter werden … Also, das stelle ich mir ganz gruselig vor.

Kunstwerk im Bestattungshaus. Das goldene Band verbildlicht einen typischen Lebensweg. Foto: (c) promo

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