Survival Gardening
25. Oktober 2017
Ort: Alte Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine | Datum: Fr, 06.10.2017 | Wetter: Reste des Sturms auf den Wegen, regnerisch, 9°C
Die Regale sind leer. Scheiben blind. Scherben und Verpackungsmüll knirschen unter den Sohlen. Plastikfetzen und Blätter rascheln über gesprungene Fliesen. Trübes Tageslicht dringt bis zum Kassenbereich, vielleicht noch bis zu den ersten Regalreihen. Die Kühlabteilung, tief im Inneren, im Taschenlampenlicht in Streifen zerschnitten. Es ist still. Kein Radio, keine Durchsagen, kein Summen der Kühltheken, kein Rauschen der Gefriertruhen. Was tun, wenn das System zusammenbricht? Wenn Supermärkte leer, Cafés und Restaurants verlassen, ausgeräumt sind. Wenn Dosen und in Plastik verschweißte Vorräte langsam zur Neige gehen.
Seit April diesen Jahres arbeiten Swaantje Güntzel und Jan-Philip Scheibe auf der Ökonomie von Kloster Bentlage. Hier haben sie auf etwa 100 qm ihren Krisengarten angelegt – auf Basis eines Gemüsesaatgut-Bevorratungspakets, das eine vierköpfige Familie im Katastrophenfall ernähren soll. Ist fruchtbares Land und sauberes Wasser gefunden und gesichert, soll dieses Paket dem Überleben dienen. 20 reinsaatige Samen, verpackt in 20 Tütchen. Erbsen, Bohnen, verschiedene Kohlsorten, Kürbis, Karotten, Zwiebeln, Mais, Salat. An Wissen allein das, was auf der Rückseite der Packungen steht. Nichts über die Beschaffenheit des Bodens, die Schädlinge oder die Witterung.
Ein europaweites agierendes künstlerisches Projekt begibt sich in bekannte Gefilde – nach Westfalen.
Einen Moment lang, einen Augenblick, Anfang des Sommers, im Juli, war alles perfekt, so Philip. Da hätte man die Zeit anhalten wollen. In der „Grünen Blase“. Bis auf die Paprika gehen alle Samen im selbst angelegten Garten der alten Ökonomie am Kloster Bentlage an. Neben dem Krisengarten die Auseinandersetzung mit konkreter Landschaft und Natur. Ein Dekodieren von Texten, ein Erfahren des lebendigen Archivs. Begegnung mit den BewohnerInnen vor Ort. Daraus entwickeln Swaantje und Philip Ideen für Interventionen im öffentlichen Raum. Performances, die Traditionen und Geschichten einer Landschaft und ihrer BewohnerInnen reflektieren. Sie aufrufen und befragen. Mit vergleichendem Blick in die Gegenwart.
Am Gartenzaun, der aus herumliegenden Zaunelementen und Holzlatten selbst gezimmert wurde, kommt es während des Survival Gardening Projektes immer wieder zu Begegnungen mit den Menschen aus der Region. Mit ihrer Beziehung zur Natur, zur Scholle. Und, was daraus hervorgeht. Hervorkommt. Über – Lebensmittel. Essen. Gemeinschaft. Die Versorgung aus dem eigenen Nutzgarten ist hier noch Teil des Gedächtnisses. Ein Zurück dahin? Nicht vorstellbar. Keine romantische Verklärung oder Landlust-Ästhetik, sondern vor allem die lebendige Erinnerung an – harte Arbeit. Ein Vermissen – ja. Ein Zurück – nein.
Wann schlug die Selbstversorgerkultur zur Supermarktkultur um?
Vor dem Ersten Weltkrieg waren Gärten zur Selbstversorgung vor allem bei der Arbeiterschaft verbreitet. Erst während des Krieges setzte sich der Garten auch in der Bürgerschicht durch. Wer während des Zweiten Weltkriegs einen Garten hatte, erfuhr zwar Mangel und Entbehrung – aber keinen Hunger. Wer keinen hatte – Philip und Swaantje geben wi(e)der: Erinnerungen an Hamsterfahrten. Städter aus dem Ruhrgebiet. Butter in der Kleidung versteckt. Nachts. Die Sperren umgehend. Ein Leuchten nach noch unreifen Beeren. Ein Suchen nach den letzten zurückgelassenen Bohnen im Kraut auf dem Feld. Tauschgeschäfte durch den handbreit geöffneten Türspalt. In Krisenzeiten ändert sich das Verhältnis von Mensch und Natur. Eine (Wieder)Entdeckung scheinbar vergangener Kulturtechniken. Der eigene Nutzgarten. Beeren und Maronen sammeln. Giersch und Brennnessel als Nahrungsmittel. Einkochen und einlegen. Rote Beete färbt den Stoff.
Die Performances und Installationen brechen Bekanntgeglaubtes auf. Leuchten neue Räume aus. Bei manchen PassantInnen streifen sie die Wahrnehmung nur. Oder aber treffen mitten hinein. Fordern Reaktionen heraus. Stoßen an. Treffen auf Unverständnis bis Ablehnung, aber auch auf Neugierde und Interesse. Was nimmst du mit? Was macht das mit dir? Sie liefern keine Antworten. Sie stellen Fragen. Tragen sich fort. Bis nachhause gehe ich noch ein paar Schritte. Den Rucksack voll mit Maronen. In Händen einen kopfgroßen Kohlrabi aus dem Krisengarten. Es nieselt. Mir kommen fünf Personen entgegen. Drei von ihnen stellen Blickkontakt her. Drei von ihnen lächeln mich an.
Wo stehen wir heute im Verhältnis zur Natur? Schützen, konservieren, kontrollieren?
P.S.: Es gibt Grünkohlsorten, die keinen Frost benötigen. Es gibt Kohlrabisorten, die nicht verholzen, wenn sie größer als faustgroß werden. Es stimmt. Ich habe sie probiert.