Flecken

 

Wir waren  im Flecken. So heißt ein Stadtteil in Freudenberg, in dem nur alte Häuser stehen. Als wir dort rumliefen, räumte ein Mann vor seinem Haus ein paar Sachen zusammen und da er mich mit den Kindern Französisch sprechen hörte, wollte er wissen ob es uns hier gefallen würde und woher wir aus Frankreich kamen. Ich musste daran denken, dass vor mehr als zweihundert Jahren französische Truppen unter Napoleon in Freudenberg waren, wo sie plünderten, und im Siegerland selbst um ihre Kriegskasse beraubt wurden. Kein Mensch hat das noch erlebt, aber die Häuser im Flecken  schon. Ob sie damals auch so schweigend in ihren Reihen standen wie heute? Im Gespräch sagte ich zu dem Mann, dass mir sein Haus wirklich sehr gefallen würde und er meinte ja, früher, da hätten sie hier ein Geschäft gehabt, aber nun nicht mehr, seit seine Frau tot sei, fünf Jahre schon. Da stand dann plötzlich eine gewisse Traurigkeit mit uns auf der Straße und er meinte, er wäre ja nun schon alt, aber das Geschäft wollte er doch irgendwann wieder aufmachen, nur ginge das gerade nicht wegen Corona.

Ich habe gefragt, was sie denn verkauft hätten und er meinte Glas und solche Sachen und machte eine ausladende Handbewegung auf die Fensterfront. Hinter den putzigen Scheiben mit ihren gestickten Gardinen waren die Schatten von Figuren und Objekten zu sehen, es war Glas, aber auch Zinn, oder Stein, vielleicht sogar Eisen. Ich nickte, ließ meinen Blick über die Hauswand schweifen und meinte, es wäre sicher schön in so einem Haus zu leben.

Er machte eine zustimmende Bewegung, diesmal mit seinem ganzen Körper, und sagte schon, aber schön sei es doch überall auf der Welt, auch in Frankreich. Er wäre öfter mal das gewesen, früher, mit seiner Frau.

Stimmt, gab ich zu und wollte wissen wo.

An einem Ort im Süden, an der Küste, er nannte auch den Namen, aber wir sprachen nicht weiter darüber, denn die Kinder waren schon weiter gelaufen, standen mit schlackernden Armen auf mich wartend am Ende der Straße, doch sie waren es nicht, die mich weiter trieben, es war diese große Traurigkeit die unausgesprochen zwischen unseren Worten auf den Pflastersteinen stand und dort verharrte, wie die Erinnerung an all das, was war und niemals wieder sein würde und der Mann verabschiedete sich von uns, drehte sich, um wieder zurück in sein Haus zu gehen, und mir war, als ginge er gebückter als vorher, als wäre da eine Last, die er mit auf seinen Schultern zurück ins Innere seiner Wohnstätte nahm.

 

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Vermessung der Welt

Napoleon in Nordhelle:

Beim Hinauffahren werde ich mit Blitz fotografiert. Dabei war ich gerade so froh, den Dränglern endlich davon fahren zu können. Aber die Drängler wissen eben, wo hier die Blitzer stehen. Jetzt bleibt mir nur zu hoffen, dass das Foto hübsch wird, für den Preis immerhin, kann man doch wenigstens ein schönes Selfie erwarten.

Es ist erstaunlich, wie sehr man sich erst daran gewöhnen muss, in einer fremden Umgebung umher zu fahren, das Klima, die Straßen, alles ist nun eine große Unbekannte für mich, hier in dieser Gegend sitze ich zum ersten Mal selbst am Steuer, und so ist es doch normal, sich dieses besondere Event für die Ewigkeit auch auf einem Foto festhalten zu wollen. Etwas, das bleibt, was man dann mit nach Hause nehmen kann, der Familie zeigen. Schließlich kann man sich nicht selbst im fahrenden Auto fotografieren, dafür gibt es eben Blitzanlagen.

Sich in einer fremden Umgebung zurecht zu finden, fällt leichter, wenn man eine Karte hat, einen Plan, wie überhaupt alles im Leben. Es geht leichter mit Struktur. Dann findet man seinen Weg, und genauso hat das auch Napoleon gesehen, als er die Vermessung Südwestfalens in Auftrag gegeben hat.  Es ging darum, eine topographische Aufnahme des Unbekannten zu erstellen, sich das Fremde auf diese Weise strukturell vertraut zu machen.

 

Man darf es mir nicht übel nehmen, dass ich wieder mit dem französischen Kaiser auch wieder meinen südwestfälischen Großvater ins Spiel bringe, der  ja bekanntlich darauf bestanden hat, dass die Menschen in dieser Region von Napoleon abstammen, dass seine Worte eigentlich kein Spaß, sondern eine Form des kulturellen Gedächtnisses waren, die der Region Südwestfalen zu eigen ist, habe ich erst mit diesem Reisebuch verstanden und es erstaunt mich immer wieder, denn nicht nur an Geschichten und Gedächtnis hat Napoleon uns viel hinterlassen, sondern auch Mittel, um uns in der Gegend zurecht zu finden. Er ordnete die Anlegung von Katastern im Rheinland an.

Angefangen mit der Vermessung der Gegend wurde am höchsten Punkt. Und so hat auch die Nordhelle ihre napoleonische Vergangenheit. Denn sie ist hier der Höhepunkt. Davon zeugt heute noch der Aussichtsturm. An seiner Stelle wurde damals ein trigonometrisches Mal in Form eines stabilen Holzgerüstes gebaut, nachdem es dann später zusammengestürzt war, wurde an seiner Stelle der Robert-Kolb-Turm gebaut, benannt nach dem Initiator des ersten Wanderwegenetzes. Und der steht heute noch da.

Einen Turm ließ Napoleon dort errichten, um mit dem Spiegeltelegraph möglichst schnell Nachrichten übermitteln zu können. Heute ist es der WDR, der hier seine Übertragungsanlage hat.

Sie steht direkt gegenüber des Robert-Kolb-Turms und es ist, als würden die beiden Gebäude in der Weite der Landschaft einträchtig miteinander kommunizieren, oder auch nur darüber nachsinnen, wie still und ruhig es hier ist. Wald und Wälder und sonst nichts.

 

Von dem Turm lässt sich bei gutem Wetter weit über Siebengebirge und Münsterland schauen. Mit 663 Metern ü NN ist dies der höchste Punkt Südwestfalens. Von der Nordhelle bis zu Nordsee gibt es keinen höheren Gipfel. Von hier oben aus lässt sich der Raum Südwestfalen aus der Vogelperspektive betrachten.

Roland Barthes schreibt in seiner Studie über den Eiffelturm: Die Vogelperspektive… ermöglicht es, über die unmittelbare Wahrnehmung hinauszugelangen und die Dinge in ihrer Struktur zu sehen.

Der panoramatische Blick bringt die zerstreuten Teile zusammen und mit einem Mal, lässt sich die Struktur des großen Ganzen, das Gesamtbild erkennen. Die Tätigkeit des Geistes, schreibt Barthes, ausgeübt durch den bescheidenen Blick des Touristen, hat einen Namen: Entziffern.

Die Gegend ist ein dem Menschen zu entschlüsselnder Text. Darin liest sich die A45 wie eine polare Achse durch die gesamte Region. Sie ist das Rückenmark im Koordinatensystem aus Industriekultur, Waldbestand und Flächennutzung.

Eine Landschaft, deren Einzigartigkeit ich mit meinem Notizen schreibend zu entziffern suche.

An regnerischen Tagen wie diesen bleiben Aussichtsturm und die neben ihr liegende Gaststätte geschlossen. Kurz nach meiner Ankunft werden Türe und Tore versperrt und ein PKW braust eilig davon. Er wird mit ziemlicher Sicherheit weiter unten auf Höhe der Radarfalle rechtzeitig abbremsen. Da lässt sich jemand ein schönes Selfie entgehen, denke ich. Planung und Struktur werden hier eben von Klima und Wetter bestimmt. Und das ist gerne wechselhaft. Am besten wissen das die Drängler.

 

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