Von Ritualen am Stadtrand

Weiter in den Osten Hamms. Gefühlt die Stadtgrenze, oder weit darüber hinaus. Entlang des Kanals Industriehallen und Felder, Höfe und Güterverkehr. Die Löschung von Schiffen, Berge von Sand, Kohle, von mir unbekannten Rohstoffen. Das Kraftwerk am Horizont immer größer. Der Horizont verschiebt sich, füllt sich mit Wolken und Windrädern.

Wo es kaum mehr öffentlichen Nahverkehr gibt und die Straßenschilder Anlass zur Vermutung geben, dass Hamm hier ein Ende hat. Entfernt rauscht die A2, hin und wieder ein Auto auch hier, die seltsame Stille eines Gewerbegebiets. Trockene Ankündigung, eine Überraschung hier: Links Uentrop West I, rechts ein Hindu-Tempel. In direkter Nachbarschaft zu Lagerhallen und Gebrauchtwagenhändlern der Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel – der zweitgrößte hinduistische Tempel Europas.

Unerwartete Richtungsweisungen in Hamm-Uentrop – ©mj

Der Respekt, das erste Mal einen geweihten Ort einer unbekannten Religion zu betreten. Erinnerungen an Synagogen in Israel, an Moscheen in Palästina oder Sarajevo, an buddhistische Tempel in Ostasien. Kunst im Detail, in Gesängen, in Architektur, Malereien und Skulpturen, viele Gründe, sich mit diesen eigenen Narrationen zu beschäftigen. Wenn auch gänzlich unreligiös fangen mich Rituale ein, sie fehlen zunehmend im Alltag. Besondere Orte der Gemeinschaft, mit Konventionen, die man Vorschriften nennen mag. Die Diskrepanz zwischen den Glaubensrichtungen riesig und offensichtlich, eine Gemeinsamkeit aber oft: Stille und Ruhe. Ein anderes Zeitempfinden. Pure Orte.

Der Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel und seine Nachbarschaft – ©mj

Draußen also Gewerbegebiet, gänzlich andere Rhythmen, eine andere Sprache im Innern. Zwei Priester und ein Angestellter des Tempels in traditionell tamilischen Gewändern. Freie Oberkörper, Schmuck, Farbmarkierungen im Gesicht. Mir nicht sehr vertraute Gerüche und Töne.
Eine tamilische Familie neben mir folgt dem Gottesdienst (unterschiedlich) aufmerksam, die vier folgen dem Priester in festgelegter Reihenfolge, von einem Schrein zum nächsten: Erst ganz vorn in der Mitte, dann hinten links, dann wieder vorn in die Mitte, dann wieder nach hinten. Und so weiter. Ich frage mich, wie diese Prozession aussieht, wenn hier mehr als fünf Gäste durch die Halle wandern. Später lese ich von vielen Tausenden zu entsprechenden Anlässen.
Zu etwas übersteuerter Musik vom Band: Rituale mit Gesang, mit Gaben. Obst und Milch. Feuer und Blüten. Eine andere Welt.

Der Ausblick vor der Tür ein extremer Kontrast. Ein protzendes Kraftwerk zur linken. Ob es sich noch auf Hammer Terrain befindet?

Kraftwerk am Stadtrand – ©mj

Schräg geradeaus riesige Hallen mit Werbespruch zum absurden Schenkelklopfen. So groß wie andernorts Stadtviertel sammeln sich Gewerbe zu Fleischproduktion und -verarbeitung. Gelagertes Fleisch getöteter Tiere ausgelagert am Rande der Stadt. Vor den Toren der Stadt Totes und Verzehrbares. Verehrbares. Kraftwerk. Tempel. Ein mythologischer Nachhall. Eine Phantasie, die noch länger nachklingt.

Marketing zur Fleischverarbeitung in Hamm-Uentrop – ©mj

Beruhigend zu wissen, dass der Tempel sich aus eigenen Stücken hier in Hamm-Uentrop niedergelassen hat. Ein Musterbeispiel dafür, was Nachbarschaft sein kann. Überraschend, divers, gegensätzlich. Absurd. Und schön.

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Von Familienstrukturen und einem Feuerwehrmann

Mein Termin findet im Hammer Osten statt. Eine schöne, aufgeräumte Wohngegend. Hecken und Tore, die Heime heim-lich machen.

Herr Winters empfängt mich an seinem Esstisch. Glaube ich. Ich wähne ich mich zwar nicht falsch, zwischen Küche und Wohnzimmer. Doch hier ist auch: Schaltzentrale, Arbeitsplatz, Knotenpunkt. Nicht nur zu amtsüblichen Arbeitszeiten. Eine Standleitung fast. Ob Nacht, ob Urlaub.
Anfangs war Herr Winters Pädagoge. An einer Förderschule in Kontakt mit heranwachsenden Menschen, für die ein Leben nach den meisten Richtlinien in Deutschland mehr als herausfordernd ist. Wo Gesellschaft in geradlinigen Kästchen organisiert ist, sind Menschen wie Herr Winters beauftragt, nicht erkennbare Muster zu entschlüsseln, geradlinige Kästchen und Verworrenes einander vertrauter zu machen, Schnittflächen zu finden und auszubauen.
Dann aus dem Schuldienst heraus, hinein in die heimische Schaltzentrale. Seit einigen Jahren ist Herr Winters Sinti- und Roma-Beauftragter der Stadt Hamm; an diesem nicht ganz gewöhnlichen Arbeitsplatz, aber auch immer wieder vor Ort in Hamm. Wenn konträre Systeme aufeinanderprallen, aber miteinander reden und arbeiten müssen, wird aus dem Beauftragten: Ansprechpartner, Kontobevollmächtigter, Helfer, Mittler, Feuerwehrmann. Und vieles mehr, für manche so etwas wie ein außerordentliches Familienmitglied; die größtmögliche Anerkennung dort, wo Familie über allem steht. Über Richtlinien, über konsensuellen Erwartungen: von Schulen und Arbeitgebern, von Ämtern und Behörden, von Gesellschaft.

Familie im Inneren ein Ort der Heim-lichkeiten. Als Rückzugsraum. Verwandschaft, die über Jahrzehnte, Jahrhunderte Zugehörigkeit bedeutet. Schutzraum vor Bedrohungen. Vor Verfolgung. Vor rigiden Kästchen. Identität und Zugehörigkeit, weit über das hinaus, was Pass oder aktueller Wohnort aussagen.
Simpel und von außen betrachtet aber auch: Un-heim-lich. Verschlossen und damit mysteriös. Potenzial für Widerstand. Für Nonkonformität.

Familie als möglicher Raum im Raum der Nachbarschaft. Lokale Nachbarschaft als Raum in einer Gesellschaft. Raum im Raum im Raum. Matrjoschkas. Vom Individuum bis hin zur Weltgemeinschaft; unmöglich, voneinander zu lösen.
Erinnerungen an China: Nach Kulturrevolution, rasantem Aufstieg und Ein-Kind-Politik hat Familie einen besonderen, eigenartigen Stellenwert in China. Familie ist Faktor des Wettbewerbs. Status, Vorsorge, Investition. Viele kleine heim-liche Mikrokosmen, gemeinsam einen Makrokosmos formend. Familie ist Staat, Staat ist Familie. Volks-republik, könnte auch Familien-republik heißen. Die Organisation des Staats schlägt sich in Familienstrukturen nieder.
Die Kulturregion Hellweg ist nicht China. Dort 56 Minderheiten, eine Partei. Hier im Hellweg, in Hamm: viele Parteien, eine Mehrheit, im oben beschriebenen: eine Minderheit. Konflikte schwelen hier und dort, meist nur Missverständnisse, vermeidbar.

Mehr als Missverständnisse derweil zwischen Atommächten in Ostasien, Ohnmacht in Katalonien, Dispute zwischen Bosporus und Elbe. Mangel an Mittlern, an Feuerwehrmännern (oder besser: -frauen!).
Ablenkung nach der Sommerpause kehrt derweil zurück in deutsche Fußballstadien und Fernseher. Welch ein Glück, das macht die Wahrheit auf dem Mittelmeer, in den USA, in Ankara und den anstehenden (Nicht-?)Wahlkampf doch gleich erträglicher. Und auch das Wetter gibt mit seiner Wechselhaftigkeit wieder reichlich Gesprächsstoff für typisch deutschen Smalltalk.

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Von Kristallen. Und Kultur.

Ankunft in Bad Sassendorf, Freitag Morgen. Erste Erwartungen werden mit dem ersten Eindruck bestätigt. Ein kleiner Bahnhof. Gegenüber des Gebäudes, in dem vermutlich einmal Fahrkarten gelöst werden konnten, Wohnhäuser mit Vorgarten und Carport. Ein Briefträger, Menschen, die Zeit und Ruhe haben. Für sich, für ein Pläuschchen mit der Nachbarin, für Ordnung und Sauberkeit. Für die Tageszeitung, die Unruhe stiftet.

Unweit dieses Orts der Ruhe die Bad Sassendorfer Salzwelten. Freundlicherweise wurde ich dorthin eingeladen, hier vorab: Keine Erwartungen, ich habe keine Vorstellung davon, was die Salzwelten mir nahebringen könnten. Ein Museum, das sich ausschließlich einem widmet: Salz. Spannend? Ja!

Frau Hartmann und Herr Melcher geben mir den Luxus einer Privatführung. Als Bruder und Schwager von Chemikern ist mir die Komplexität dessen bewusst, was in Deutschland auf keinem Frühstücksei fehlen darf. (In China übrigens sucht man Salz in der Küche oft vergebens.) Und doch bin ich überwältigt. Alltägliches und vermeintlich urvertrautes wird vielschichtig und komplex. In Bad Sassendorf werden mir Vorkommen, Gewinnung, Zustände, Verarbeitung, Verwendung anschaulich gemacht, tatsächlich be-greif-bar.

Salz im chemischen Modell. Unter dem Mikroskop in differenten Aggregatzuständen. Psychedelische Erfahrungen. Beispielhaft für die Unergründlichkeit des Bekannten. Alles ist bekannt. Alles ist fremd. Faszination für das Fremde. Ob Salz, ob Region, ob Kultur.

Modell NaCl – ©M. Bahr
Kristallwachstum ©mj

Salz unter dem Brennglas eines Mikroskops. Im chemischen Modell. Metaphorisch für mein Thema im Hellweg: Nachbarschaft.
Was ist Nachbarschaft, was kann es sein, in welchen Modellen zeigt es sich?

Das, was ich als Grundgerüst für Nachbarschaft erachte, ein konkreter Raum, in dem sich mindestens zwei Parteien begegnen. Zwei essentielle Säulen Engagement und Kultur.

Besonderes Engagement ist Ehrenamt. Herr Melcher, seit einigen Jahren in Pension, ist ehrenamtlicher Museumsführer der Salzwelten. Er vermittelt mehr als nur Informationen. Mehr als das, was auf weißen Karten neben Exponaten steht. Mehr als nur Hintergrundwissen. Begeisterung. Hingabe. Spaß.
Menschen, die mit viel Aufwand historische Dokumente ausfindig machen, auswerten, weiter verwertbar machen, sind schwer zu finden und kaum zu bezahlen. Herr Melcher in Bad Sassendorf: nicht schwer zu finden und unbedingt kennenlernenswert. Ehrenamt als große und selbstlose Bereicherung. Ein Vorbild.

Das Museum in dem kleinen Kurort überrascht mit moderner Architektur und neuen Medien. ‚Was hat das wohl gekostet?‘ Ein Gedanke für drei Sekunden, zugegeben.
Aber: Kultur muss kosten. Um zu überraschen. Neue Perspektiven und Fragen. Mehr als Luxus. Frei von Effizienz. Museen, Kunst, Theater, Parks, Literatur. Egal ob Hamburg, Magdeburg, Mülheim oder Bad Sassendorf. Nicht immer relevant eine Gegenüberstellung von Ausgaben und Einnahmen bzw. Besucherzahlen.
Bundestagswahlen in sechs Wochen. Verhandlungen für oder wider rote Zahlen. Für oder wider Effizienz, Engagement, Kultur.

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von Fremde und Fachwerk

Sommer 2017 in Westfalen, Donnerstag Vormittag. Wind, graue Wolken, vereinzelte Tropfen.

Der Weg aus dem Bahnhof in Lippstadt führt mich in. Wie könnte das genannt werden. Ein Block, ein großes Haus. Darin: Ketten von Großmärkten für Mode oder Elektronik. Und im Zentrum: Leere. Der Eingangsbereich eine große leere Halle, nur an den Seiten die Zugänge zum Konsum. Ein leeres Zentrum. Das wünsche ich mir häufiger.
Aus der Leere geht es in Aufzüge, wohin auch immer sie führen, so groß wie in Großmärkten. In Wolkenkratzern. In Schlachthöfen.

Die, wie ich finde, hellste, sauberste, größte Bahnunterführung Deutschlands führt zu Fachwerk und schnell in das, was das Zentrum Lippstadts sein muss. Rathaus, Stadtmuseum, Kirche. Vorbereitungen auf ein Rathaus-Festival, dominiert von Bierständen. Wie könnte es anders sein. Warstein nicht weit.
Weiterhin Fachwerk und ein Eindruck: Wie schön diese Stadt. Ein nächster Eindruck: Wie absurd. Fachwerkhäuser voll von Plastik, von Elektronik aus Fernost, von Unnützem. Auf einem Querbalken die Betitelung des Hauses: Event-Lounge. Davor Luftballons in unterschiedlichen Formen und Designs. Vom Wind malträtiert, ein Event für sich. Oben ein Bierkrug, darunter zwei Prinzessinen in Pink. Daneben die Deutschlandflagge. Dann das deutsche Polizeiauto. Welch ein Fünfsatz. Sommer 2017 in Westfalen. Bald sind Wahlen.

Event-Lounge Lippstadt. ©mj

Unweit des Stadtkerns der Park, wunderschön. Ich denke an Auen anderer Großstädte. An die Isar. Paddelnde Familien, alle in einem Boot, ein großes Treibenlassen. Das Ankommen steht nicht im Vordergrund.
Irgendwo im Park ein Fahrrad, das leicht schräg am Wegrand steht. Die Besitzerin lächelt, sich entschuldigend für diese Unsitte.

Der Weg führt erst durch Industrie, die Stadt bereichernd, dann durch gebauten Wohlstand. Häuser, die einander ausstechen wollen. Keine Unsitten, Ordnung, wohin das Auge reicht, muss sein. Dazwischen eine kurze Ahnung von Unordnung: Menschen, denen ich einen anderen kulturellen Herkunft unterstelle. Menschen, denen ich einen erschwerten Zugang zu Bildung und Wohlstand unterstelle: Amt für Soziales. Ausländeramt. Passiert hier Nachbarschaftshilfe? Wer ist wessen Nachbar, wer hat wen als Nachbarn? Blasse Erinnerungen an einen Menschen, der einen Spieler der DFB-Auswahl nicht als Nachbarn wünscht.

Zurück im Treiben der Stadt. Ein sich verstärkender Eindruck: Lokales und globales vermischt. Wie überall. Aber: hier fällt das nicht-lokale immer noch auf. Zwischen Fachwerk und in Fernost Produziertem ein Spalt. Ein Riss. Eine Distanz der Befremdung. Es schnappt nicht ein. So meine Wahrnehmung.

Der Espresso bei Kathrin hilft mit diesen Wahrnehmungen. Um mich herum, mal wieder? Na? Klar, Menschen, die sich kennen, die Donnerstag Vormittags gemeinsam Kaffee trinken. Braun gebrannt. Eine fluktuierende Masse. Kommt einer, gehen zwei, kommen zwei, geht keiner. Usw.
Im Urlaub? In der Mittagspause? Zurück aus Portugal. Oder Spanien, Italien, Griechenland. Zurück aus Nachbarländern.
„Petrah, du auch hiah?“ „Jah siecha Frank!“
Sprache, die vereint. Einigkeit in der Nachbarschaft. „Ja, isso!“
Aber auch Fürsorge. „Pass auff dich auff, nä“ „Ja, mach ich.“

Auf dem Nachbartisch die beliebteste Zeitung des Landes. Irgendwo wird ein Fußballer für so viel Geld gehandelt, dass Marktwirtschaften schnappatmen würden. Einfach weitermachende Autohersteller, wie auch immer. Software ist die Lösung. Soft ist weich, weich ist einfach. Wenig Widerstand. Wenig durchschaubar. Fehler macht keiner. Fehler machen sie alle. Ein leeres Zentrum.

Der Blick zurück in die Passanten. Auf dem Shirt einer jungen Frau ein mir bislang unbekannter Lösungsansatz.
Think glocal, act local.

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Von gelebter Nachbarschaft

Zu Gast in der Kulturregion Hellweg. Gefühlt ein Gast. Oder Fremder. Oder Eindringling. Oder Beobachter. Oder Besucher. Oder Beschreiber. Oder. Der Blick auf Fremdes spiegelt die eigene Fremde. Blick auf Unbekanntes macht das eigens Bekannte unbekannt.
Mein Zugang zur Region, zum Thema, sind Menschen, die Nachbarschaft neu organisieren. Eine Suche im Fass ohne Boden. Zahllose Einleitungen. In Gesprächen erfahre ich große Offenheit. In diesen Momenten bin ich dankbarer Gast.

Eine Seniorin, ehemalige Förderschulrektorin, initiiert ein Mehrgenerationenwohnen. Elf Wohneinheiten unter einem Dach. Junge Familien helfen Senior*innen, profitieren von Erfahrungen der Mittvierziger, deren Kinder gerade ausgezogen sind. Und umgekehrt, in allen denkbaren Konstellationen. Unter dem Dach des Hauses ist der Lebensmittelpunkt, hier wird Dorf simuliert. Oder Großfamilie. Man lebt gemeinsam. Miteinander und füreinander.

Der Rektor einer Hauptschule. Sein Engagement, seine Offenheit haben der Schule neues Profil verschafft. Vor der Schließung bewahrt. Ein Resultat: Schüler*innen, die das Bergmannslied lernen. Schüler*innen, die zuhause feststellen, dass auch in ihrem Wohnzimmer Partikel dieser Vergangenheit noch auf dem Sofa sitzen, in den Regalen stehen. Das Bergmannslied ist noch bekannt, öffnet verschlossene Stollen der Erinnerung, treibt Tränen in die Augen. Ein anderes Resultat: Schüler*innen, die einen Geschichtspfad bauen. Geschichte erfahrbar machen, Geschichte lebendig halten. Verpflichtung nicht nur Ämtern und Schüler*innen gegenüber, sondern auch dem Ort, der Region. Der Nachbarschaft. Lokaler Tradition und Geschichte, alten Werten.

Weniger Gemeinschaft hingegen im Zentrum. Haben Zentrum und Großstadt Fluktuation gemeinsam, Anonymität? ‚Verwässert‘ das Zentrum? Das Zentrum einer Stadt war einmal die Kirche, der Marktplatz.
Ein Mehrgenerationenhaus im Zentrum Hamms. Es versucht sich darin, Zentrum im Zentrum zu sein. Anlaufstelle für alle. Babytreff, Frühlingsfest, Stricktreff, Tanzstunde. Taschengeldbörse, Smartphonekurs. Angebote für neue Beziehungen. Angebote für Raum. Sich und auch Unbekanntem zu begegnen. Nachbarschaft braucht Begegnung braucht Raum. Ein Gut, das immer knapper wird. Hier wird es angeboten.

Direkt neben der Zentralen Unterbringungseinrichtung, voll von wartenden Menschen, mit langer Reise hinter, langer Reise vor sich, ein erstmal unauffälliges Haus. Im Schatten der Sommerhitze sitzen Senior*innen. Ein wöchentlicher Kaffeetreff. Im ersten Stock ein großer Gemeinschaftsraum. Die Küche wie aus dem Katalog, nur größer. Eine Tafel für vierzig, fünfzig Menschen, blitzsauber. Ein ganz normales Seniorenheim. Jede Bewohnerin, jeder Bewohner mit eigener Wohnung. Sie haben viel Leben hinter sich. In diesem Haus finden sie neue Gemeinschaften und verknüpfen ihre vielen Leben.

Noch nicht ganz viel Leben, aber eine lange Reise hinter sich haben sieben junge Männer. Nach Deutschland gekommen in den vergangenen zwei Jahren, geflohen. Vor Krieg, zum Beispiel, vor Verfolgung und anderem. Geflohene. Minderjährig und alleine, viele Landesgrenzen überquert. Oder das Mittelmeer. Ein Jugendhilfeträger bringt sieben minderjährige, unbegleitete Geflüchtete in einem Seniorenheim unter. Doch kein ganz normales Seniorenheim. Zwei Generationen und viele Kulturen treffen im Kleinen aufeinander.
Ich denke an mögliche Konflikte. An Missverständnisse, an Vorurteile, an Befremden. Differenzen in Alter, in Sozialisierung, in kulturellem Hintergrund. Sicher ist auch das ein Teil der Wahrheit, doch ich erlebe vor allem: Gemeinschaft. Empathie. Solidarität. Heranwachsende, die von Senior*innen bei der Hand genommen werden. Im Gegenzug: Senior*innen, denen die Tasche getragen oder der Einkauf erledigt wird. Im Kühlschrank Kartoffelsalat, den die Seniorin aus dem Nachbarzimmer den Heranwachsenden für den Hunger am späten Abend zubereitet hat. ‚Nicht, dass da einer hungrig schlafen gehen muss.‘

Die Eltern der sieben leben anderswo, weit weg. Manche der sieben sprechen regelmäßig mit der Heimat. Manche überhaupt nicht. Eine kommunikative, eine emotionale Stille. Die Senior*innen sind neue Großeltern. Und Mitbewohner*innen. Sozialpädagog*innen in mobiler Betreuung erfüllen andere, noch diversere Rollen. Manchmal auch solche einer Familie. Dem Sprichwort, es brauche ein Dorf, um ein Kind zu erziehen, wird in diesem Haus auf neue Weise Rechnung getragen.

Die Frage nach Heimat liegt wieder auf dem Tisch. Hart, kantig, schwer, abstrakt, ungreifbar. Heute unbekannt, morgen Nachbar, das ist möglich. Heute Nachbar, morgen Freund. Oder Familie. Oder Feind. Das ist auch möglich. Menschen, die sich als Ur-Westfalen betiteln. Oder echte Deutsche. Überzeugte Europäer. Global citizens. Nicht allzu relevant in der realen Begegnung.

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Von Pflichten und Prioritäten

Gut zwei Wochen im Hellweg. Ich glaube, Temperament und Geist dieser Region ansatzweise erahnen zu können. Menschen, denen ich bisher begegne, sind vor allem eins: Heimatverbunden. So höre ich, zum Beispiel: Hamm mag für Außenstehende kein Traum sein. Für gebürtige Hammer aber gibt es keine bessere Stadt auf dieser Welt.
Ich frage mich, ob diese Heimatverbundenheit ein Alleinstellungsmerkmal der Region ist. Oder aber: Beißen sich die Konzepte von Heimatverbundenheit und Großstadt? Sind urbane Zentren zu sehr einer Fluktuation ausgesetzt? Sind Interessen und Möglichkeit zu divers, um sie nachbarschaftlich zu konzentrieren? Nur von Berliner*innen kenne ich eine solche Verbundenheit. Kaum wagen sie sich aus ihrer Stadt heraus. An den Wannsee vielleicht. Oder die Ostsee.

In einem Gespräch höre ich die entscheidende Gegenfrage: Was ist Heimat für dich? Ich denke an wichtige Orte meiner Kindheit, an abwechslungsreiche Sommer, an familiär-besinnliche Weihnachten, an wichtige Tage und Ereignisse der vergangenen 30 Jahre. An Menschen, die nicht mehr leben. Ich frage mich, warum ich erst an einen See in Bayern denke, und nicht an das Haus im Rheinland, in dem ich aufgewachsen bin. Ich denke auch an Orte, die mir zur Heimat wurden. Durch Freunde. Durch prägende Zeiten. Deutsch spricht man dort kaum. Zweite und dritte und xte Heimaten. Home is where your heart is.

Im Hellweg wird diese Frage wohl oft schneller beantwortet. Vermute ich. Hier ist man geboren, aufgewachsen, hier kennt man sich. Hier gehört man hin. Zum Schützenverein. Zur Feuerwehr. Zum Heimatverein. Zum Knappenverein. Home is where you were born.

In einer wunderschönen Landschaft. Mit Kanälen und Halden. Durchbrochen von Kraft- und Bergwerken, von Windrädern und Industrieanlagen. Eine natürlich-mechanische Romanze.

Ausblick Kissinger Höhe, Hamm-Herringen – ©mj

Ich lerne, welche Relevanz Nachbarschaft hier hat. Prioritäten sind traditionell klar verteilt: Im katholischen Teil der Region: 1. Kirche, 2. Hof, 3. Nachbarschaft. Im protestantischen Teil: 1. Nachbarschaft, 2. Hof, 3. Verwandschaft.
Prioritäten und Pflichten sind gleichgesetzt. Christenpflicht, Menschenpflicht, Nachbarspflicht. Wenn mir das Salz ausgeht, frage ich den Nachbar um Hilfe. Wenn der Nachbar Geburtstag hat, kann der Sohn nicht heiraten. Sind Menschen neu in der Nachbarschaft, müssen sie sich integrieren. Und sich beweisen. Solidarität, Gemeinschaft, Integration.

Sogar im Supermarkt, eine große Kette, kennt man sich. Senioren essen gemeinsam zu Mittag. Wahlweise Frikadellen oder Wurst mit Kartoffelsalat. Beim Ärger über die Vorkommnisse in Hamburg ist man sich einig. ‚Das ist nicht unser Deutschland.‘ Heißt auch: Das ist nicht mehr Heimat, das sind nicht mehr meine Nachbarn. Nachbarschaft als Einbahnstraße.
In Regensburg wurden junge Menschen jahrelang missbraucht. In einem Nachbarland wird die Gewaltenteilung abgeschafft. Ein einjähriger Ausnahmezustand legitimiert Willkür am Mittelmeer. Ein Friedensnobelpreisträger stirbt, Anteilnahme wird zensiert. Einbahnstraßen. Nachbarschaft wird zerstört. Und Heimat. Unter anderem.

Mehr von Matthias Jochmann