16:35 Uhr Essen-Altenessen Kaiser-Wilhelm-Park

„Opa, spielst du bitte mit?“

Ein Mädchen in weißem Sommerkleid und bunten Tüchern an den Handgelenken legt beide Hände auf die Schultern eines älteren Mannes, der auf einer Bierbank sitzt. Hinter ihm türmt sich ein bunter Kreidehaufen, Kinder und Erwachsene malen Häuser und Mandalas auf den Asphaltboden. Andächtig und konzentriert, so scheint es, wie alle an diesem Tag im Kaiser-Wilhelm-Park. Der Mann nimmt die kleinen Hände seiner Enkeltochter und schüttelt den Kopf.

„Ach, bitte. Jeder kann das.“
Die Antwort ist schroff: „Ich nicht.“

Auf der Wiese hinter dem Mädchen stehen Kinder mit ähnlichen Tüchern an den Handgelenken, sie rufen. Das Mädchen löst sich von ihrem Großvater und rennt los. In einer Gruppe stehen sie nun zusammen, auch Erwachsene sind dabei. Sie sprechen sich kurz ab, dann laufen sie im Kreis, machen Flugbewegungen mit den Tüchern. Das Konzept bleibt unklar, aber ein Luftballon in Form eines Delfins begleitet den Wiesentanz. Das macht es dann wieder stimmig. Der Großvater starrt derweil auf den Kreidehaufen. 16:39 Uhr



>Tag im Park, Essen-Altenessen<

Alles für Alle. ©mhu
Alles für Alle. ©mhu
Das Netzwerk X ist ein Verbund aus über 50 KünstlerInnen-Gruppen. Das Netzwerk setzt sich für die Stärkung des Kunst- und Kulturbetriebs im Ruhrgebiet ein. Es gibt monatliche Netzwerktreffen, zu denen alle Interessierte eingeladen sind. Über 100 KünstlerInnen nahmen am diesjährigen „Tag im Park“ in Altenessen teil. „Tag im Park“ versteht sich als genrefreies Kunstfestival. 2016 fand die Veranstaltung zum ersten Mal statt.

 

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17:38 Uhr, Mülheim (Ruhr) Hauptbahnhof

Schwer wiegt die Welt im Septemberregen. Eilig klatschen Schritte über den Bahnhofsboden. Pfützenphonetik und onomatopoetische Abwägbarkeiten; schon der Sommer hat kein Geheimnis daraus gemacht. In der Schleuse zwischen Hauptbahnhof und Einkaufszentrum wird auf die Ausgänge gestarrt. Sichtbare Bedenken. Da jetzt raus? Manch einer wartet. Lehnt sich an die Wand in der Nähe der Tür. Schon stehen in einer Reihe, voneinander abgesetzt: Frauen und Männer. Ihre Blicke sind auf die Smartphones in ihren Händen gerichtet, kaum einer schaut auf. Ihre Gesichter spiegeln die Emotionen eines langen Tages. Vielleicht hier eine Nachricht, da eine Absage. Verhaltensweisen. Öffentliche Zelebration eines In-Sich-Zurückziehens; es regnet in Schüben, das passt gut. Wieder ein Schwung Feierabendpendler, beladen mit Rucksäcken und Sorgen, auf dem Weg zum Parkplatz. Oder zum Bus.

Ein Mann, schwarz gekleidet, kurzes, blondes Haar, läuft eng an den Wand-Menschen vorbei. In Höhe der Frau, die als letzte kurz vor dem Ausgang steht, hebt er seine Hand und zieht sie im Vorbeigehen durch die Leere zwischen ihrem Gesicht und ihrem Handy. Die Frau schaut überrascht auf, irritiert folgt ihr Blick der sich entfernenden Hand, dann sieht sie ihn an. Er sagt etwas Unverständliches, sie lacht, er geht durch die Tür, ist fast um die Ecke, bleibt dann abrupt stehen, dreht um, geht ins Bahnhofsgebäude zurück und positioniert sich in einigem Abstand vor der Frau, die bereits wieder auf ihr Smartphone schaut.

„Hallo?“, sagt er. Die Frau guckt auf. Er legt den Kopf zur Seite, sagt: „Krass. Du hast wirklich so schöne blaue Augen.“ Die Frau lacht, lauter und voller als zuvor, der Mann lächelt. Dann macht er kehrt, und kommt nicht wieder. Die Frau schaut sich um, steckt ihr Handy in die Jackentasche, löst sich von der Wand, steht gerade. Ihre Augen funkeln. 17:42 Uhr


>Mülheim (Ruhr) Hauptbahnhof<

Regentage. Oder: Mülheimer Romantik. ©mhu
Regentage. Oder: Mülheimer Romantik. ©mhu
Der Hauptbahnhof in Mülheim an der Ruhr ist ein seltsames Konstrukt. Man kommt an, und findet den Haupteingang nicht. Man folgt dem Strom der PendlerInnen und Reisenden, die auf das direkt anschließende Einkaufszentrum zu gehen, und man merkt erst gar nicht, dass man sich mit jedem Schritt aus dem Bahnhof entfernt, aber in eine Richtung, in die man eigentlich gar nicht will. Der Mülheimer Bahnhof war wohl schon immer klein, unscheinbar. Seine Bahnhofsgeschichte ist eine traditionelle.  Da nun aber im Verlaufen auch das Entdecken liegt, ist der Mülheimer Bahnhof ein wunderbarer Ort für EntdeckerInnen.

 

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20:46 Uhr Dortmund Campus TU Dortmund

Am rechten Rand der Otto-Hahn-Straße blitzen zaghaft zwei Dutzend spitz-weiße Pavillons. Zwischen dem IT & Medien Centrum und dem Institut für Roboterforschung kommt die Kälte von unten. Die Wiese ist weitläufig, und dann ist sie mehr: eine Metapher vielleicht, eine Leere zwischen Robotern und IT. Eng beieinander sitzen die Gäste, Gras macht die Füße feucht. Kleine Plakate kündigen den Programmpunkt an: Eröffnung, Campfire Festival für Journalismus und Neue Medien. Vier Kameras sind auf die Bühne gerichtet. Am Klavier: der palästinensisch-syrische Pianist Aeham Ahmad, am Tisch daneben: Ariel Hauptmeier, Journalist. Das Leuchten ihrer Stimmen, Hände und Augen ist der einzige Wärmefilter des Abends. Manch eine rückt näher an die andere, konzentriert wird geschaut, so etwas bindet, vielleicht.

„Ist jetzt nicht so die Musik für Wodka“, ist da vom Rand der Bühne zu hören.
„Auch nicht so für Gin.“
„Ich hol mal Bier.“

Eine Gruppe von Männern hockt auf schwarzen Getränkekisten. Einer bringt mehrere Bierflaschen, auf den Etiketten ist das halbe Ruhrgebiet vereint: „Hattingen“, „Waltrop“, „Duisburg“, „Bochum“, „Unna“. Es wird geprostet, es wird geredet, spekuliert, getrunken. Nach einer Weile löst sich aus dem Publikum eine Frau. Sie kommt auf die Männer zu, sagt: „Könnt ihr ein bisschen leiser sein?“ – „Klar“, brummt es laut. Dann zückt einer sein Smartphone, richtet es auf die Bühne. Die anderen versammeln sich hinter ihm. Wie zur Aufstellung eines Gruppenfotos stehen sie da, schauen angestrengt auf das Display. „Die Qualität ist so scheiße“, sagt der mit dem Smartphone. Als Ariel Hauptmeier zum nächsten Kapitel aus dem Buch „Und die Vögel werden singen“ ansetzt, ist die Gruppe verschwunden. 21:03 Uhr


>Campfire – Festival für Journalismus und Neue Medien<

Es ist die erste Ausgabe des Campfire – Festival für Journalismus und Neue Medien. Organisiert vom Institut für Journalistik an der TU Dortmund und dem journalistischen Portal Correctiv geht es noch bis 9. September um Themen wie Datenjournalismus, Programmieren für Anfänger, Recherche im Darknet, politischer Journalismus, Umgang mit Fake News, aber auch Reporter Slam, Kolumnen schreiben, u.v.m. Die Festival ist kostenlos, das Programm ist hier einzusehen.

 

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12:54 Uhr, Essen Museum Folkwang

Stille, ein Gefühl des Aufgeregtseins, des Entrücktseins, des Dort-, nicht des Hierseins. Lesesaal, Ruhesaal. Möbel im Bauhausstil, klare Farben, zurückgenommen; niemand da. Das Surren einer Anlage, scheinbarer Wind, Zäsur: das Knarzen des Stuhles beim Hinsetzen, Zurücklehnen. Die Suche nach exakten Beschreibungen, nach Worten, die das begreifen, was ist. Kein Geruch, aber der Wunsch nach Strenge, die Möbel: herausgerissen aus einem Schlaf. Keine Begriffe für Klarheit, keine Worte für Glasfenster und Kuben. Ein, ein, aus, atmen. Die Finger in das Polster drücken, Knautschzonen ausmachen, versuchen, Struktur zu erfassen. Warten, bis jemand kommt. Darf jemand kommen? Ist es erforderlich, dass jemand kommt? Muss es zwingend ein ‚zu zweit‘ geben im Raum? Aber dann auch: Muss es Raum geben? Dazu, entfernt aus dem Off: „Wie weit muss in die Vergangenheit zurückgegangen werden, um die jüngste Vergangenheit vergessen zu können?“* Der Blick in den Hof, hier: gewölbt, Skulptur. Einzelne Wirbel der Skulptur mit den Augen abtasten, fühlen, wie es sich fühlen könnte. Der Wunsch nach Nahtlosigkeit, und dann doch: nach einem ‚zu zweit‘, und keinem Raum. Der bewusste Griff nach Übereinstimmung, dem Weltverständnis in einem Satz: „romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel“ und „magische[r] Realismus.“**

Und dann, ganz abrupt, geht von links die Tür auf. Ein Mann betritt den Raum. Er trägt einen schwarzen Anzug und einen verkabelten Stöpsel im Ohr. Er schaut verwundert, nickt dann unmerklich, lässt die Tür ihr Übriges tun, geht durch den Raum, seine schwarzen Schuhe quietschen, er schaut auf den Boden, er bleibt unvermittelt stehen, scharrt mit dem linken Schuh, nachdrücklich, es geht nicht weg, er wartet, entscheidet, belässt es, geht weiter, öffnet die Tür – und zwar eine andere. Sie fällt krachend ins Schloss. Irgendwo wird gelacht, und jemand sagt: „Ach komm. Das ist doch Gelsenkirchener Barock.“*** 13:11 Uhr


Quellen der Zitate in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

*Peggy Buth: Leute wie wir. Altenessen, Karnap, Rheinhausen, Marxloh, Bredeney, 2017. 3-Kanal-HD-Projektion, Farbe, S/W, 2-Kanal-Stereo Sound.
**Ausstellungstext im Raum Neue Sachlichkeit, Sammlung Museum Folkwang. Vollständiger Satz: „Sie (die Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Anm. d. V.) nutzen romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel und entwickeln einen magischen Realismus.“
***Annett Gröschner, Autorin.



>Museum Folkwang<

Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Die Architektur des Museum Folkwang in Essen ist eine einnehmende. Die Klarheit des Gebäudes lässt Raum für die Kunstwerke, die Inhalte, die KünstlerInnen. Neben der ständigen Sammlung, die Malerei und Skulpturen des 19. und 20. Jahrhunderts beinhaltet, sind die Einzel- und Gruppenaustellungen immer auf der Höhe der Zeit. Mit dem 3. September enden die Ausstellungen von Arwed Messmer (RAF – No Evidence/Kein Beweis), Peggy Buth (Vom Nutzen der Angst) und San Francisco 1967 – Plakate im Summer of Love. Es folgt: Alexander Kluge (Pluriversum). Die Vernissage ist am 14. September, der Eintritt ist frei.

 

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17:41 Uhr, Duisburg Sechs-Seen-Platte

Auf dem Wambachsee herrscht Feierabendstimmung. Hier platschen Kinder, da sitzen Paare in Tretbooten, in der Nähe des Ufers balanciert eine Gruppe auf Surfbrettern. Eine Frau in Sportbikini und Taucherbrille steht auf ihrem Surfbrett, die eine Hand in der Hüfte, in der anderen: eine Paddel. Sie spricht mit einem Mann in olivgrüner Montur am Ufer, Angel und Angelkoffer stehen ungenutzt neben ihm. Im Vorbeigehen ist zu hören:

„…und das Wetter war ja mal ein Traum. Nicht so wie hier. Zwei Wochen Mittelmeer, das kann schon was. Aber bevor die Arbeit wieder losgeht, musste das jetzt hier mal sein. Ist ja auch nicht alle Tage so.“

Der Angler nickt. Dann sind er und die Frau auf dem Surfbrett aus dem Bild, Radfahrer ziehen vorbei, in einem Gebüsch am Wegesrand zetert eine Amsel. 17:42 Uhr



>Sechs-Seen-Platte<

Schon immer waldreich: das Gebiet um die Sechs-Seen-Platte. ©mhu
Schon immer waldreich: das Gebiet um die Sechs-Seen-Platte. ©mhu
Wambachsee, Masurensee, Böllertsee, Wolfssee, Wildförstersee und Haubachsee: Die durch Kiesabbau über Jahrzehnte hinweg entstandenen Seen werden seit den 1960er Jahren von der Stadt Duisburg betreut. Der Ausbau zum Freizeitort ist seitdem Priorität. Die Waldwege rund um die Seen werden zumeist von „Betreten verboten“-Schildern gerahmt – hier ist Naturschutzgebiet. Auch der Haubachsee ist nur über einen Beobachtungsstand einsehbar. Entsprechend groß ist die Vogelvielfalt. Für Wassersportler, Familien und Wochenendausflügler ist die Sechs-Seen-Platte willkommene Abwechslung zur Stadt, die etwa sechs Kilometer entfernt liegt. Freibad und Yacht-Club inklusive.

 

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12:08 Uhr, Landschaftspark Duisburg-Nord

Zwischen stillgelegten Hochöfen und Werkshallen stehen vereinzelt Gruppen, in der Regel: familiengleich. Symmetrisch angeordnete Alleebäume wachsen aus sauber-grauem Kiesboden, ein gelbes Schild weist auf die Kollisionsgefahr von Mensch und Kran hin. Satzfetzen wabern über das Gelände: „Stell dich mal hier hin“, „Das ist aber hoch“, „Damals war das noch anders“, „Schau dir mal die Struktur an. Macht man heute auch nicht mehr so“, „Ich kann mich noch erinnern, als das hier alles …“, „Du musst es dir ein bisschen trüber vorstellen…“, „So ne Burg baut sich nicht in zwei Stunden“, „Als ich hier gearbeitet habe…“, „Ist ja alles ganz nett hier, aber warum muss denn immer dieser schreckliche Freizeitfaktor im Vordergrund stehen? Ich will hier nicht die Wände hochklettern. Ich will Füchse sehen“, „…und diese Lautstärke…“, „Mama, guck! Da hinten ist IKEA“.

Aus der Geräuschkulisse tritt ein Junge hervor. Er schaut interessiert, er geht auf die Dinge zu. Fasst Gitter an und Stämme. Vor einem Objekt neben dem Imbiss bleibt er stehen. „Hände waschen!“, ruft er freudig, zeigt auf das Objekt und dreht sich zu einer Frau und einem Mann um, die auf ihn zukommen. „Nee, hier kannst du nicht Hände waschen“, sagt der Mann. Der Junge fasst das Objekt an. „Wieso nicht?“, fragt der Junge. „Das ist ein Bohrer. Den kann man nur noch angucken“, sagt der Mann. Der Junge lässt die Hände fallen, schaut zu dem Mann und zurück.
Sein Blick: überrascht, verständnislos. 12:19 Uhr



>Landschaftspark Duisburg-Nord<

Seit den 80er Jahren stillgelegt: Die Rohre auf dem ehemaligen Hüttenwerksgelände in Duisburg-Meiderich. ©mhu
Seit den 80er Jahren nicht mehr in Betrieb: Die Rohre auf dem ehemaligen Hüttenwerksgelände in Duisburg-Meiderich. ©mhu
Der Duisburger Norden ist geprägt von Kohle, Stahl und Eisen. Thyssen wirkte hier ab 1901, nach der endgültigen Stilllegung des Hüttenwerks Anfang der 1980er Jahre wurde das Gelände erst Industriebrache, dann – mit viel Bürgerengagement – Kultur-, Sport-, Freizeit- und Naturort. Der Landschaftspark eignet sich für klassische Spaziergänge und kuratierte Erkundungen. Veranstaltungen, wie etwa die Ruhrtriennale, finden in und rund um die Werkshallen statt. Das Gelände ist frei zugänglich, es bedarf keiner Führungen, um auf die Hochöfen steigen zu können.
Street Art und Liebesschlösser sind Schmuckstücke des Industriegeländes – der Rest ist Geschichte.

 

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