Von Eindrücken aus dem Hellweg | Fazit

Ein verregnetes Wochenende in Berlin. Treiben einer Großstadt, kurze Mützen auf dem Hinterkopf, Kleidung aus dem Secondhand Laden. Man nennt es Vintage. Oder shabby-chic. Bioläden, Rennräder, Apple-Computer. Club Mate Flaschen, selbst gedrehte Zigaretten, gekrempelte Hosen, minimalistische Tattoos. Die Vermengung vieler Sprachen aus unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Man ist cool, man ist Weltstadt. Arm aber sexy. Alles Menschen der Kunst. Und der Start-Ups. „Home is where your heart is“ und „the concept of home does not appeal to me, I am global citizen. But Berlin, you know, so cool.“ Ankerlos. Traditionslos. Fähnchen, flatternd im coolen Wind.

Der Hellweg im Kontrast. Voller Kontraste. In der Stadtplanung etwa. Andere Welten hinter der Brücke, bis zur Bahnstrecke, in der nächsten Nachbarschaft. Juristen hier, Arbeiter dort. Kraftwerk rechts, Tempel links.
Strähnchen im modernen Kurzhaarschnitt. Markenzigaretten. Bier aus der Region. Vornamen der Kinder im Unterarm verewigt, andere Vornamen als in Berlin. Man spricht deutsch. Oder westfälisch. Start-ups heißen hier Firmen. Status des Eigenheims, des Autos. Gepflegte Vorgärten – was sollen nur die Nachbarn denken. Carports und Garagen, Gartenzäune.

Nachbarschaften im Hellweg. ©mj

Die Herkunft, die Heimat bestimmt signifikant die Identität. „Hamm ist die geilste Stadt der Welt.“ oder „Heessen ist das Zentrum“. Man hat ja alles was man braucht. Stadt. Land. Fluss. Der Hellweg sehr ländlich. Das Ruhrgebiet nicht weit. Aber doch auch: „Nach Düsseldorf an einem Mittwoch Nachmittag ist mir einfach zu weit. Und zu stressig. Da geht der ganze Tag verloren.“

Während Wissenschaftler*innen auf aller Welt die Frage nach Identität untersuchen, hält sich das Thema hier keine Zigarettenlänge. Identität ein Mosaik mit scharfen Kanten. Deutsch. Westfälisch. Sind schwarz-gelb, respektive blau-weiß. Sind, in sperrigem deutsch: Interessensgemeinschaften. Wie die Gruppe Mazda-Cabrio-Fahrer an einem spätsommerlichen Sonntag Nachmittag, in Kolonne fahrend. Oder die Jungs am Bahnhof, alle mit Bierflasche in der Hand, alle mit dicken Buchstaben auf dem Shirt: SC Hackenstramm.
Cool also schon auch. Nur anders. Und vor allem: local citizens. Fest verankert, verwurzelt. Verankert in Vereinen und Verbänden, in Organisationen, in Traditionen, in Freund*innen und Familien. Alle leben sie hier, seit Generationen. Oder kehren zurück, früher oder später. Von hier kommen sie, hier leben sie, hier bleiben sie. Wollen auch mal reisen. Vielleicht sogar weiter weg. Aber.
Eine Zufriedenheit mit dem, was vor der Haustür liegt. Was die Nachbarschaft hergibt. Was Traditionen vermitteln.

In Städten wie Berlin nur wenig von so etwas, was als nationales Selbstbewusstsein betitelt werden könnte. Im Hellweg immer wieder die Vergewisserung des Selbstverständlichen. Markierungen der Zugehörigkeiten, der Sympathien, der Gesinnungen. Vermutlich selten als Kritik am Anderen gemeint.
Für Außenstehende, für mich, aber implizit. Markierung als Deutsch in Deutschland ist Markierung der Deutungshoheit. Ist Aus- und/oder Abgrenzung. Oder Eingrenzung, Begrenzung des Horizonts, je nach Perspektive und Blickwinkel.

Flaggen im Hellweg ©mj

Wege, Orte, Begegnungen, die meinen Alltag prägen, meist in Großstädten. Mein Rhythmus getaktet von Transportmitteln, von Kommunikation in unterschiedlichen Sprachen, von ‚Projekten‘ hier und dort. Das Verschwimmen von Zeitzonen, von Stadt- und Landesgrenzen. Vernetzung ist das Schlagwort. Ein Grundsatz: Raus aus der Komfortzone. Versuchen, das Andere zu verstehen. Das Fremde. Das Unbekannte. Füreinander sensibel, füreinander aufmerksam machen, miteinander lernen. Das Miteinander ist auffällig im Hellweg.

So fremd mir der Hellweg anfangs war, vielleicht noch ist, so bereichernd waren vier Monate dort, so sehr schätze ich die Vielfalt, die Zufriedenheit, das Miteinander, sei es auch geprägt von lokalen Patriotismen und Rivalitäten, die mir unverständlich sind und bleiben. Das Unverständnis aber nicht relevant.

Relevant ist eine Offenheit. Empathie und Solidarität, im Großen nicht erst jüngst niedergeknüppelt von sozioökonomischen Wandeln, von Differenzen zwischen Stadt und Land, Nord und Süd, von West und Ost.
Was sind Traditionen, während wenige Konzerne zunehmend Denken und Handeln lenken und global normieren?

Vier Monate in einer unbekannten Region, Eindrücke aus Landschaften, aus Stadtgeschehen, Geschichten von Menschen, viele Fässer ohne Boden. Ein Privileg. Reisen bildet. Die Begegnung mit Nachbar*innen aus anderen Regionen. Nachbar*innen im Hellweg, oder Düsseldorf oder Berlin, oder Brüssel, Damaskus, Beijing, Santiago. Die Begegnung mit dem Unbekannten eine Begegnung mit sich selbst. Mikrostrukturen als Exempel für Makrostrukturen.

Zurück in Großstädten erzähle ich Geschichten aus dem Hellweg. Kein Baumarkt, eine Kulturregion in NRW. Auch mir neu. Neue Gedanken zu Heimat, zu Deutschland im Sommer 2017. Neue Rhythmen, Traditionen, Sprachgebräuche.
Im Hellweg, so glaube ich gelernt zu haben, sagt man nicht tschüss. Stattdessen: Bis dahin!

Mehr von Matthias Jochmann

Von schönen toten Räumen (Stadt Kirche Raum)

Der Weg zu meinem Ziel fast idyllisch. Den Shoppingwahnsinn im Rücken. Links ein Park. Auf den zweiten Blick erst Menschen, denen Räume verschlossen blieben oder wurden, die mein privilegierter Alltag sind. Kontrast von ordentlichem Park und ordnungslosem Alltag drogenabhängiger Menschen. Viel öffentliche Sorge um Schein. Und was ist mit dem Sein?

In der Nachbarschaft aber auch: aufgeräumte Häuser, öffentlich und kirchlich getragen. Suchtberatung, Franziskusküche, Seniorenheim, Kita. Räume für ein besseres Sein. In einem dieser Häuser, Tiefparterre, das Büro Frau Frankenbergs. Gemeindereferentin des Pastoralverbunds Hamm, beauftragt, unter anderem, Räume zu öffnen.

Die Nachbarschaft geprägt von den genannten Einrichtungen. Von Menschen unterschiedlicher Hintergründe. Gegensätze, Widersprüche, Konflikte. Was kann da Kirche?
Kirche ’neu denken‘ ist leicht gesagt. ‚Neu denken‘ ist en vogue. ‚Neue Konzepte‘ gewinnen möglicherweise Ausschreibungen. Neue und nachhaltige Strukturen sind diffiziler. Wie der Kirchenraum der Kirche St. Agnes vor sechs Jahren neu gestaltet wurde, ist da immerhin überraschend.

Kirchenraum ohne Altar, mit mobiler Bestuhlung und mit Becken für Ganzkörpertaufe ©mj

Vor der Kirche St. Agnes ein großer Vorplatz. Geeignet zum skaten und Ball spielen. Ist verboten. Aber auch geeignet für: die Nachbarschaft. Die Gemeinschaft. Für Begegnung, außerhalb eines vorbelasteten Raums. So die Grundidee für das Projekt ‚Kirche im Quartier‘, passiert im vergangenen Juli. Grundidee: Ein Raum für die Nachbarschaft, unterschiedliche Möglichkeiten zur Begegnung.

Junge Menschen, aus Kitas, Schulen und Berufsschulen sind tatsächlich gekommen. Tatsächlich entstanden Begegnungen, die sonst wohl kaum stattfänden. Und tatsächlich: viele trauten sich doch nicht. Die drei Stufen auf den Vorplatz als unüberwindbare Hürde. Fragen und Skepsis. Wird hier missioniert?
Respekt, immerhin steht Kirche drauf.

Kein Glaube mehr an uneigennütziges Handeln, an selbstloses Handeln. Heute, 2017.

Im Gespräch mit Heike Frankenberg die Erkenntnis: kein Mangel an Räumen, immerhin in Hamm. Aber doch, das ist nicht Hamm-spezifisch, ein großer Mangel: Mut, Räume und Verantwortung über solche abzugeben, einerseits. Mut zur Übernahme von Verantwortung für einen Raum, andererseits.

Die Stadtzentren von Verbünden und Vereinen verwaist. Die nur in den Vororten. Räume der öffentlichen Begegnungen dominiert von elitären Vorahnungen. Theater und Kirche, zum Beispiel.

Immer weniger Räume in Stadtzentren, die unvorbelastet sind. Ein Mangel. Belastet mit einer Vorahnung davon, dass nichts mehr ohne Eigennutz funktioniert. Belastet mit Geschmäckle. Von Elite, von Deutungshoheit, von Hoheit der Narration. Das Angebot ‚Wir sind für alle da‘ kann zur Drohung werden. Oder zur Worthülse.

Wer sind wir? Wer sind alle? Was ist ein Raum?

Wie sind die analogen Räume gestaltet, die ernsthaft mit den digitalen konkurrieren können? Muss von der Tendenz zu schnellem Chatten, das reale Gespräch ersetzend, gelernt werden? Kann das adaptiert werden? Wer weiß, was andere Menschen brauchen? Expert*innen aller Professionen sind gefragt. Synergien. Transdisziplinarität. Architektur, Soziologie, Informatik, Pädagogik. Usw. You name it. Die große Gefahr: Entscheidungen von oben für unten. Top-Down. Hierarchien. Für, aber ohne die Zielgruppe.

Gut intendierte Räume gebe es viele. Aber es mangele an Konzepten, die Räume zu füllen. Und da das titelgebende Zitat: Es gibt viele schöne, aber eben auch tote Räume.

Gut gemeint ist noch lange nicht gut.

Mehr von Matthias Jochmann

Von Wahlkampf und Bratwurst

Lünen eine Woche vor der Bundestagswahl 2017. Ein elektronisch betriebenes Auto, voll beklebt. Rote Werbung, ein Konterfei, freundlich lächelnd, ein Datum: 24. September. Aufruf, an diesem Sonntag ein Kreuzchen bei dieser alten Volksparteien zu setzen.

Rückbank und Kofferraum voll bepackt. Postkarten, Kugelschreiber, Stofftaschen, Notizblöcke. Souvenirs oder Accessoirs oder ‚Waffen‘ oder Give-aways eines Mitglied des Deutschen Bundestags. In diesem Frühherbst. Zu Ende dieser Legislaturperiode. In einem Wahlkreis, um den noch gekämpft werden muss. Wird er rot? Wird er schwarz?
Ein Mittel für Stimmenfang: Präsenz. Demonstrierte Nähe. Ein offenes Ohr. Für Sorgen, Probleme, Berichte aus erster Quelle. Eine reichende Hand. Zur Hilfe, zum Angebot. Mit Lösungen. Im Ärmel womöglich ein Ass.

Auf dem Weg von Termin zu Termin. Michael Thews strahlt große Ruhe dabei aus. Wenn auch nicht immer wissend, was genau bei seinen Terminen auf ihn zukommt. Ortsverein, AWO, Moschee. Alles an einem Nachmittag.
Ein Erbe des Vortags: Die Stimme etwas tiefer als gewohnt. Der Abend mit Jusos ging länger als geplant. Pläne zu ändern gehört freilich dazu.

Bei einem Ortsverein im Lünener Norden die Atmosphäre eines Gartenfestes. Alleinunterhalter unterm Pavillon, Bierbänke, man kennt sich. Wer hier in der Gewerkschaft ist, ist auch im Ortsverein. Geteilte Geschichte, Kohle und Schweiß (ver)binden. Im letzten Jahrhundert kamen hier alle voll Ruß von der Arbeit. Partei ist hier auch ein sozialer Raum, eine Selbstverständlichkeit. Beziehungen. Freundschaften.
Im Hintergrund: Fahnen und Plakate der SPD. Schulz und Thews, Seite an Seite. Zwei Männer, ein Programm.

Wahlkampf mit Bratwurst (mj)

Zu Kaffee und Kuchen zwei Reden, Ärger und Spott auf gegnerische Parteien, Werbung für das eigene Programm. Beschwörung der Anwesenden: jede Stimme zählt, bald ist wieder Sonntag. Der Sonntag. Bis dahin nicht aufgeben, weiter kämpfen. Die Landtagswahl schmerzt nach. „Wir gemeinsam.“ Mit Genossinnen und Genossen. Aber auch: „Ihr müsst jetzt nochmal richtig arbeiten. Nochmal richtig Werbung machen!“

Aktuelle Zahlen werden beiseite geschoben. Von Prognosen beeinflussen lassen? Überzeugungen sind stichhaltiger. Ihnen entgegen, auf der anderen Seite: Eine Regierung in schwarz, die nur sage: „Weiter so, ist doch gut, wie es ist.“
Und im Nacken eine Furcht. Eine Partei mit blauem Logo als drittstärkste Kraft. Ein Albtraum. Könnte Realität werden.

Nach Kaffee und Kuchen: Bier und Bratwurst. Hoch die Tassen, her mit dem Senf. Ein Foto am Grill. Ganz nahbar. Ganz bescheiden. Ganz von nebenan.

Am Lünener Hauptbahnhof, ein Parkplatz, die Arbeiterwohlfahrt: Bierbänke und Schwenkgrill, Bier aus der Flasche, Wurst auf dem Pappteller, die Gleise nach Dortmund gleich nebenan.

Von nebenan auch die Rentnerin, den Sonntag extra frei gehalten („Ich habe allen gesagt, ich bin zum Grillen eingeladen.“), ihr erstes Gespräch mit einem Delegierten aus Berlin. Austausch auf Augenhöhe, Wahlversprechen. Auf beiden Seiten. „Meine Stimme haben Sie!“

Das deutsche Parlamentssystem greifbar. Die erste Stimme verortet. In einer Person.

Parkplatz-Grillen (mj)

Die Deutschen so einfach? Funktioniert so Stimmenfang? Oder eher Stimmenbestätigung?

Abends geht es weiter für Michael Thews in einer Moschee. Ein Termin, sicher diffiziler, als solche mit Bier und Bratwurst.

Mehr von Matthias Jochmann

Von Ängsten und Islamkritik

Nicht mehr lang bis zur Bundestagswahl. Fußgängerzonen mit Schirmen und Aktionen. Gummibärchen, Kugelschreiber, Luftballons. Plakate mit Bekanntem. Oder Irritierendem.

Ein Gespräch mit Pierre Jung, Kandidat der Alternative für Deutschland im Wahlkreis 145. Rund 90 Minuten, davon vor allem: Kritik am Islam. Islam sei Ideologie. Wie Sozialismus. Islam sei eine Gefahr. Für uns.

Immer wieder eine binäre Gegenüberstellung: wir und die.

Wir, die Deutschen, auf der einen Seite. Sie, die muslimischen, sich nicht assimilierenden Menschen auf der anderen Seite. Wir, die Wütenden, auf der einen Seite. Sie, die Naiven und Gutgläubigen auf der anderen Seite. Wir, die Freiheitsliebenden. Sie, die von den Medien fehlgeleiteten. Wir, die Nachfahren von Kant. Freiheitsliebend. Freiheitlich und konservativ.
Wir, die mit der deutschen Seele, die immer tief in die Materie eintauchen und die Grundsätze hinterfragen. Wir, die arbeiten, hart, bis alle Aufgaben gelöst und alles glatt ist. Der Geist der Freiheit stumpfe schließlich nie ab, bei uns.
Sie, die Südländer, die möglicherweise behaupten, fünf sei eine gerade Zahl. Oder sie, die Muslime, die sagen: So Gott will.

Wir, die nicht gegen Muslime sind. Aber gegen den Islam.

Wir, das sind auch die sich eingeschränkt und bedroht Fühlenden. Eingeschränkt von Tempolimit. Bedroht von anderen, fremden, vor allem dieser einen, dieser muslimischen Kultur. Von der Radikalisierung von Muslimen in Deutschland seit dem 11. September. Von der Scharia, die im deutschen Recht auch ihre Anwendung finde. Bedroht vom Verlust freiheitlicher und konservativer, vor allem aber deutscher Werte. Bedroht, vergewaltigt zu werden. Bedroht, von einer Vergesellschaftung des Islams, die in der Verbreitung der Verschleierungen von Frauen ihren Ausdruck finde. Bedroht von einem Ausverkauf deutscher Werte. Bedroht von einem wirtschaftlichen Bankrott Deutschlands. Bedroht, weil deutsch in Deutschland.

Ein einprägsamer Satz, immer wieder. Eine Antwort auf Bedrohungen und Einschränkungen: „Politik ist für mich Notwehr!“

Meine Gedanken sind Fragen. Meine Fragen wirken surreal, auf mich selbst. Ich glaubte uns alle schon viel weiter. Warum so viel Angst? Vor dem Neuen, vor dem Fremden, vor dem Anderen. Antworten? Nicht zu finden im Wahlprogramm dieser ‚Alternative‘.

Schlagworte vielmehr: Verrohung, Aufspaltung zwischen Arm und Reich. Mangel an Informationen. Mangel an Bildung. Mangel an Empathie. Mangel an (multi-)kulturellen Angeboten, Mangel an gemeinschaftlichen Räumen. Gefühlter Verlust von dem, was einmal Heimat ausgemacht haben könnte. Und: Wiederholung der Geschichte. Kommt der Glaube auf, schlecht dazustehen, wird nach unten getreten. Auf die Schwächeren. Auf das leicht identifizierte Feindbild.

Der schwindende Glaube an die Politik der Mitte. Wer ist schuld? Wer hat wirklich Macht? Nach welchen Interessen wird politisch wirklich gehandelt? Welche Herausforderungen haben Priorität? Gibt es noch Herausforderungen, die individuell zu beantworten sind, ohne neue Fragen aufzumachen?

Die Welt der Gegenwart, die Realität, komplex. Es gibt nicht mehr nur das Hier und Jetzt. Heimat nicht mehr verortbar, nur noch ein Gefühl.

Deutschland im Herbst. Home is where your fear is.

Mehr von Matthias Jochmann

Von Blitzlichtern, Metaphern und einem Stadtfest

Ein Sonntag in Unna, Vormittag. Westlicher Rand des Hellwegs. Um den Bahnhof die trügerische Ruhe einer Stadt dieser Größe. Wie weit ist das Zentrum?

Gut, dass Bahnhöfe hierzulande schon so lange stehen. Im Zentrum. Der Industrialisierung und Friedrich Wilhelm sei Dank. Kontrastierende Erinnerungen aus China: Das heutige die Metropolen verbindende Bahnnetz ist noch keine 30 Jahre alt. Bahnhöfe erinnern in Größe und Architektur an europäische Flughäfen. Selten zentral. Vielmehr sind Zugreisen anzugehen, wie in Westeuropa Mittelstreckenflüge. Anreise, Sicherheitskontrollen, Wartezeit, Transfer.

Transfer in Unna, von Bahnhof ins Zentrum wenige Gehminuten. Die Stadt gefüllt. Alkoholreste vom Vorabend. Musikalische Beiträge mit großem Fremdschampotenzial auf Bühnen mit ‚kecker‘ Moderation. Finanziert von lokalen Marken und Unternehmen. Banner in der Größe von Einfamilienhäusern. Wippende Familien, Junggesell*innen beim Frühschoppen. Oder Vorglühen. Oder Nachglühen. Menschen im Vorbeigehen, gleichgültig.

An den Straßenrändern sich biegende Tische. Spielzeuge, Kinderkassetten (welch Relikt!) und Kleidung. Und Schulränzen. Und Kindersitze. Auf, unter, neben den Tischen. Dazwischen kreischende Kinder, verfolgt von Eltern. Erhitzte Gemüter, rot angelaufene Gesichter.

Mein Weg führt in die Katakomben einer alten Brauerei. Das weltweit einzige Museum für Lichtkunst. Seit 15 Jahren, tatsächlich hier. In Unna. Wer hätte das gedacht. Räume und Installationen von Künstler*innen aus aller Welt. Olafur Eliasson, Mischa Kuball, Christina Kubisch, James Turrell.

Draußen umgeben von menschlichen Wirrungen, von Gerüchen. Zuckerwatte, Bratwurst, Kaffee, Waffeln, Bier. Drinnen, da unten, umgeben von Bewusstseinserweiterungen. Von Licht und Ton. Von Assoziationen, Metaphern, Fragen, Spielereien. Verzerrte Wahrnehmungen, zuckende Tropfen, abgescannte Körper.
Trigger für blitzlichtartige Erinnerungen im Kopf. Gerüche vergessen geglaubter Orte, Begegnungen, Phantasien. Orte, die ich schon bereisen durfte. Orte, die ich bereisen möchte.

Ein Kontrast von Innen- zu Außenwelt. Viele Antworten draußen, viele Fragen drinnen. Affirmation vs Kritik.
Aber auch: Da unten Hochkultur, teuer eingekauft Perfektion. Da draußen das Leben voller Widerstände. Aber auch: Lichtkunst ist niedrigschwellig. Kaum eine andere Kunst, die das schafft. Alle rein da!

In den Nachrichten die Pleite einer Airline. Auswirkungen des Klimawandels, Fluten in Indien, Stürme in Mittel- und Nordamerika. Wahlkampf. Oder etwas, das daran erinnern könnte. Gedanken und Fragen zu Strukturen, zum Wesentlichen an große Herausforderungen abstrakt. Voller Widersprüche. Wie Unna.

Im Kontrast von Lichtkunst und Straßenfest vielleicht ganz einfach erklärbar.

Mehr von Matthias Jochmann

Von Gräben in der politischen Nachbarschaft

Es ist noch etwas Zeit bis zum 24. September. Wenn ein neuer Bundestag gewählt wird. Sollten Prognosen hierzulande besser funktionieren als bei der vergangenen US-Wahl dann. Kanzlerin. Vizekanzler aus NRW. Drittstärkste Partei ganz neu in Berlin. Ein anderer Wind. Andere Gegenspieler. Andere Diskurse.

Eine schmale Straße unweit der Hammer Fußgängerzone. Vereinzelte Restaurants und kleine Läden, sehr ruhig ist es. Auffällig, wie viele Wahlplakate hier hängen. Überraschend nur so lang, bis ich weiß, dass nicht nur ein Büro der Linken, sondern auch der CDU hier zu finden sind. Sie sind Nachbarn, von der Straße getrennt. Straße kann hier auch Graben sein, Fenster Spähmöglichkeit, das Gegenüber weit entfernt und verschlossen. Unerreichbar. Oder unantastbar.

Herr Şengül erwartet mich im Büro der Linken in Hamm. Der Fraktionsvorsitzende der Linken in Hamm kam in sehr jungen Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Politik ist für ihn Pflicht. Aufgrund von Herkunft. Aufgrund eines Verständnisses von Gesellschaft. Aufgrund von Überzeugungen.
Im Mittelpunkt des Interesses ein Nenner, den sich wohl viele, wenn nicht alle Parteien so ins Buch schreiben: der Mensch in der Gesellschaft. In genaueren Betrachtungen dann Differenzen. Selbstverständlich. Doch das der Anhaltspunkt, darüber sollte man reden.

Im Gespräch mit Herrn Şengül aber noch mehr. Das Miteinander in einer Gesellschaft, die Achtung, der Respekt, die Interdependenzen zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dogmatisches Denken. Sicherheit als unerschöpfliches Wahlkampfthema. Der Verlust von Empathie, von Solidarität.
Selbstverständlich heißt es Wahl-Kampf. Selbstverständlich ist es Konkurrenz. Selbstverständlich ist Parteizugehörigkeit ein Label, ein Urteil. Mittlerweile auch selbstverständlich: Bildung wird zum Urteil. Wohnort, Geschlecht, Sozialisation. Unterscheidungen zwischen Urteil und Einschätzung essentiell.

Was ist Nachbarschaft, Herr Şengül? Aufeinander achten, füreinander sorgen, miteinander leben. Das Gespräch mit der Sitznachbarin im Bus, das Fest in der Straße, die gemeinsame Lösungsfindung im Rat der Stadt Hamm. Bescheidenheit und Offenheit. Taktgefühl. In der direkten Nachbarschaft wird nicht über Politik gesprochen, da sind wir alle Bürger. Nachbarn.

Das höchste Amt in der Demokratie das des Bürgers.

Meine eigenen politischen Überzeugungen auszuklammern versuchend: Begeisterung für einen Menschen, der sich für andere Menschen einsetzt. Der konstruktiv streiten möchte. Der von und mit anderen lernen möchte. Der andere Meinungen hören, vielleicht verstehen möchte. Ein Mensch der Prinzipien. Auch, wenn es um unangenehme Themen geht. Auch, oder besonders dann, wenn viele Perspektiven auf eine Gegebenheit relevant sind.

Warum Hamm, Herr Şengül? Hier kennt man sich noch.
Die Nachbarn von gegenüber grüßen mittlerweile auch. Hin und wieder. Immerhin. Nach einigen Jahren.

Die Stadt füllt sich derweil mit Wahlplakaten. Mit Versprechen, mit Phrasen. Im Flimmerkasten ein ‚Duell‘ der beiden Spitzenkandidat*innen. Altbekanntes. Schwarz-rote Perlen.

Mehr von Matthias Jochmann