Besuch

Beim Eintreten klackern die Fliesen sehr leise, als hätten sie ein Geheimnis zu bewahren. Mit ihrem Muster aus ockerroten Kreisen und blauen Kanten sind sie bestimmt schon sehr alt, genau wie das ganze Gebäude überhaupt. Die weite ausladende Holztreppe knarrt schon beim Ansehen und die dicken Steinwände werfen eine beruhigende Kälte ab. Ich bewundere die blauweiß bemalten Fliesen in der Küche und lasse mir den Raum zeigen, indem sie als Jungs geschlafen haben.

Den Kamin gab es damals nicht. Es zog durch die Fenster und im Winter muss es sehr kalt in der Villa Haase gewesen sein. Viele Leute wohnten damals in dem Haus, die zum Arbeiten herkamen, weiterzogen, alle teilten sich ein Badezimmer. Duschen, das durfte man sowieso nur einmal in der Woche.

Ich laufe um das Gebäude herum, mache Fotos und stehe lange vor der schweren Eingangstür aus Massivholz. Heute ist der Eingang mit antiken Möbeln verbarrikadiert. Früher aber heißt es, sind sie immer dadurch hineingelaufen.

Ich stehe, knipse mit meinem I-Phone und versuche mir vorzustellen, wie er dort die paar Stufen hinaufgesprungen ist, die dicke braune Holztür zur Seite schob und über den Fliesenboden ins Haus lief. Von alten Bildern weiß ich, dass er immer viel lachte. Auf einem der vergilbten Fotos hält er ein Schwein an den Hinterläufen wie eine Schubkarre. Ob das wohl hier in Rönsahl aufgenommen wurde? Lange stehe ich vor dem Eingang, und bekomme trotzdem kein lebendiges Bild. Die Mauern halten die Erinnerung in sich gefangen, wollen das Mysterium nicht preisgeben, die Vergangenheit gehört ihnen, nicht mir. Sie haben das Vergangene auf immer in sich eingeschlossen. Die Historie sitzt in den kalten Wänden, klackert in den Fliesen, knarrt im Holz der Treppe und bleibt doch wo sie ist, gefangen im Lauf der Zeit. Sie weigert sich heraus zu kommen, auch nicht durch die Linse meines I-Phones. Sie will nicht in meine Bilder und so in meinen Kopf klettern. Sie gehört sich selbst, wie das Flüstern der Wellen im Meer, das Rauschen des Windes, der über das Wasser peitscht oder das Kreischen der Möwen, die über dem Kadaver eines toten Fisches kreisen. Die Erinnerung bleibt wo sie ist, und kommt nicht zu mir, um sich zu offenbaren. Mein Vater war hier an diesem Ort als Junge, fast noch ein Kind, um seine Lehre in der Landwirtschaft zu machen. Praktikum steht heute noch auf dem Zeugnis, das eines der wenigen Dokumente ist, die ich noch von ihm habe. Papier ist geduldig, sagt man, und so verrät mir das Papier, mehr als die Steine von sich geben wollen.

Das Leben meines Vaters ist ein Logbuch geworden, dessen eingetragene Orte ich zwar bereisen kann wie Station auf einem Fahrplan, aber seine erlebte Geschichte entschlüsselt sich mir nicht. Er ist schon so lange tot, trotzdem kann nicht aufhören an ihn zu denken, mir vorzustellen, was für ein Mensch er wohl war. Ich suche seinen Blick in den Augen meiner Kinder, sein Wesen in ihrem Lachen, seine Gestalt in der Farbe ihrer Haare, ihrer Haut, selbst bei der Form ihrer Hände, frage ich mich ob die seinen wohl auch so schmal waren, wie die meiner Kinder heute. Könnt ihr euch vorstellen, erzähle ich ihnen, dass mein Vater gerade erst von der Volksschule kam, als er von zu Hause fort und ganz allein zum Arbeiten bei Verwandten hierher nach Rönsahl geschickt wurde.

Dass dieses Fortschicken eine gängige Praxis war, habe ich erst jetzt, im Stipendium in Südwestfalen gelernt. Auch noch nach dem Krieg wurden Kinder von der Kernfamilie fort zu Verwandten geschickt. Nicht wenige Menschen sind mir begegnet, die erzählen, wie sie mit vierzehn, zwölf, sogar mit sechs von zu Hause fort zu irgendwelchen Tanten und Onkels geschickt wurden, um dort in die Schule zu gehen, eine Lehre, oder Ausbildung zu machen, oft, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Die heute so diskutierte Auslagerung der Care Chains bekommt dabei eine ganz neue Dimension. Die aufnehmenden Tanten und Onkels wurden wahrscheinlich mit der Arbeitskraft dafür bezahlt, noch einen weiteren Esser in ihr Haus aufzunehmen und an die Gewalt, physisch und psychisch, die diese Generation von Nachkriegskindern auf dem Land erfahren musste, will ich gar nicht denken. Es sind unsere Eltern und Großeltern. Menschen, die nach dem Krieg das Land mit ihrer Arbeit wieder aufgebaut haben.

Als sehr junge Frau habe ich mich oft dafür geschämt, keinen lebenden Vater mehr zu haben. Er hat mir gefehlt, als die anderen Mädchen mit ihren Vätern beim Abiball tanzten. Ich habe ihn vermisst, als sich Freundinnen im Studium bitterlich über ihre Väter beschwerten. Über ihre Verbote, Gebote, ihre ständige Abwesenheit in der Kindheit, sogar die Kritik am weiblichen Körper, wie es sich die anderen Väter bei ihren Töchtern erlaubten, hat mir gefehlt. Für mich gab es kein Gegenüber, an dem ich mich hätte reiben können. Keine Stimme, die mich lobte, ermutigte oder tröstete. Niemanden, den ich vorzeigen konnte, der vielleicht ein Reisebüro oder eine Versicherung hatte, der in der Politik war, Jurist, oder sogar Diplomat. Mein Vater war Agraringenieur, Landwirt, ein Bauer, mehr nicht, und das sogar ohne Hof. Aus heutiger Sicht würde man wohl sagen, es hat überhaupt nur Verlierer gegeben in der Landwirtschaft, alles was nach den fünfziger Jahren auf diesem Sektor überhaupt geschah und noch heute geschieht, war ein sehr großes Desaster und ist es noch immer, wenn wir weiter, zum Beispiel an die Verhältnisse in heutigen Schlachtbetrieben denken. Doch in Rönsahl ist an diesem Tag wenig von den großen Problemen der Welt zu spüren, der ehemalige Kälberstall der Villa Haase wird heute für Antik-Handel benutzt. Die Zeit scheint hier, wie an vielen Orten in Südwestfalen, auf eine angenehme Weise stehengeblieben. Als hätte jemand im schönsten Moment den Film angehalten und auf Standbild gestellt.

Die Villen zeugen von dem früheren Wohlstand, der glorreichen Zeit der Schießpulverindustrie in und um Rönsahl und Ohl. Seit dem Dreißigjährigen Krieg stieg die Nutzung von Schwarzpulver in der Region rapide an, auch beeinflusst durch in dieser Zeit aufblühenden Bergbau. Erst als die rauchlosen Pulver das Schwarzpulver ablösten ging die Ära der Pulvermacher vorüber, wurden die Fabriken stillgelegt und die Gebäude verlassen

In Rönsahl, heißt es, gab es noch vor Köln eine elektrische Straßenbeleuchtung. Zu der Villa Haase gehört die historische Brennerei, die von dem Landwirt Wilhelm Haase 1870/71 errichtet wurde. Die historischen Daten sind Hieroglyphen, die die Geschichte des Ortes entschlüsseln. Der preußische Einfluss in der Region, der Krieg mit Frankreich, das alles steht im Hintergrund dieser schönen und imposanten Gebäude. Die Gebäude und Orte zu besuchen, ist wie in einem Geschichtsbuch zu blättern. Roland Barthes definierte den geographischen Raum als „discours“, als „écriture“, aus der wir die Geschichte herauslesen können. Während ich durch die „Chronik aus Stein“ in Rönsahl spaziere, muss ich mir eingestehen, dass mir Orte, Landschaften und Gebäude die Geschichte nur über Strukturen und Daten kommunizieren. Die Emotionen der Menschen, ihr Lachen oder Weinen, alle Lebendigkeit ist im Laufe der Zeit verloren, verschlossen im Stein, vergangen im Lauf des Wassers, mit dem Wind davongetrieben wie ein Samenkorn. Die Gefühle bleiben eingeschlossen und können nur über Worte, geschriebene oder erzählte, wieder zurück in die Gegenwart geholt und kommuniziert werden. Und so lese ich, unaufhörlich, höre zu und schreibe, um alles, was sich noch unter dem Klackern der Fliesen, im Wind und den Steinen verbirgt, in die Gegenwart zu holen und lebendig zu machen.

Die Villa Haase

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