Rotonde

Im Imbiss dreht sich ein Fleischspieß ohne Verkäufer. Du siehst ihm eine Weile zu, lässt den Motor mitdrehen. Die Scheinwerfer leuchten in den geschlossenen Media Markt. Europa ist eine Palette. Im Eingang des Elektronikmarkts bis an die Decke gestapelt wie eine Barrikade. „Welkom! Willkommen!“ steht auf dem Schild, das darüber hängt. In welcher Sprache würden wir willkommenheißen ohne den Warenverkehr? Du verlässt den Parkplatz, biegst auf die Neustraße. Auf dieser Straßenseite nennt sie sich so, auf der gegenüberliegenden heißt sie „Nieuwstraat“. Die Mittellinie ist hier eine gestrichelte Grenze wie auf einer politischen Karte: nicht fix, will man dir damit sagen. Das war sie auch lange nicht, 700 Jahre lang waren Herzogenrath und Kerkrade dieselbe Gemeinde, dann kam Preußen mit seinen Soldaten und dann einem Drahtzaun. Glaubst du dem apokalyptischen Kommentar gestern im Radio, wird die weiße Linie hier in der Mitte bald wieder durchgehend sein. Du wechselst die Straßenseite.

Was heißt Straßenverkehrsordnung auf Niederländisch? Gilt hier dieselbe? Und was heißt: Ich hab die Papiere vergessen. „Geen identiteit?“ Nein, mehrere, drei oder vier. Du bist eines der Wohnmobile, die hier in den Einfahrten stehen. Sie parken auf deutscher Seite. Eine Kneipe gegenüber in Kerkrade würde dir Warsteiner ausschenken in einem anderen Frühling. Ein Zapfhahn sagt: Trink heute besser Benzin, billiger kann es nicht werden. Aber kein Euro 95, kein Warsteiner lohnt sich zu tanken an diesem Abend, sonst ist niemand hier.

Dein Autofenster kurbelst du runter, drehst die Musik auf. Ein Lied mit Trompeten hast du dir mitgebracht, auf einer CD namens „Festmärsche“. Es ist der Versuch, dich zurückzuversetzen nach 1954. Damals soll hier Goldene Hochzeit gewesen sein. Ein Festumzug lief bis zur Kerkrader Kirche, Musik machen durfte er nicht, nach niederländischem Recht. Nicht vor zwölf jedenfalls und so ist ein Verein mitgelaufen auf Neustraßenseite, die durfte. Inzwischen waren die Deutschen mit Posaunen und nicht mehr Gewehren bestückt. Sie wussten das endlich wieder: Feiern geht nur zusammen.

Die Kirche, die du siehst, ist in rote Klinker gekleidet, wie für die Hochzeit. Nach der goldenen 1954 gab es noch eine: 1998, die gestrichelte zwischen Herzogenrath und Kerkrade, die heute zu einer Kommune verheiratet sind. Diese Kirche könnte sich in dem roten Kleid in den Niederlanden überall so sehen lassen. Aber sie war es wohl nicht, zu der 1954 der Umzug gezogen ist, sie steht in Herzogenrath. Goldene Hochzeit fällt schwer heute Abend, also biegst du zurück auf die Straße.

Let op, fietsers, doch niemand ist auf dem Radweg, nicht auf dem Trottoir und lang ist die Neustraße, wenn man nur 30 fährt und aus dem Fenster sieht. Nach Unterschieden suchend, die es noch gibt links und rechts, weil man sie finden will: Identität. Im Kreisverkehr, der diese Straße abschließt wie ein Sektkorken, gehst du dann hupend aufs Gas. Dreimal, viermal mit Schampus im Kreis, Niederlande, Deutschland, Niederlande. Wie viele Grenzübertritte kannst du so machen, als Ein-Mann-Festgesellschaft in einer Minute Rotonde? Dann nimmst du die Ausfahrt, aus der du gekommen bist, wieder die Nieuwstraat herunter. Noch einmal vorbei an der Kirche im roten Kleid, am Bushaltehäuschen, das Festgäste auffordert: Stay safe! Benutzt Kondome! Keiner liest es, auch in Lewon’s Fight Club ist niemand, der an diesem Abend Kontaktsport übt. Umeinander tänzeln, das machen wir heute nur in Gedanken. Wir fahren Kreisverkehr.

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