Von Wahlkampf und Bratwurst

Lünen eine Woche vor der Bundestagswahl 2017. Ein elektronisch betriebenes Auto, voll beklebt. Rote Werbung, ein Konterfei, freundlich lächelnd, ein Datum: 24. September. Aufruf, an diesem Sonntag ein Kreuzchen bei dieser alten Volksparteien zu setzen.

Rückbank und Kofferraum voll bepackt. Postkarten, Kugelschreiber, Stofftaschen, Notizblöcke. Souvenirs oder Accessoirs oder ‚Waffen‘ oder Give-aways eines Mitglied des Deutschen Bundestags. In diesem Frühherbst. Zu Ende dieser Legislaturperiode. In einem Wahlkreis, um den noch gekämpft werden muss. Wird er rot? Wird er schwarz?
Ein Mittel für Stimmenfang: Präsenz. Demonstrierte Nähe. Ein offenes Ohr. Für Sorgen, Probleme, Berichte aus erster Quelle. Eine reichende Hand. Zur Hilfe, zum Angebot. Mit Lösungen. Im Ärmel womöglich ein Ass.

Auf dem Weg von Termin zu Termin. Michael Thews strahlt große Ruhe dabei aus. Wenn auch nicht immer wissend, was genau bei seinen Terminen auf ihn zukommt. Ortsverein, AWO, Moschee. Alles an einem Nachmittag.
Ein Erbe des Vortags: Die Stimme etwas tiefer als gewohnt. Der Abend mit Jusos ging länger als geplant. Pläne zu ändern gehört freilich dazu.

Bei einem Ortsverein im Lünener Norden die Atmosphäre eines Gartenfestes. Alleinunterhalter unterm Pavillon, Bierbänke, man kennt sich. Wer hier in der Gewerkschaft ist, ist auch im Ortsverein. Geteilte Geschichte, Kohle und Schweiß (ver)binden. Im letzten Jahrhundert kamen hier alle voll Ruß von der Arbeit. Partei ist hier auch ein sozialer Raum, eine Selbstverständlichkeit. Beziehungen. Freundschaften.
Im Hintergrund: Fahnen und Plakate der SPD. Schulz und Thews, Seite an Seite. Zwei Männer, ein Programm.

Wahlkampf mit Bratwurst (mj)

Zu Kaffee und Kuchen zwei Reden, Ärger und Spott auf gegnerische Parteien, Werbung für das eigene Programm. Beschwörung der Anwesenden: jede Stimme zählt, bald ist wieder Sonntag. Der Sonntag. Bis dahin nicht aufgeben, weiter kämpfen. Die Landtagswahl schmerzt nach. „Wir gemeinsam.“ Mit Genossinnen und Genossen. Aber auch: „Ihr müsst jetzt nochmal richtig arbeiten. Nochmal richtig Werbung machen!“

Aktuelle Zahlen werden beiseite geschoben. Von Prognosen beeinflussen lassen? Überzeugungen sind stichhaltiger. Ihnen entgegen, auf der anderen Seite: Eine Regierung in schwarz, die nur sage: „Weiter so, ist doch gut, wie es ist.“
Und im Nacken eine Furcht. Eine Partei mit blauem Logo als drittstärkste Kraft. Ein Albtraum. Könnte Realität werden.

Nach Kaffee und Kuchen: Bier und Bratwurst. Hoch die Tassen, her mit dem Senf. Ein Foto am Grill. Ganz nahbar. Ganz bescheiden. Ganz von nebenan.

Am Lünener Hauptbahnhof, ein Parkplatz, die Arbeiterwohlfahrt: Bierbänke und Schwenkgrill, Bier aus der Flasche, Wurst auf dem Pappteller, die Gleise nach Dortmund gleich nebenan.

Von nebenan auch die Rentnerin, den Sonntag extra frei gehalten („Ich habe allen gesagt, ich bin zum Grillen eingeladen.“), ihr erstes Gespräch mit einem Delegierten aus Berlin. Austausch auf Augenhöhe, Wahlversprechen. Auf beiden Seiten. „Meine Stimme haben Sie!“

Das deutsche Parlamentssystem greifbar. Die erste Stimme verortet. In einer Person.

Parkplatz-Grillen (mj)

Die Deutschen so einfach? Funktioniert so Stimmenfang? Oder eher Stimmenbestätigung?

Abends geht es weiter für Michael Thews in einer Moschee. Ein Termin, sicher diffiziler, als solche mit Bier und Bratwurst.

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15:23 Uhr, Lünen Horstmarer See*

Vor dem Kiosk am Horstmarer See stehen mehrere Menschen. Zwei junge Frauen tragen je einen violettfarbenen Flipflop, die eine am rechten, die andere am linken Fuß. Sie haben ihren je anderen, flipfloplosen Fuß auf den beflipflopten gestellt. Gleichmütig schwanken sie zwischen freiem Stand und Kioskwand. Ein Mädchen springt barfüßig vor der Eiskarte auf und ab und ruft: „Papa heiß, Papa heiß!“ Papa zahlt in weißen Socken und weißen Turnschuhen mit einem 5 Euro-Schein das Cornetto-Eis für die Kleine und nimmt der Kioskmitarbeiterin eine Schale Pommes Schranke ab.

„Ich wollte mal fragen, wie das hier mit den Toiletten ist“, eine Frau drängt sich an den Wartenden vorbei und gibt dabei eine leere Flasche Cola ab, Pfandrückgabe 20 Cent. Die Kioskmitarbeiterin schnauft, sagt: „Da muss ich Ihnen aufschließen.“ Sie verlässt den Kiosk an der linken Seite, kommt nach vorne, geht mit der Frau an der Frontseite des Gebäudes entlang und bleibt vor einer unscheinbaren, holzvertäfelten Tür stehen, an der ein schmales Messingschild mit dem Piktogramm einer Frau angebracht ist. Die Mitarbeiterin schließt auf und sagt zu der Frau gewandt: „Aber nachher die Tür wieder zu ziehen.“ Dann kehrt sie in ihren Kiosk zurück. Vor der Toilettentür bildet sich augenblicklich eine eigene Warteschlange. Auf einem Schild neben der Toilettentür steht „Toilettenbenutzung 30 Cent“. Auf einem anderen im Inneren: „Die Toilette ist keine Umkleidekabine“. Rechts neben dem Waschbecken ein Hinweis über dem Papierspender: „Bitte kein Papier in die Kloschüssel, die Toilette verstopft sonst.“ Es gibt nur ein Klo, niemand zahlt 30 Cent.

Der Horstmarer See ist an eine Parkanlage im Seepark Lünen angegliedert, das ist von einem Schild abzulesen, auf dem auch die Park-Verordnung geschrieben steht. An den Innenseiten des Sees sind geriffelte Betonwände zu erkennen, im Wasser bilden Bodengewächse eine natürliche Nichtschwimmer-Grenze. Mehrmals ist Kreischen zu hören, „Iiih!“ und „Algen!“, dann wird geräuschvoll planschend zurückgeschwommen. Bis zur wenige Schwimmminuten entfernten Insel im See schaffen es nur Menschen in aufblasbaren Booten und ältere Frauen mit funktionskurzen Haaren. Stockenten ziehen eng an den Schwimmenden vorbei, das ultraviolette Spektrum des Gefieders ist eindeutig auszumachen. Kanadagänse gibt es auch, sie halten sich in Ufernähe auf.

Der See liegt still, die Anlage gefällt sich in ihrer Symmetrie. Fahrradausflügler fahren an den Liegenden vorbei, mehrere in gleicher Entfernung zueinander angebrachte Schilder mit Hunde-Piktogrammen am Weges- und Liegerand sind mit einem roten X versehen. Dazwischen der Hinweis: „Das Baden am See erfolgt auf eigene Gefahr“.

Die schattigen Plätze unter den wenigen, jungen Bäumen sind schon lange belegt. Zwischen zwei Büschen findet sich ein u-förmiges Muster aus weißen Rosenblütenblättern, davor hockt ein sehr junges Paar. „Schatzi, du sollst nicht ziehen, du sollst stramm halten“, sagt sie, während sie eine Decke zusammenrollt, die er auf den Boden drückt. „Schatzi, stramm!“ Schatzi guckt starr auf seine Hände. Ein kleiner, dicht befellter Hund läuft durch das Bild. Vom DRK-Kindergarten her nähern sich erste Großfamilien mit Grillutensilien, Essenstüten, Klappstühlen und Getränkeflaschen. Es riecht süßlich. / 17:01 Uhr



Ein Ausflug in die Kulturregion Hellweg:
>Seepark Lünen<
Klein, aber fein. ©mhu
Der Horstmarer See im Seepark Lünen: klein, aber fein und auf diesem Foto vollkommen überzeichnet. ©mhu
*Wenige Kilometer von Dortmund entfernt, erstreckt sich der 63 Hektar große Seepark in Lünen, der – aus Sicht des Ruhrgebiets – das grüne Tor zur Kulturregion Hellweg ist. Ein Ausflug lohnt sich immer, denn  das ehemalige Gelände der Zeche Preußen wurde 1996 für die Landesgartenschau umgestaltet und renaturiert – und ist beliebtes Naherholungsgebiet.
Der vordere Teil des Horstmarer Sees ist als Badesee ausgegeben. Die Preußenhalde gibt es noch. Man kann sie über einen ausgeschilderten Rundweg erreichen und besteigen. Im Horstmarer Loch, das heute auch als natürliches Amphitheater für Veranstaltungen genutzt wird, kann man sich in Höhenunterschieden messen. Kunst gibt es und eine direkte Anbindung an das Schloss Schwansbell sowie die Innenstadt von Lünen, was die Lüner rege nutzen. Auch gehört der Seepark zur Route Industriekultur und dem Emscher Landschaftspark.

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