22:02 Uhr, Konzerthaus Dortmund

Das, was uns verbindet, ist der Geruch des Unkonventionellen. Wir sind Feldforscherinnen mit einem Hang zur pragmatischen Romantik. Alles, was wir sehen, ist aus sich heraus mit einer Schönheit verbunden, die sich durch das Zusammenspiel von Brüchen ergibt. Vollkommenheit durch Unvollkommenheit, es ist das Prinzip unserer Beobachtungen. Das haben wir geübt, gemeinsam, vier Monate lang. Wir haben zusammengesessen, abends, am Küchentisch, haben über Begebenheiten gesprochen, Vorfälle und Auffälligkeiten. Das hätte dich interessiert, haben wir uns einander gesagt. Das hättest du sehen sollen. Gemeinsam haben wir eine Karte angelegt, eine Kartografie des Alltags – es ist zu meinem Forschungsvorhaben geworden, die nächsten Jahre und darüberhinaus (danke).

Im Konzerthaus fallen wir nicht auf, wir sitzen ruhig und husten wie alle anderen nur zwischen den Stücken. Wir fühlen uns wohl in diesem kastenförmig lila-weiß ausgeleuchteten Konzertsaal, bräuchten den Anblick der Orgel aber nicht (zu religiös konnotiert). Wir lassen uns ein auf die Geigen und ihre wogenden Bogen, auf die roten Wangen des Klarinettenspielers und die Leichtigkeit der Kontrabassist*innen und Cellist*innen. Dirigentenlos! ist das Credo das Abends, und das Überraschungsmoment nach der Overtüre: Erstmal wieder aufstehen, im Konzertgraben verschwinden; die Erste Geige, die für Sekunden vor verschlossener Tür steht, einfach, weil er die Erste Geige ist und es nicht zu seinen Aufgaben gehört, sich selbst Türen zu öffnen, eine elitäre Haltung, die durch das Hereinfahren des Klaviers fein gebrochen wird.

Unser Liebling ist der Paukenspieler. Er sitzt auf einem blauen Bürostuhl, seine Beine sind zu kurz, ist er nicht im Einsatz, schwebt er über dem Boden.

Wir sehen so viel,
wir sind Stenografinnen unserer eigenen Flüchtigkeit.
Aber, wohin damit?
Wohin mit all den inneren Aufzeichnungen?
Permanentes Mitteilen, ständiges Aussprechen des Moments im Moment,
es müsste eine Aufnahmefunktion dafür geben.
Und ein Archiv, das sich selbst verwaltet.

Beobachten um des Beobachten willens; als wir das Konzerthaus verlassen, ist die Vollkommenheit da: eine Gruppe von Partygängern, in den Händen Dosenbiere und Liebschaften, auf dem Weg zu einem der vielen Imbisse im Brückviertel. Ein Kontrast, der das Ende einleitet. Perfekter wird es nicht. Und dann müssen wir auch gar nicht auf die Stadtbahn warten. Sie steht nämlich schon da. 22:16 Uhr


>Letzter Abend in Dortmund<

Meinen letzten Abend im Ruhrgebiet habe ich im Konzerthaus Dortmund verbracht. Zu Gast war der US-amerikanische Pianist Murray Perahia, der gerade mit der Academy of St. Martin in the Fields, einem in Barockmusik und Wiener Klassik bewanderten Kammerorchester, auf Europa-Tournee ist. Der Abend widmete sich Ludwig van Beethoven, es wurden unter anderem die Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“ op. 43, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 C-Dur op. 15 und Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c-moll op. 37 gespielt. Selten war ich von einem Sinfoniekonzert so begeistert.

>Konzerthaus Dortmund<

Das Konzerthaus Dortmund ist seit 2002 mitten im Brückviertel angesiedelt – dem „Döner-Dreieck“ von Dortmund. Manche würden es auch als Szeneviertel bezeichnen. Der Kontrast, der durch den direkten Clash von E- und U-Kultur und den damit verbundenen Habitus entsteht, ist einer, der mich durch und durch begeistert und bei dem ich glaube, dass er signifikant für das Ruhrgebiet ist.
Im Brückviertel war ich in den vergangenen Monaten sehr oft, habe diverse Imbisse ausprobiert und war mehrfach in der Schauburg, einem über 100 Jahre alten Programmkino.
Das Konzerthaus selbst ist Garant für Klassik, Jazz, Weltmusik und Pop. Markenzeichen ist ein geflügeltes Nashorn, das man überall in der Innenstadt von Dortmund antrifft.

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Der Ort, der mein Sauerland IST

Brunskappel: Dieses Dorf im Hochsauerlandkreis hat alles. Alles jedenfalls, was nach vier Monaten Sauerlandschreiberei für mich diese Region ausmacht. So läge das Dorf zum Beispiel ohne die immer wieder behauptete Sauerländer Sturheit heute am Grunde eines Stausees. Eine erstaunliche Überlebensgeschichte. Lage, Look und Geschichte geben dem Ort eine geheimnisvolle und zugleich vertraute Aura – wie in einem Agatha Christie Krimi oder einem von Firnis verdunkelten Landschaftsgemälde.

Aber auch die Dorffehde zwischen zwei Sägewerksbesitzern und die scheinbar nicht aufzuhaltende Schrumpfung gehören ins Bild. Und das zwischen Fachwerk und dunkle Holzverschläge bizarr überdimensioniert wirkende Schloß am Ortseingang, Ausdruck alter Feudalzeiten. Es war dazu bis vor ein paar Jahren in der Hand des „Feinds“, der das Dorf zerstören wollte.
Dabei hätten die zwei kauernden Löwen (Schafe? Hunde?) am Tor zum Schloss Wildenberg sicher auch unter Wasser toll ausgesehen.
Von Deutschlands angeblich ältester, der so genannten „1000 jährigen Eiche“ (die in Wahrheit wohl 300-500 Jahre alt ist) in Brunskappel, sind heute wegen einer Baumkrankheit auch nur noch Reste übrig. Ein schlechtes Omen für das schrumpfende Dorf, das selbst durch Sturheit diesmal kaum noch zu retten scheint.

Mein ganzes Sauerland verdichtet
Zunächst mal ist die Einfahrt ins Dorf eine Linkskurve und unterstützt damit meine wirre Theorie, mit der der Sauerlandaufenthalt und meine Motorradfahrerei im ersten Text zusammenkamen.
Mitten im Dorf führt außerdem eine kleine Straße eng und kurvig den Berg hinauf Richtung Elpe und lässt mich jedesmal freudig grinsen beim Hinaufknattern. Schonmal zwei Dinge, die für mich „Sauerland to love“ sind.

Der kleine Ort im Negertal hat zum Teil 300 Jahre alte Fachwerkhäuser, ist umgeben von Wald, Feldern und Weihnachtsbaumschulen und hat überhaupt sehr viel Sauerländer Geschichte hinter sich: Brunskappel ist wie die Eiche nominell über 1000 Jahre alt: Erzbischof Bruno von Köln stiftete hier, am Bächlein Neger, zwischen Winterberg und Olsberg vor über 1000 Jahren eine Kapelle, die (viel) später namensgebend für die Siedlung wurde. Da haben wir, tiefgründend, das Katholische in der Einöde, das so lang bestimmend war fürs Sauerland.

In der großen Kirche des Dorfs erfüllt eine 250 Jahre alte Barockorgel den Raum mit Musik und erinnert mich an den Film „Schlafes Bruder“: ein Bauernjunge als unerkanntes Musikgenie des 19. Jahrhunderts. Das hätte in der Abgeschiedenheit und walddunklen Talwelt des Sauerlands auch passieren können.

Allmählicher Aderlass
Heute hat Brunskappel die gleichen Sorgen, wie viele kleine Orte der Region: es gibt keine Kneipe, keinen Arzt, kein Café, keinen Bäcker, keinen Metzger, keine Schule. Von den vor 30 Jahren im Kampf gegen die Talsperre vereinten und später entzweiten 400 Einwohnern sind heute noch rund 250 übrig. Am Ortsende, direkt an der vielbefahrenen Straße durchs Tal, stehen einige Häuser leer.
Weiter hinten, wo sich das Tal weitet und einen schönen flachen Seegrund hergegeben hätte, spielen an einem sonnigen Sonntag nur drei Kinder neben der plätschernden Neger Fussball. Trotzdem gibt es natürlich eine Schützenbrüderschaft und Schützenhalle, auch einen Dorfverein und eine freiwillig Feuerwehr. Es gibt sogar jemanden, der Kunst macht, jedenfalls prangt „Galerie“ an einem Nebengebäude vom Schloß, wo Steine mit eingearbeiteten Kristallen oder Metallteilen stehen. Sorgen, Selbstverständliches und Eigensinn Sauerland Style.

Es gibt sie doch, die sagenhafte Sturheit
Dass man heute noch durch Brunskappel schlendern kann, über die kleine Brücke über die Neger, in die Kirche, um die Orgel zu sehen, den Hang hinauf zu den Höfen, zur Schützenhalle, ist zweifelsohne der immer wieder behaupteten Sauerländer Sturheit geschuldet.
Die Geschichte um die Talsperre ist faszinierend. Damals berichteten von  Spiegel über Die Zeit viele überregionale Medien darüber: Der Kampf des kleinen Dorfs gegen den Regierungspräsidenten, die Landesregierung und den Ruhrtalsperrenverein (RTV) in Essen. Er dauerte zehn Jahre, von 1974 bis 1984. 400 Dörfler im Tal gegen die Politik und Verwaltung und Gerichte sowie 600.000 Menschen und die Industrie im Ruhrgebiet, die mit dem Talsperrenwasser hätten versorgt werden sollen.

In dem langen, bitteren Kampf zerbrach aber auch das Dorf in zwei Hälften: diejenigen, die ob der scheinbar immer geringeren Chancen, das Dorf zu retten, den Streitereien im Dorf und der nicht endenden Ungewissheit ihre Häuser irgendwann für gutes Geld an den RTV verkauften und denjenigen, die weiter kämpfen wollten – Plansfeststellungsverfahren, 50 Millionen investierte DM vom RTV, Landesentwicklungsplan und beginnenden Vorarbeiten zum Trotz.

Bald gab es eine Bürgerinitiative für die Talsperre und eine dagegen, es gab Anfeindungen, Straßenseiten wurde gewechselt, bei bestimmten Leuten nicht mehr gekauft, Begriffe wie „Dorfverräter“ vergifteten das Zusammenleben, es wurde nicht mehr miteinander gesprochen, aber Flugblätter gedruckt. Wer diese Stimmung über Jahre in einem 400 Seelenort ohne Blessuren übersteht, hat ein gesundes Selbstbewusstsein – oder kein Herz. Sogar der Pfarrer, der die Gemeinde mehr als 20 Jahre lang betreut hatte, konnte den Streit im Dorf nicht mehr ertragen und verließ eines Nachts Brunskappel ohne sich nochmals umzusehen.

Das Dorf und der Untergang
Diese Dorfgemeinschaft, die in Essen, Arnsberg und Düsseldorf so lässig weggeplant wurde, schien also auch ohne Talsperre unterzugehen. Ende 1983, trotz laufender Verfahren und Einsprüche, fuhren Planierraupen auf. Am Nordausgang des Dorfes schoben sie rund 40.000 Kubikmeter Mutterboden zu einem Probedamm zusammen. Dann 1984 die Sensation: Das Oberverwaltungsgerichts in Münster entschied in einem Revisionsverfahren, dass die Negertalsperre nicht gebaut werden darf. Und auch die Revision dagegen, wurde vom Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen. Im Dorf wehten jedesmal die Fahnen des Schützenverein, die Glocken wurden geläutet.

Am Ende hatten Form- und Planungsfehler und der Starrsinn einiger Dörfler zur Rettung geführt. Scheinbar. Denn der RTV pokerte und drängte noch jahrelang weiter, plante offenbar nach einer Schonfrist mit der Umsetzung erneut zu beginnen. Noch bis 2005 betrieb er „Standortsicherung“ in Brunskappel und begann erst dann Grundstücke im Dorf wieder zu verkaufen. Ein erstaunlich ausdauerndes und zugleich selbstherrliches und die Gemeinschaft zersetzendes Verhalten durch einen öffentlich-rechtlichen Betrieb unter der Aufsicht des Landes. Hier in Brunskappel, reines CDU Land, sind jedenfalls damals die ersten Wutbürger zur Welt gekommen, nicht in Stuttgart am Bahnhof.

Schloß und Mensch
Das bereits erwähnte Schloß, der Prunkbau neben der Neger gleich am Eingang zum Dorf, spielt in diesem Drama auch eine Rolle. Das Schloß Wildenberg hat einige hundert Jahre Geschichte, Abriss, Umbau und Brand, dann Neubau 1907 hinter sich. Heute wirkt es eher wie ein Herrenhaus hinter großem Tor, ein wenig verloren und vernachlässigt, ist aber ein Hingucker, wenn man wie ich in vier Monaten durch 80 oder 100 Dörfer der Region gekommen ist, die sich architektonisch doch sehr ähnlich sind.

Eigentümer diese Monolithen war bis vor ein paar Jahren der verhasste Ruhrverband. Jene Institution, die sich 30 Jahre dem Untergang Brunsskappels widmte. Wie ist es dazu gekommen? Dem letzten Wildenberg der 70er Jahre stand, nach einigen 100 Jahren Familiengeschichte im Ort, finanziell das Wasser bis zum Hals. Da kam der Plan des Ruhrtalsperrenvereins (heute Ruhrverband), eine Talsperre zu bauen und Brunskappel im Stausee versinken zu lassen, gelegen.
Und obwohl Schloßeigentümer Schäfer-Wildenberg sich im Dorf als Vorkämpfer für den Erhalt des Dorfs gab, verkaufte er im zehnten Jahr es Kampfes 1984, nur eine Stunde vor der endgültigen Gerichtsentscheidung über die Talsperre, für einen zweistelligen Millionenbetrag seinen gesamten Besitz an den Ruhrverband. „Eine Stunde! Die wussten, wie das ausgehen würde. Das ist der eigentliche Skandal“, sagt einer im Dorf.

Seit ein paar Jahren ist das Schloß wieder in Privatbesitz, wenn auch nicht in der Hand derer von Wildenberg: Der alte Schäfer-Wildenberg kehrte auch nach dem Aus für die Negertalsperre nicht nach Brunskappel zurück, spekulierte angeblich mit Kakao, tätigte einige fehlschlagende Investments und verstarb vor wenigen Jahren offenbar völlig verarmt.

Ein Wald von Geschichten
Eine weitere Geschichte, über die ich stolperte, ist die von den zwei Sägewerksbesitzern, deren Konkurrenz über die Jahre zu Hass geronn. Zwei Feinde wie in einem Shakespeare Stück oder bei Dallas. Der eine ein erbitterter Gegner der Talsperre, der andere ein klassischer Kriegsgewinnler. Der eine heute tot, sein Sägewerk in Konkurs gegangen, der andere reich und mit hochmodernem Sägewerk in der Region der Platzhirsch. Da gönnte man sich nicht das Schwarze unter den Fingernägeln und kämpfte sich mit Tricks und Taktik wund.

Die Details dieser Geschichte würden hier zu weit führen, geben aber in jedem Fall einen guten Roman ab. Vielleicht schreib ich den, wenn nicht bald ein anderer tut. Wie ich schon in meinem Text über Literatur im Sauerland schrieb: Geschichten gibt es genug, richtig gute, tragische und witzige. Was in diesem Dorf zusammenkommt, ist eine Mix vieler Sauerland Essenzen.

Überhaupt seien, so erzählt man mir im Dorf, in den langen Jahren des Kampfs gegen die Talsperre wie in einem Brennglas alle erdenklichen menschlichen Schweinereien im Dorf vorgekommen, windige Figuren mischten mit und wollten ans locker sitzende Geld des Ruhrverbands, dazu Lügen, stiller Verrat und Intrigen.
„Noch heute, wenn eine Kleinigkeit vorfällt, brechen die alten Fronten wieder auf“, erzählt einer, „Da müssen ein oder zwei Generation vergehen, bevor das vergessen ist – wenn es das Dorf dann noch gibt.“

Heute leben nur noch 246 Einwohner in Brunskappel, diesem hübschen, alten Sauerländer Dorf. Holländer haben sechs oder sieben Häuser gekauft, kommen aber nur in den Ferien. Es gibt (fast) keine Kinder und derzeit keine Familien, die Kinder bekommen könnten. Wenn nichts passiert, frische Ideen und Kinder geboren werden, wird es diesmal wohl untergehen. Aber nicht im Wasser einer Talsperre, sondern in Überalterung und Landflucht des 21. Jahrhunderts und den Spätflogen einer nie gebauten Talsperre.

Mehr von Christian Caravante

04:27 Uhr, Großmarkt Dortmund

Nachts sind alle Städte schön. Nur nachts möchte ich sein, durch Straßen streifen, Fahrtwind spüren und keinen Gegenverkehr. Kälte in Zuneigung verwandeln und in ein Ich, das schaut, sammelt und sich lässt. Alles mit sich machen lässt – und die Welt annimmt, wie sie ist.

Auf dem Großmarkt in Dortmund muss man die Welt annehmen, wie sie ist. Diese Welt aus Fischen und Früchten, aus Hubwagen und Kisten. Aus Männern hinter Pulten und Männern unterm Scheffel. Stilisierte Frauen werben still für Äpfel, Physalis und Bananen. Das Eigentliche findet in den Hinterzimmern statt. Geschäftiges Misstrauen in den Blicken, wer sind die, was wollen die, Großkunden sehen anders aus. Anekdoten über Händler, die sich mit Kunden streiten. Ich habe dich beim Nachbarn gesehen, zu mir musst du nicht mehr kommen. Streng reglementierte Besitzverhältnisse und ein Verständnis von Jovialität, das dem Jetzt nicht mehr entspricht. Jede Halle ist einem eigenen Regiment unterworfen, das Obst ist träge. Es wird in Kulturen unterschieden, gedacht und gehandelt – eine vertane Chance; auch Suppe ist eine Option, um fünf Uhr morgens. Gegen die Entwicklungen in der Branche fühlt sich niemand mehr gewappnet. Allein sitzt der Mann in seinem Häuschen im Containerverschlag, der für die Wertstoff-Sortieranlage genutzt wird. Er sitzt schon lange da, und wird es noch eine Weile tun. Hinter den Hallen erinnern Gleise an einst genutzte Transportwege. Verkehrsschilder hängen schief. Und dann ist da der Wendekreis.

Am Wendekreis endet die Welt, und sie beginnt. Jemand hat sein Fahrrad dort abgestellt, ein anderer Paletten. Danach geht es zurück, immer wieder. Der Gedanke daran ist das schönste Bild. 04:58 Uhr



>Großmarkt Dortmund<

Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Vielleicht muss man bald von einem Relikt sprechen, denn die (inter-)nationalen Marktstrukturen sprechen mittlerweile eine andere Sprache: Wie ein Großmarkt im wörtlichen Sinn fühlt sich der Großmarkt Dortmund nicht mehr an. In eine andere Welt taucht man trotzdem ein.
So, wie der Großmarkt heute ist, gibt es ihn seit 1951/1952 auf dem Bundesgelände am Bahnhof Dortmund Süd. 1976 gründete sich die Großmarkt Dortmund Genossenschaft, seither betreiben ansässige Unternehmen den Markt selbstständig. Der Dortmunder Großmarkt ist einer der zehn größten Märkte in Deutschland (es gibt insgesamt 25), aktuell sind 23 Händler dort tätig. Bei dem Großmarkt handelt es sich um einen Frischemarkt. Es werden Obst und Gemüse, Frischfisch, Fischwaren, verpackte Lebensmittel, Frischfleisch, Kartoffeln und Zwiebeln verkauft. Daneben gibt es eine Bananen-Reiferei, Kühlhäuser und Lager. Der Großmarkt versorgt nach eigenen Angaben in einem Radius von 200 Kilometer etwa 3 Millionen Einwohner.

 

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21:51 Uhr, Essen PACT Zollverein

In den Mulden liegen Seifenreste, fein trapiert für Staunende. Sauberkeit als sinnliches Moment, weißkachelige Emotionen – ein Ort für Menschen ohne Makel, weiche Haut und fließenden Bewegungen. Im Aufführungssaal wird Kontrast gewollt: absolute Dunkelheit, bizarre Schreie, Reenactement am fremden Leib. Eine Verausnahmung des Körpers, des Frauseins, der Witz damit und Brüste, die, schmerzhaft rotierend, Bezüge aushebeln wollen – aber so ganz gelingt es nicht; selbst darin sind die Menschen schön.

Der Weg nach draußen wird fast zur Flucht, eine Flucht aus dem ästhetisch Perfekten, aus der weißfarbigstrahlenden Reinheit. Einkacheln könnte man sich hier, der Wille ist stark, die Umgebung natürlich – aber man selbst? Schweiß, Schmutz, schwarze Gedanken. Was auf der Bühne heraufbeschworen werden wollte, wird nie wirklich ankommen in dieser Welt, nur noch namentlich bekannt als Waschkaue. Die Reinkarnation ist bereits vollzogen, egal, wie oft Canaille gerufen wird.

Wie traurig das Aufatmen nach dem Verlassen des schönsten Ortes, die unbedingte Suche nach dem alltäglichen Kontrast. Der auch eintritt, unmittelbar: In einem matt-grauen BMW vor dem Eingang sitzt ein Mann, der bei heruntergelassenem Fenster Clubmusik hört, dabei nervös mit dem Kopf wippt, während – filmisch perfekt – weitere sechs Männer um die Ecke kommen, Bauarbeiterhelme und Sicherheitswesten tragen, und an dem fein gekleideten Premierenpublikum vorbeigehen. Niemand schaut, jeder ist für sich in seiner Gruppe und doch berühren sie einander. Das ist Schönheit. 21:58 Uhr


Waschkaue

Umkleide- und Waschraum auf einer Zeche. In der Regel besteht eine Waschkaue aus zwei etwa gleich großen Räumen, der Weißkaue und der Schwarzkaue. In der Weißkaue kam die Straßenkleidung der Bergleute unter, in der Schwarzkaue die Arbeitskleidung. Entsprechend kann man sich den Sauberkeitsgrad der Körper der Bergleute (vor der Schicht, nach der Schicht) vorstellen.


>PACT Zollverein<

Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue von Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue der Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Seit Anfang der 1990er Jahre wird die ehemalige Waschkaue der Zeche Zollverein als Aufführungsort für zeitgenössischen Tanz genutzt. Es ist das choreographische Zentrum NRWs, und das merkt man auch. Toller Ort, tolle Atmosphäre – und gute Stücke. Bei meinem Besuch habe ich die Uraufführung aus der Monument-Reihe von Eszter Salamon gesehen: „Monument 0.5: The Valeska Gert Monument„, eine historisch-empirische Aufarbeitung des Lebens der avantgardistischen Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert (1892-1978). Foto Titelbild: Ursula Kaufmann

 

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Wie Kiezgrößen entstehen – Eine Gebrauchsanweisung

Nimm ein Viertel, nicht groß. Ein Viertel kann schon eine Straße sein. Das ist legitim, ist mir mehrfach untergekommen. Wer das Ziel hat, schnell Bekanntheit zu erlangen, der suche sich am besten ein Ein-Straßen-Viertel. In der Straße sollte man aber nicht wohnen. Man hat ja nicht immer Muße, erkannt zu werden. Eine Wohnung in einer Nebenstraße ist oft günstiger und verstärkt das Mysterium um einen selbst (wo wohnt er/sie bloß?) und damit – natürlich – den Bekanntheitsgrad.

Wichtig ist es, so schnell wie möglich andere Kiezgrößen ausfindig zu machen. Den Kontakt sollte man nicht scheuen, es geht um alles. Und dann geht es auch erst mal so: Andocken, integrieren, absorbieren lassen. Dabei sein, also oft. Sich aber auch rar machen. Nicht zu oft, aber oft. Empfehlenswert ist es, sich in zeitlichen Schüben zu zeigen: Mal eine Woche täglich, dann wieder Tage nicht mehr. Zu Veranstaltungen oder Kneipeneinladungen erst auftauchen, wenn die anderen bereits angeheitert, aber noch nicht allzu betrunken sind. So entstehen Freundschaften, das hat etwas mit Spatien zu tun. Das ist lateinisch und bedeutet Zwischenräume. Kommt nicht von mir, hab ich mir von einem Freund geliehen. Was den Sympathiewert erhöht: Wortschatz des anderen annehmen. Aber: nicht alles. Gerne auch mal ironisch brechen, aber nicht übertreiben. Gleiches gilt für das Angehen gemeinsamer Projekte: Entgegenkommen, zum Teil. Dann klar formulieren, was man will. Dann machen.

Für den Nervenkitzel und vor allem für den eigenen Spaß: Improvisationsmomente zulassen. Nicht alles durchdenken, nicht alles verplanen. Dinge passieren lassen. Vom Hörensagen leben, das kommt dann schon.

Die anderen Kiezgrößen nicht verdrängen. Man lebt in friedlicher Koexistenz, eine Unterscheidung in den Künsten ist zu empfehlen. Nicht das gleiche machen wie die etablierte Größe. Was auch immer die jeweilige Kiezgröße so Besonderes kann, das kann nämlich alles sein. Von der Marke „verkannter Musiker“ über „verkannter Kunstlehrerkünstler“ bis hin zum Viertel-Juristen, der aussieht wie ein französischer Schauspieler und auch so guckt und der auch noch genauso leger über die Straße läuft in seiner ockerfarbenen Bluson-Jacke und diesem melancholisch-kecken Ausdruck in den Augen und seinen Haaren und … Nun gut.

Man sollte in jedem Fall genau beobachten und dann: was zusammen machen. Funktioniert nicht immer mit dem Wunschkandidaten, aber man sollte am Anfang nicht wählerisch sein. Das gleiche gilt für Straßen-Bekanntschaften: Alle Menschen grüßen, die man kennt und an einem im Viertel vorbeilaufen. Kurz quatschen. Drei Minuten aber maximal, dann weiter.

Das alles durchziehen für eine x Zeit, dann aber auch wissen, dass man gehen muss. Auch, wenn es schwer fällt. Sehr schwer. Zum Heulen schwer.

Je Viertel schaffen es immer nur ein bis zwei Kiezgrößen auf Dauer. Man kann davon ausgehen: Man selbst ist es nicht. Deswegen: fluktuieren, andere Viertel finden. Noch mal von vorne anfangen.

Bis dahin, eigene Erfolge wie folgt feiern:

den Kleidungsstil ändern, leicht aber nur. Bloß nicht zu viel. Das gleiche bei Bewegungsabläufen, Mimik und Gestik. Menschen in die Augen schauen. Scham ablegen. Draußen essen. Alleine unterwegs sein. Promenieren, im wörtlichen Sinn. Lesen. Schweigen.

Und: sich in Ruhe anschauen lassen.

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03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

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