22:02 Uhr, Konzerthaus Dortmund

Das, was uns verbindet, ist der Geruch des Unkonventionellen. Wir sind Feldforscherinnen mit einem Hang zur pragmatischen Romantik. Alles, was wir sehen, ist aus sich heraus mit einer Schönheit verbunden, die sich durch das Zusammenspiel von Brüchen ergibt. Vollkommenheit durch Unvollkommenheit, es ist das Prinzip unserer Beobachtungen. Das haben wir geübt, gemeinsam, vier Monate lang. Wir haben zusammengesessen, abends, am Küchentisch, haben über Begebenheiten gesprochen, Vorfälle und Auffälligkeiten. Das hätte dich interessiert, haben wir uns einander gesagt. Das hättest du sehen sollen. Gemeinsam haben wir eine Karte angelegt, eine Kartografie des Alltags – es ist zu meinem Forschungsvorhaben geworden, die nächsten Jahre und darüberhinaus (danke).

Im Konzerthaus fallen wir nicht auf, wir sitzen ruhig und husten wie alle anderen nur zwischen den Stücken. Wir fühlen uns wohl in diesem kastenförmig lila-weiß ausgeleuchteten Konzertsaal, bräuchten den Anblick der Orgel aber nicht (zu religiös konnotiert). Wir lassen uns ein auf die Geigen und ihre wogenden Bogen, auf die roten Wangen des Klarinettenspielers und die Leichtigkeit der Kontrabassist*innen und Cellist*innen. Dirigentenlos! ist das Credo das Abends, und das Überraschungsmoment nach der Overtüre: Erstmal wieder aufstehen, im Konzertgraben verschwinden; die Erste Geige, die für Sekunden vor verschlossener Tür steht, einfach, weil er die Erste Geige ist und es nicht zu seinen Aufgaben gehört, sich selbst Türen zu öffnen, eine elitäre Haltung, die durch das Hereinfahren des Klaviers fein gebrochen wird.

Unser Liebling ist der Paukenspieler. Er sitzt auf einem blauen Bürostuhl, seine Beine sind zu kurz, ist er nicht im Einsatz, schwebt er über dem Boden.

Wir sehen so viel,
wir sind Stenografinnen unserer eigenen Flüchtigkeit.
Aber, wohin damit?
Wohin mit all den inneren Aufzeichnungen?
Permanentes Mitteilen, ständiges Aussprechen des Moments im Moment,
es müsste eine Aufnahmefunktion dafür geben.
Und ein Archiv, das sich selbst verwaltet.

Beobachten um des Beobachten willens; als wir das Konzerthaus verlassen, ist die Vollkommenheit da: eine Gruppe von Partygängern, in den Händen Dosenbiere und Liebschaften, auf dem Weg zu einem der vielen Imbisse im Brückviertel. Ein Kontrast, der das Ende einleitet. Perfekter wird es nicht. Und dann müssen wir auch gar nicht auf die Stadtbahn warten. Sie steht nämlich schon da. 22:16 Uhr


>Letzter Abend in Dortmund<

Meinen letzten Abend im Ruhrgebiet habe ich im Konzerthaus Dortmund verbracht. Zu Gast war der US-amerikanische Pianist Murray Perahia, der gerade mit der Academy of St. Martin in the Fields, einem in Barockmusik und Wiener Klassik bewanderten Kammerorchester, auf Europa-Tournee ist. Der Abend widmete sich Ludwig van Beethoven, es wurden unter anderem die Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“ op. 43, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 C-Dur op. 15 und Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c-moll op. 37 gespielt. Selten war ich von einem Sinfoniekonzert so begeistert.

>Konzerthaus Dortmund<

Das Konzerthaus Dortmund ist seit 2002 mitten im Brückviertel angesiedelt – dem „Döner-Dreieck“ von Dortmund. Manche würden es auch als Szeneviertel bezeichnen. Der Kontrast, der durch den direkten Clash von E- und U-Kultur und den damit verbundenen Habitus entsteht, ist einer, der mich durch und durch begeistert und bei dem ich glaube, dass er signifikant für das Ruhrgebiet ist.
Im Brückviertel war ich in den vergangenen Monaten sehr oft, habe diverse Imbisse ausprobiert und war mehrfach in der Schauburg, einem über 100 Jahre alten Programmkino.
Das Konzerthaus selbst ist Garant für Klassik, Jazz, Weltmusik und Pop. Markenzeichen ist ein geflügeltes Nashorn, das man überall in der Innenstadt von Dortmund antrifft.

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04:27 Uhr, Großmarkt Dortmund

Nachts sind alle Städte schön. Nur nachts möchte ich sein, durch Straßen streifen, Fahrtwind spüren und keinen Gegenverkehr. Kälte in Zuneigung verwandeln und in ein Ich, das schaut, sammelt und sich lässt. Alles mit sich machen lässt – und die Welt annimmt, wie sie ist.

Auf dem Großmarkt in Dortmund muss man die Welt annehmen, wie sie ist. Diese Welt aus Fischen und Früchten, aus Hubwagen und Kisten. Aus Männern hinter Pulten und Männern unterm Scheffel. Stilisierte Frauen werben still für Äpfel, Physalis und Bananen. Das Eigentliche findet in den Hinterzimmern statt. Geschäftiges Misstrauen in den Blicken, wer sind die, was wollen die, Großkunden sehen anders aus. Anekdoten über Händler, die sich mit Kunden streiten. Ich habe dich beim Nachbarn gesehen, zu mir musst du nicht mehr kommen. Streng reglementierte Besitzverhältnisse und ein Verständnis von Jovialität, das dem Jetzt nicht mehr entspricht. Jede Halle ist einem eigenen Regiment unterworfen, das Obst ist träge. Es wird in Kulturen unterschieden, gedacht und gehandelt – eine vertane Chance; auch Suppe ist eine Option, um fünf Uhr morgens. Gegen die Entwicklungen in der Branche fühlt sich niemand mehr gewappnet. Allein sitzt der Mann in seinem Häuschen im Containerverschlag, der für die Wertstoff-Sortieranlage genutzt wird. Er sitzt schon lange da, und wird es noch eine Weile tun. Hinter den Hallen erinnern Gleise an einst genutzte Transportwege. Verkehrsschilder hängen schief. Und dann ist da der Wendekreis.

Am Wendekreis endet die Welt, und sie beginnt. Jemand hat sein Fahrrad dort abgestellt, ein anderer Paletten. Danach geht es zurück, immer wieder. Der Gedanke daran ist das schönste Bild. 04:58 Uhr



>Großmarkt Dortmund<

Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Vielleicht muss man bald von einem Relikt sprechen, denn die (inter-)nationalen Marktstrukturen sprechen mittlerweile eine andere Sprache: Wie ein Großmarkt im wörtlichen Sinn fühlt sich der Großmarkt Dortmund nicht mehr an. In eine andere Welt taucht man trotzdem ein.
So, wie der Großmarkt heute ist, gibt es ihn seit 1951/1952 auf dem Bundesgelände am Bahnhof Dortmund Süd. 1976 gründete sich die Großmarkt Dortmund Genossenschaft, seither betreiben ansässige Unternehmen den Markt selbstständig. Der Dortmunder Großmarkt ist einer der zehn größten Märkte in Deutschland (es gibt insgesamt 25), aktuell sind 23 Händler dort tätig. Bei dem Großmarkt handelt es sich um einen Frischemarkt. Es werden Obst und Gemüse, Frischfisch, Fischwaren, verpackte Lebensmittel, Frischfleisch, Kartoffeln und Zwiebeln verkauft. Daneben gibt es eine Bananen-Reiferei, Kühlhäuser und Lager. Der Großmarkt versorgt nach eigenen Angaben in einem Radius von 200 Kilometer etwa 3 Millionen Einwohner.

 

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21:51 Uhr, Essen PACT Zollverein

In den Mulden liegen Seifenreste, fein trapiert für Staunende. Sauberkeit als sinnliches Moment, weißkachelige Emotionen – ein Ort für Menschen ohne Makel, weiche Haut und fließenden Bewegungen. Im Aufführungssaal wird Kontrast gewollt: absolute Dunkelheit, bizarre Schreie, Reenactement am fremden Leib. Eine Verausnahmung des Körpers, des Frauseins, der Witz damit und Brüste, die, schmerzhaft rotierend, Bezüge aushebeln wollen – aber so ganz gelingt es nicht; selbst darin sind die Menschen schön.

Der Weg nach draußen wird fast zur Flucht, eine Flucht aus dem ästhetisch Perfekten, aus der weißfarbigstrahlenden Reinheit. Einkacheln könnte man sich hier, der Wille ist stark, die Umgebung natürlich – aber man selbst? Schweiß, Schmutz, schwarze Gedanken. Was auf der Bühne heraufbeschworen werden wollte, wird nie wirklich ankommen in dieser Welt, nur noch namentlich bekannt als Waschkaue. Die Reinkarnation ist bereits vollzogen, egal, wie oft Canaille gerufen wird.

Wie traurig das Aufatmen nach dem Verlassen des schönsten Ortes, die unbedingte Suche nach dem alltäglichen Kontrast. Der auch eintritt, unmittelbar: In einem matt-grauen BMW vor dem Eingang sitzt ein Mann, der bei heruntergelassenem Fenster Clubmusik hört, dabei nervös mit dem Kopf wippt, während – filmisch perfekt – weitere sechs Männer um die Ecke kommen, Bauarbeiterhelme und Sicherheitswesten tragen, und an dem fein gekleideten Premierenpublikum vorbeigehen. Niemand schaut, jeder ist für sich in seiner Gruppe und doch berühren sie einander. Das ist Schönheit. 21:58 Uhr


Waschkaue

Umkleide- und Waschraum auf einer Zeche. In der Regel besteht eine Waschkaue aus zwei etwa gleich großen Räumen, der Weißkaue und der Schwarzkaue. In der Weißkaue kam die Straßenkleidung der Bergleute unter, in der Schwarzkaue die Arbeitskleidung. Entsprechend kann man sich den Sauberkeitsgrad der Körper der Bergleute (vor der Schicht, nach der Schicht) vorstellen.


>PACT Zollverein<

Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue von Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue der Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Seit Anfang der 1990er Jahre wird die ehemalige Waschkaue der Zeche Zollverein als Aufführungsort für zeitgenössischen Tanz genutzt. Es ist das choreographische Zentrum NRWs, und das merkt man auch. Toller Ort, tolle Atmosphäre – und gute Stücke. Bei meinem Besuch habe ich die Uraufführung aus der Monument-Reihe von Eszter Salamon gesehen: „Monument 0.5: The Valeska Gert Monument„, eine historisch-empirische Aufarbeitung des Lebens der avantgardistischen Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert (1892-1978). Foto Titelbild: Ursula Kaufmann

 

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Wie Kiezgrößen entstehen – Eine Gebrauchsanweisung

Nimm ein Viertel, nicht groß. Ein Viertel kann schon eine Straße sein. Das ist legitim, ist mir mehrfach untergekommen. Wer das Ziel hat, schnell Bekanntheit zu erlangen, der suche sich am besten ein Ein-Straßen-Viertel. In der Straße sollte man aber nicht wohnen. Man hat ja nicht immer Muße, erkannt zu werden. Eine Wohnung in einer Nebenstraße ist oft günstiger und verstärkt das Mysterium um einen selbst (wo wohnt er/sie bloß?) und damit – natürlich – den Bekanntheitsgrad.

Wichtig ist es, so schnell wie möglich andere Kiezgrößen ausfindig zu machen. Den Kontakt sollte man nicht scheuen, es geht um alles. Und dann geht es auch erst mal so: Andocken, integrieren, absorbieren lassen. Dabei sein, also oft. Sich aber auch rar machen. Nicht zu oft, aber oft. Empfehlenswert ist es, sich in zeitlichen Schüben zu zeigen: Mal eine Woche täglich, dann wieder Tage nicht mehr. Zu Veranstaltungen oder Kneipeneinladungen erst auftauchen, wenn die anderen bereits angeheitert, aber noch nicht allzu betrunken sind. So entstehen Freundschaften, das hat etwas mit Spatien zu tun. Das ist lateinisch und bedeutet Zwischenräume. Kommt nicht von mir, hab ich mir von einem Freund geliehen. Was den Sympathiewert erhöht: Wortschatz des anderen annehmen. Aber: nicht alles. Gerne auch mal ironisch brechen, aber nicht übertreiben. Gleiches gilt für das Angehen gemeinsamer Projekte: Entgegenkommen, zum Teil. Dann klar formulieren, was man will. Dann machen.

Für den Nervenkitzel und vor allem für den eigenen Spaß: Improvisationsmomente zulassen. Nicht alles durchdenken, nicht alles verplanen. Dinge passieren lassen. Vom Hörensagen leben, das kommt dann schon.

Die anderen Kiezgrößen nicht verdrängen. Man lebt in friedlicher Koexistenz, eine Unterscheidung in den Künsten ist zu empfehlen. Nicht das gleiche machen wie die etablierte Größe. Was auch immer die jeweilige Kiezgröße so Besonderes kann, das kann nämlich alles sein. Von der Marke „verkannter Musiker“ über „verkannter Kunstlehrerkünstler“ bis hin zum Viertel-Juristen, der aussieht wie ein französischer Schauspieler und auch so guckt und der auch noch genauso leger über die Straße läuft in seiner ockerfarbenen Bluson-Jacke und diesem melancholisch-kecken Ausdruck in den Augen und seinen Haaren und … Nun gut.

Man sollte in jedem Fall genau beobachten und dann: was zusammen machen. Funktioniert nicht immer mit dem Wunschkandidaten, aber man sollte am Anfang nicht wählerisch sein. Das gleiche gilt für Straßen-Bekanntschaften: Alle Menschen grüßen, die man kennt und an einem im Viertel vorbeilaufen. Kurz quatschen. Drei Minuten aber maximal, dann weiter.

Das alles durchziehen für eine x Zeit, dann aber auch wissen, dass man gehen muss. Auch, wenn es schwer fällt. Sehr schwer. Zum Heulen schwer.

Je Viertel schaffen es immer nur ein bis zwei Kiezgrößen auf Dauer. Man kann davon ausgehen: Man selbst ist es nicht. Deswegen: fluktuieren, andere Viertel finden. Noch mal von vorne anfangen.

Bis dahin, eigene Erfolge wie folgt feiern:

den Kleidungsstil ändern, leicht aber nur. Bloß nicht zu viel. Das gleiche bei Bewegungsabläufen, Mimik und Gestik. Menschen in die Augen schauen. Scham ablegen. Draußen essen. Alleine unterwegs sein. Promenieren, im wörtlichen Sinn. Lesen. Schweigen.

Und: sich in Ruhe anschauen lassen.

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03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

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19:03 Uhr, lit.ruhr VA29

Das Gefühl ist groß, Bewegungen bleiben eingeschränkt, verzweifelt quillt die Emphase aus den Augen der Gedrängten. Noch im Rausch der Überhitzung wird Zorn gekauft, wie viel, wie viel, jetzt sagen Sie doch mal: wie viel? Aufregung sticht in den Fingern – da! Einband gerissen, ach, ärgerlich. In solchen Momenten gehen Leben zu Grunde. Schieben, warten, halten. Sitzt da Baselitz? Wo ist Kluge? Ich hab hier ’nen Kunstdruck, schon lange, den müssen Sie mir signieren!

Base
litz

Auster
litz

Die Litze. Geht es auch um Helden, Tyrannen, Übermenschen? Um die „Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht“?* Ach nein, um Schmutzseiten, vielleicht.

Heute fühlt es sich anders an. Papier, Geduld und das Buch nah am Herzen. Kluge?
Alte Körper drücken weich, das Stehen im Pulk ist ein unabweislicher Kommentar auf die Menscheitsgeschichte.
Etwas fällt, Köpfe senken sich. Nach unten.
Von unten.
„Strategie von unten“?**

Unten ist der Boden so nah, da ist der Boden Boden aus sich heraus.

„Ich wusste immer, dass es Sie gibt“, hat er zu ihm gesagt, die Hände gedrückt, dann den Zeigefinger gehoben: jetzt Puccini, jetzt Seite 96, jetzt. Aber jetzt steht er in der Tür, will nach links, wird nach rechts geschoben, sanft. Der Blick wirkt verwaschen, in Gedanken an das gerade Gewesene. Geräuschlos setzt er sich neben den routiniert signierenden Künstler. Ein Automatismus, dem Kluge noch nicht beigekommen ist. Kurz wird hier unterschrieben, dort. Eigentlich gehört er nicht an diesen, er gehört an einen Schreibtisch, einen Arbeitstisch. Umgeben von Büchern, Zeichnungen, Notizen, Musik. „Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.“

Wir schauen uns an,
wir sind uns nicht sicher.

Momente, die vergehen. Momente, die bleiben. Ich nehme einen Namen mit. 19:07 Uhr

 


*Kluge, Alexander: Die Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht. In: Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2009. S. 23f.

**Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2008.

„Das Problem ist, daß uns eines von Fontane trennt, neben dem vielen, was uns von ihm überhaupt nicht trennt: und das ist eine Radikalisierung aller Zeitverhältnisse. Fontane hat z.B. Bombenangriffe, die manchen Berlinern ja noch wohl in den Knochen liegen, nicht gekannt. Es gibt da, wenn man es bildlich ausdrückt immer zwei Strategien. Eine Strategie von oben und eine Strategie von unten. Über die Strategie von oben hat Clausewitz einiges geschrieben. Das ist die Strategie, die das Bomberkommando hat; und das hat ja auch die Mittel dazu. Was eine Frau mit zwei Kindern unten im Keller als Gegenwehr dagegenzusetzen vermag, das wäre Strategie von unten.“

>> Link zum Zitat
>>> Ein weiterer Link zum Thema „Strategie von unten„, wahllos gewählt.


>Alexander Kluge und Georg Baselitz auf der lit.ruhr<

Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Die Veranstaltung 29 (VA29) mit dem sperrigen Titel „Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern. Alexander Kluge trifft auf Georg Baselitz“ des in erster Auflage ausgeführten internationalen Literaturfests lit.ruhr war einigermaßen gut besucht, was in Anbetracht der Tatsache, dass sich auf der Bühne im Museum Folkwang in Essen Urgesteine der jüngsten Kunst- und Kulturgeschichte befanden, für mich nicht ganz nachvollziehbar war. Einmal Alexander Kluge live erleben, das sollte man nämlich. Und Georg Baselitz ist auch ganz interessant. Ihr gemeinsames Buch heißt im Übrigen genauso wie die Veranstaltung und ist bei Suhrkamp erschienen. Und bis 7. Januar 2018 gibt die Ausstellung „Pluriversum“ Einblicke in die Arbeit von Kluge.

 

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