Mikroabenteuer

Den Begriff Mikroabenteuer lerne ich aus dem deutschen Fernsehen. Verzweifelte Städter lassen sich während der Corona-Pandemie ins Abenteuer schicken. Irgendwo in freier Natur, sollen sie unter freiem Himmel schlafen, Lost Spaces entdecken, Feuer ohne Feuerzeug oder Streichhölzer entfachen. Kurzum, Adrenalin pur, und das, obwohl sie eigentlich nicht wegkönnen, also jedenfalls nicht auf die Bahamas oder nach Kuba, in wirklich fremde Räume. Das Unbekannte, das Neue, das, was einem den Atem raubt, lässt sich auch vor der eigenen Haustür finden und damit bedrückende Sorgen, wie die Coronakrise in der wir uns derzeit befinden, für einen kurzen Moment vergessen.

Mein Mikroabenteuer beginnt an dem Parkplatz Kalberschnacke. Dort wartet Regine Rottwinkel. Die aus Bochum stammende Künstlerin leitet das Drolshagen Marketing, und hat mit ihrem Künstlerkollektiv aus 12 Frauen den Landartwanderweg KulTour gestaltet.

Landart ist wahrscheinlich die bisher demokratischste und nachhaltigste Form der Kunst. Die im Freien ausgestellten Kunstwerke sind allen Menschen zugänglich, in den meisten Fällen muss kein Eintrittsgeld gezahlt werden. Die KuLTour wurde durch das Werk von Künstlern wie Andy Goldsworthy inspiriert. Der britische Künstler benutzt für seine Werke ausschließlich Naturmaterialien, um vergängliche Werke darzustellen.

Kunstwerke, die dem Einwirken der Natur ausgesetzt sind, die Wind, Regen, Sonne und Schnee standhalten müssen, sind auch die Objekte, die auf dem rund 7 km langen Wanderweg der KuLTour zu entdecken sind.

Gleich zu Beginn begegnen wir einer Familie, ein kleiner Junge läuft neben uns her und kurz mit uns um die Wette. Er sei schneller, ruft er laut, bevor er staunend mit seinem Großvater vor dem Fischwarm stehen.

Fliegende Fische, die zwischen den Baumstämmen umher zu schweben scheinen. Lachend erzähle ich, wie meine Schwester und ich mal fast aus dem Picasso-Museum Antibes geflogen wären. Wir waren beide noch keine zehn Jahre alt. Der Fisch auf einem Teller hatte mich wahnsinnig frustriert. Ich fand, dass würde ich besser können, aber für meinen kindlichen Kreativitätsdrang gab es damals noch keine Ausdrucksmöglichkeit. Früher wurden keine Begleithefte für Kinder in Museen verteilt, in die sie malen können, oder kreative Führungen veranstaltet. Den Frust ließ ich an meiner kleinen Schwester ab und wenige Minuten später packte uns ein Aufseher am Schlafittchen, zerrte uns zu meiner Mutter und meinte, wenn sie nicht für Ruhe sorgen würde, wären wir in ein paar Minuten draußen. Meine Mutter sorgte für Ruhe, das Museum verließen wir nicht. Heute pilgere ich regelmäßig mit meinen Kindern zu Picassos Fisch in Antibes.

Landart erlaubt einen grenzenlosen Zugang zur Kunst und erlaubt genau in die Natur zu schauen, sie kreativ und spielerisch zu entdecken. Regine Rottwinkel erzählt, dass sie und ihr Team immer wieder damit beschäftigt sind, von Werken entwendete bunte Steine wieder einzusammeln oder neu zu gestalten. Aber das stört sie nicht, auch das gehört dazu. Immer wieder begegnen wir kleinen Kreationen, auf Baumstämme gestapelte Steine oder Tannenzapfen, hinterlassen von Menschen, die sich von der im Ort steckenden Kreativität haben anstecken lassen. Und so wird der KuLTour-Rundweg zu einem Gesamtkunstwerk, dass sich ständig verändert, erneuert und vergeht.

In diesem Jahr sind zwei KuLTische hinzugekommen, ein von der EU gefördertes Projekt. Die Tische sind aus sehr altem Sandstein. Sie laden wandernde Gäste zum Verweilen ein. So kann, wer will, sitzen, die Berge des Sauerlandes betrachten oder mit dem CR-Code auf den Tafeln, Texte zur Erzähltraditionen verschiedener Kulturen herunterladen.

 

Zu einem der bekanntesten Earth-Work Künstlern, wie Landart auch bezeichnet wird, gehören sicherlich Christo und Jeanne-Claude. Christo verstarb nur einen Tag bevor ich zusammen mit Regine Rottwinkel die KuLTour entdecke. Sein Projekt, den Triumphbogen in Paris zu verpacken, wird trotzdem im nächsten Jahr noch durchgeführt werden.

Denn manchmal überdauern auch Landart Kunstwerke ihre Schöpfer und existieren weiter, wenn ihre Kreateure schon längst nicht mehr sind. So wie die Kunstwerke an den Wänden der Grotte von Lascaux.

Und so ist ein Mikroabenteuer zu erleben auch nur eine weitere Metapher für die Vergänglichkeit, mit der wir uns, wie Goethe schon schrieb, tagtäglich befassen müssen, sonst sind auch wir nur ein trüber Gast – Auf der dunklen Erde.

In Südwestfalen und im Sauerland gibt es übrigens eine ganze Reihe von Kunstwanderwegen.

 

Mehr von Barbara Peveling

Survival Gardening

Ort: Alte Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine | Datum: Fr, 06.10.2017 | Wetter: Reste des Sturms auf den Wegen, regnerisch, 9°C

Die Regale sind leer. Scheiben blind. Scherben und Verpackungsmüll knirschen unter den Sohlen. Plastikfetzen und Blätter rascheln über gesprungene Fliesen. Trübes Tageslicht dringt bis zum Kassenbereich, vielleicht noch bis zu den ersten Regalreihen. Die Kühlabteilung, tief im Inneren, im Taschenlampenlicht in Streifen zerschnitten. Es ist still. Kein Radio, keine Durchsagen, kein Summen der Kühltheken, kein Rauschen der Gefriertruhen. Was tun, wenn das System zusammenbricht? Wenn Supermärkte leer, Cafés und Restaurants verlassen, ausgeräumt sind. Wenn Dosen und in Plastik verschweißte Vorräte langsam zur Neige gehen.

Im Krisengarten des Künstlerduos Scheibe & Güntzel auf der alten Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine.Seit April diesen Jahres arbeiten Swaantje Güntzel und Jan-Philip Scheibe auf der Ökonomie von Kloster Bentlage. Hier haben sie auf etwa 100 qm ihren Krisengarten angelegt – auf Basis eines Gemüsesaatgut-Bevorratungspakets, das eine vierköpfige Familie im Katastrophenfall ernähren soll. Ist fruchtbares Land und sauberes Wasser gefunden und gesichert, soll dieses Paket dem Überleben dienen. 20 reinsaatige Samen, verpackt in 20 Tütchen. Erbsen, Bohnen, verschiedene Kohlsorten, Kürbis, Karotten, Zwiebeln, Mais, Salat. An Wissen allein das, was auf der Rückseite der Packungen steht. Nichts über die Beschaffenheit des Bodens, die Schädlinge oder die Witterung.

Ein europaweites agierendes künstlerisches Projekt begibt sich in bekannte Gefilde – nach Westfalen.

Einen Moment lang, einen Augenblick, Anfang des Sommers, im Juli, war alles perfekt, so Philip. Da hätte man die Zeit anhalten wollen. In der „Grünen Blase“. Bis auf die Paprika gehen alle Samen im selbst angelegten Garten der alten Ökonomie am Kloster Bentlage an. Neben dem Krisengarten die Auseinandersetzung mit konkreter Landschaft und Natur. Ein Dekodieren von Texten, ein Erfahren des lebendigen Archivs. Begegnung mit den BewohnerInnen vor Ort. Daraus entwickeln Swaantje und Philip Ideen für Interventionen im öffentlichen Raum. Performances, die Traditionen und Geschichten einer Landschaft und ihrer BewohnerInnen reflektieren. Sie aufrufen und befragen. Mit vergleichendem Blick in die Gegenwart.

Am Gartenzaun, der aus herumliegenden Zaunelementen und Holzlatten selbst gezimmert wurde, kommt es während des Survival Gardening Projektes immer wieder zu Begegnungen mit den Menschen aus der Region. Mit ihrer Beziehung zur Natur, zur Scholle. Und, was daraus hervorgeht. Hervorkommt. Über – Lebensmittel. Essen. Gemeinschaft. Die Versorgung aus dem eigenen Nutzgarten ist hier noch Teil des Gedächtnisses. Ein Zurück dahin? Nicht vorstellbar. Keine romantische Verklärung oder Landlust-Ästhetik, sondern vor allem die lebendige Erinnerung an – harte Arbeit. Ein Vermissen – ja. Ein Zurück – nein.

Wann schlug die Selbstversorgerkultur zur Supermarktkultur um?

Vor dem Ersten Weltkrieg waren Gärten zur Selbstversorgung vor allem bei der Arbeiterschaft verbreitet. Erst während des Krieges setzte sich der Garten auch in der Bürgerschicht durch. Blick in den Krisengarten des Projekts "PRESERVED // Survival Gardening" des Künstlerduos Scheibe & Güntzel auf der alten Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine.Wer während des Zweiten Weltkriegs einen Garten hatte, erfuhr zwar Mangel und Entbehrung – aber keinen Hunger. Wer keinen hatte – Philip und Swaantje geben wi(e)der: Erinnerungen an Hamsterfahrten. Städter aus dem Ruhrgebiet. Butter in der Kleidung versteckt. Nachts. Die Sperren umgehend. Ein Leuchten nach noch unreifen Beeren. Ein Suchen nach den letzten zurückgelassenen Bohnen im Kraut auf dem Feld. Tauschgeschäfte durch den handbreit geöffneten Türspalt. In Krisenzeiten ändert sich das Verhältnis von Mensch und Natur. Eine (Wieder)Entdeckung scheinbar vergangener Kulturtechniken. Der eigene Nutzgarten. Beeren und Maronen sammeln. Giersch und Brennnessel als Nahrungsmittel. Einkochen und einlegen. Rote Beete färbt den Stoff.

Die Performances und Installationen brechen Bekanntgeglaubtes auf. Leuchten neue Räume aus. Bei manchen PassantInnen streifen sie die Wahrnehmung nur. Oder aber treffen mitten hinein. Fordern Reaktionen heraus. Stoßen an. Treffen auf Unverständnis bis Ablehnung, aber auch auf Neugierde und Interesse. Was nimmst du mit? Was macht das mit dir? Sie liefern keine Antworten. Sie stellen Fragen. Tragen sich fort. Bis nachhause gehe ich noch ein paar Schritte. Den Rucksack voll mit Maronen. In Händen einen kopfgroßen Kohlrabi aus dem Krisengarten. Es nieselt. Mir kommen fünf Personen entgegen. Drei von ihnen stellen Blickkontakt her. Drei von ihnen lächeln mich an.

Wo stehen wir heute im Verhältnis zur Natur? Schützen, konservieren, kontrollieren?

P.S.: Es gibt Grünkohlsorten, die keinen Frost benötigen. Es gibt Kohlrabisorten, die nicht verholzen, wenn sie größer als faustgroß werden. Es stimmt. Ich habe sie probiert.

Mehr von Claudia Ehlert

Sehen, Wissen und Staunen

Zwei Männer im Wald

Sehende:     Hörst du das? Da fließt ein Bach. Wie leise er fließt und doch irgendwie stark!

Wissende:   Das müsste der Diepensiepener Bach sein, sicher bin ich aber nicht. Es gibt hier einige Bäche: Den Stinder,                      den Hassel- und natürlich den Mettmanner Bach, den Schwarz- und den Angerbach, den Laubecker …

Beständig fließt der Bach. Dabei trällert er sein Lied, mutig und klar. Und während er so flüstert, da schwebt er vorbei an Erlen, an Pappeln, Brombeersträuchern und an Geschöpfen, die ihn zu verehren wissen. Der Bach schmilzt immer fort dahin und ist doch immer gleich, voller Zuversicht. Er verwandelt sich, zaubert und brennt; und ist immer gleich. Kein Hindernis ist ihm bekannt, der Bach bleibt er selbst. Kurvig tanzt er durch Tal und Land, nimmt kleine und große Steine mit, lässt andere liegen, bahnt sich den Weg, der ihm bestimmt. Die Leute versuchen ihn zu überholen oder ihn zu überbrücken, doch darüber kann der Bach nur spotten. Hörst du es auch? Jeder tropfen lächelt dich an, jeder Tropfen weiß alles.

Da gleitet ein Wasserläufer über den Bach, für ihn ist er ein reißender Strom, ein breiter Fluss aus zähflüssigem Blei; und der Wasserläufer hat recht. Der Bach ist stärker als du und ich, er hat keinen Anfang und kein Ende. Der Bach ist eins.

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Sehende:     Wie das duftet, ich liebe den Geruch von Gras. Irgendwie beruhigend, findest du nicht auch?

Wissende:   Da wird wohl einer gemäht haben.

Es wird vom Wind gestreichelt, das Gras. Wie gute Freunde strecken sich die Halme und wiegen sich gemeinsam in den Tag hinein und in die Feuchtigkeit. Ein Meer aus grün und glitzernden Spitzen, dicht an dicht, einander ähnelnd und doch alle verschieden. Und der Wind, der nimmt sie mit, er trägt sie auf seinen Schultern in die Welt hinaus. Das Gras und sein Duft, sie reiten auf dem Wind. Der Duft ist des Grases Sprache, hörst du es nicht auch? Es spricht vom Leben, vom süße, starken Leben, erzählt dir von seiner Mutter, der Erde, die ihn gebar und die ihm alles gibt, was es braucht. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen sagt es dir, wie sehr es seinen Vater liebt, die Sonne. Seinen Vater, der es stets umarmt und ihm Kraft gibt. Und es streckt dir, während es davon berichtet, die Hand entgegen und gibt auch dir diese Wärme, die Liebe und das Vertrauen, das ihm stets zuteil wurde. Ruhe liegt in der Stimme des Grases, Ruhe und Gleichklang. Jedes Wort, das ihm über die Lippen schleicht, das sich um dich legt, sagt Erde und Wärme, sagt Leben.

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Sehende:     Wollen wir uns kurz hinsetzen, ich bin schon so müde. Vielleicht dort in den Schatten.

Wissende:   Willst du erschlagen werden, das ist eine Stieleiche. So eine Eichel auf den Kopf,                                                                      muss nun wirklich nicht sein!

Einmal hat sich ein Liebespaar unter meinen Armen geküsst. Das war schön! Danach waren die Zwei jedoch drauf und dran ihre Namen in mich zu ritzen, als würde das die Liebe offizieller machen. Der Bub hatte sein Taschenmesser vergessen, Glück gehabt. Wie lang das wohl her ist? 30 Jahre vielleicht? Was ich nicht schon alles erlebt habe in meinen 80 Jahren: Ganz klein war ich mal und hatte ja noch keine Ahnung von der Welt. Da habe ich noch so viel ausprobiert und meine Arme in alle Richtungen gestreckt, stets auf der Suche nach dem sonnigsten Plätzchen. Ein paar haben sie mir dann abgeschnitten, komisch diese Menschen. Jahr um Jahr bin ich gewachsen und irgendwann war es mir dann wichtiger die schon vorhandenen Arme zu stärken und auszubilden. Was habe ich da nicht für tolle Verzweigungen genommen und in manchem Jahr ein Blattwerk gehabt, dass der olle Farn von nebenan nur doof geschaut hat. Hin und wieder brüteten sogar Vögel in meiner Krone, so prächtig ist die. Nur schade, dass niemand meine Wurzeln sehen kann, denn eben so prächtig, wie ich mich gen Himmel strecke, wachse ich auch in den Boden. Puh da bekomme ich doch gleich wieder Durst.

Ich habe außerdem noch einiges vor mir! Ein Verwandter von mir wurde kürzlich erst 700 Jahre alt! Wer weiß, wie lange ich es mache?

Den Bub mit seiner Frau im Arm und dem vergessenem Taschenmesser, den gibt es dann jedenfalls nicht mehr.


Dieser Text entstand anlässlich der Lesung im Museum «Haus Dahl» im Oberbergischen Kreis. Thematisch ging es an diesem Tag um Einkehr und die Natur. Das Staunen wurde bereits in der Antike als Unterbrechung der Erwartung beschrieben und war für Platon der Beginn aller Philosophie. Die Romantiker des 18. und 19. Jahrhunderts würden das Staunen vielleicht als die Fähigkeit beschreiben, das Ganze und die Einheit hinter der Dinglichkeit der Natur zu sehen. Ihr Ziel war es, der Natur wieder näher zu kommen, gar mit ihr zu verschmelzen. Eben so wie die Romantiker das «Eins-Sein» anstrebten, lehnten sie die Trennung von Kunst und (Wissen)schaft ab und wollten die Gesellschaft durch diese Verbindung poetisch machen. Schlegel und Novalis nannten die Romantik deshalb eine «progressive Universalpoesie». In diesem Sinne:
Reicht es dem Menschen beim sonntäglichen Spaziergang den einen oder anderen Baum zu kennen?
In welcher Beziehung stehen wir heute zur Natur? 
Können wir sie noch bestaunen?

Mehr von Dimitri Manuel Wäsch

16:17 Uhr, Essen Grugapark

Auf der Treppe zur Orangerie sitzt eine Frau. Sie hat eine große Tasche und die hat sie zwischen den Beinen. Ihr Haar ist windgestärkt, ihre Haltung rund. Sie sitzt gegenüber einem Pfad, der zur Virchowstraße führt. Rechts davon in Richtung Congress Hotel sind Sportfelder angelegt, ganz außen wirft ein Mann sehr kleinen Kindern Fußbälle zu. Die Kinder stecken in sehr kleinen Vereinstrikots, tragen sehr kleine Fußballschuhe und kicken fleißig, ihre Beine dabei akkurat gestreckt. Aus ihren Bewegungen ergibt sich ein Gleichklang: Das Kinn kippt auf die Brust, der Bauch wird zur Kugel. Wenn Bein und Ball sich getroffen haben, jubeln sie. Auch die Frau auf der Treppe zum Grugapark hebt ihr linkes Bein. Sie schlägt auf den nackten Unterschenkel, sie flucht. Zwei Jogger, die erst konzentriert die roten Schranken des grünen Pfades vor dem Park nacheinander passieren, schauen die Frau an, dann sich, dann sind sie weg. Es folgen Fahrradfahrer, Spaziergänger, eine Frau mit Kind. Sie steuern auf den Eingang der Orangerie zu. Die Frau auf der Treppe kramt jetzt hektisch in ihrer Tasche. Sie zieht einen Haufen kleiner Zettel hervor, ruft: „Das wird euch was kosten!“ Ein Mann, der von der Virchowstraße kommend auf die Schranken zugeht, schaut von seinem Smartphone auf, die Stirn in Falten gelegt. Ihm war, als hätte er etwas gehört. 16:29 Uhr



>Auf dem Weg zum Grugapark<

Grüner Pfad Richtung Grugapark. ©mhu
Grüner Pfad Richtung Grugapark, Eingang Orangerie. ©mhu
Der Grugapark wurde 1927 als botanischer Garten angelegt und ist Tier-, Sport-, Spiel-, Konzert-, Lehr-, Natur-, Kunst- und Grillpark in einem. Das kostet natürlich etwas. Eintrittspreise, Veranstaltungshinweise und vieles mehr sind auf der Webseite des Grugaparks zu finden. Das Nahrerholungsgebiet ist zentral im Süden von Essen gelegen, der Pfad vorbei an Congress Hotel und Orangerie ist beliebte Anwohner-Jogging-Strecke. Wenn man der Virchowstraße folgt, findet man sich im Haumannhofviertel wieder. Dort gibt es Villen, prachtvolle Reihenhäuser, einen Gemeinschaftsgarten und eine Liegewiese. Zum Zeitpunkt meines Besuchs wurden auf einem Zettel an einem Baum vor dem Gemeinschaftsgarten nächtliche Ernte-Diebstähle beklagt.

Mehr von Melanie Huber

15:23 Uhr, Lünen Horstmarer See*

Vor dem Kiosk am Horstmarer See stehen mehrere Menschen. Zwei junge Frauen tragen je einen violettfarbenen Flipflop, die eine am rechten, die andere am linken Fuß. Sie haben ihren je anderen, flipfloplosen Fuß auf den beflipflopten gestellt. Gleichmütig schwanken sie zwischen freiem Stand und Kioskwand. Ein Mädchen springt barfüßig vor der Eiskarte auf und ab und ruft: „Papa heiß, Papa heiß!“ Papa zahlt in weißen Socken und weißen Turnschuhen mit einem 5 Euro-Schein das Cornetto-Eis für die Kleine und nimmt der Kioskmitarbeiterin eine Schale Pommes Schranke ab.

„Ich wollte mal fragen, wie das hier mit den Toiletten ist“, eine Frau drängt sich an den Wartenden vorbei und gibt dabei eine leere Flasche Cola ab, Pfandrückgabe 20 Cent. Die Kioskmitarbeiterin schnauft, sagt: „Da muss ich Ihnen aufschließen.“ Sie verlässt den Kiosk an der linken Seite, kommt nach vorne, geht mit der Frau an der Frontseite des Gebäudes entlang und bleibt vor einer unscheinbaren, holzvertäfelten Tür stehen, an der ein schmales Messingschild mit dem Piktogramm einer Frau angebracht ist. Die Mitarbeiterin schließt auf und sagt zu der Frau gewandt: „Aber nachher die Tür wieder zu ziehen.“ Dann kehrt sie in ihren Kiosk zurück. Vor der Toilettentür bildet sich augenblicklich eine eigene Warteschlange. Auf einem Schild neben der Toilettentür steht „Toilettenbenutzung 30 Cent“. Auf einem anderen im Inneren: „Die Toilette ist keine Umkleidekabine“. Rechts neben dem Waschbecken ein Hinweis über dem Papierspender: „Bitte kein Papier in die Kloschüssel, die Toilette verstopft sonst.“ Es gibt nur ein Klo, niemand zahlt 30 Cent.

Der Horstmarer See ist an eine Parkanlage im Seepark Lünen angegliedert, das ist von einem Schild abzulesen, auf dem auch die Park-Verordnung geschrieben steht. An den Innenseiten des Sees sind geriffelte Betonwände zu erkennen, im Wasser bilden Bodengewächse eine natürliche Nichtschwimmer-Grenze. Mehrmals ist Kreischen zu hören, „Iiih!“ und „Algen!“, dann wird geräuschvoll planschend zurückgeschwommen. Bis zur wenige Schwimmminuten entfernten Insel im See schaffen es nur Menschen in aufblasbaren Booten und ältere Frauen mit funktionskurzen Haaren. Stockenten ziehen eng an den Schwimmenden vorbei, das ultraviolette Spektrum des Gefieders ist eindeutig auszumachen. Kanadagänse gibt es auch, sie halten sich in Ufernähe auf.

Der See liegt still, die Anlage gefällt sich in ihrer Symmetrie. Fahrradausflügler fahren an den Liegenden vorbei, mehrere in gleicher Entfernung zueinander angebrachte Schilder mit Hunde-Piktogrammen am Weges- und Liegerand sind mit einem roten X versehen. Dazwischen der Hinweis: „Das Baden am See erfolgt auf eigene Gefahr“.

Die schattigen Plätze unter den wenigen, jungen Bäumen sind schon lange belegt. Zwischen zwei Büschen findet sich ein u-förmiges Muster aus weißen Rosenblütenblättern, davor hockt ein sehr junges Paar. „Schatzi, du sollst nicht ziehen, du sollst stramm halten“, sagt sie, während sie eine Decke zusammenrollt, die er auf den Boden drückt. „Schatzi, stramm!“ Schatzi guckt starr auf seine Hände. Ein kleiner, dicht befellter Hund läuft durch das Bild. Vom DRK-Kindergarten her nähern sich erste Großfamilien mit Grillutensilien, Essenstüten, Klappstühlen und Getränkeflaschen. Es riecht süßlich. / 17:01 Uhr



Ein Ausflug in die Kulturregion Hellweg:
>Seepark Lünen<
Klein, aber fein. ©mhu
Der Horstmarer See im Seepark Lünen: klein, aber fein und auf diesem Foto vollkommen überzeichnet. ©mhu
*Wenige Kilometer von Dortmund entfernt, erstreckt sich der 63 Hektar große Seepark in Lünen, der – aus Sicht des Ruhrgebiets – das grüne Tor zur Kulturregion Hellweg ist. Ein Ausflug lohnt sich immer, denn  das ehemalige Gelände der Zeche Preußen wurde 1996 für die Landesgartenschau umgestaltet und renaturiert – und ist beliebtes Naherholungsgebiet.
Der vordere Teil des Horstmarer Sees ist als Badesee ausgegeben. Die Preußenhalde gibt es noch. Man kann sie über einen ausgeschilderten Rundweg erreichen und besteigen. Im Horstmarer Loch, das heute auch als natürliches Amphitheater für Veranstaltungen genutzt wird, kann man sich in Höhenunterschieden messen. Kunst gibt es und eine direkte Anbindung an das Schloss Schwansbell sowie die Innenstadt von Lünen, was die Lüner rege nutzen. Auch gehört der Seepark zur Route Industriekultur und dem Emscher Landschaftspark.

Mehr von Melanie Huber