Der Ort, der mein Sauerland IST

Brunskappel: Dieses Dorf im Hochsauerlandkreis hat alles. Alles jedenfalls, was nach vier Monaten Sauerlandschreiberei für mich diese Region ausmacht. So läge das Dorf zum Beispiel ohne die immer wieder behauptete Sauerländer Sturheit heute am Grunde eines Stausees. Eine erstaunliche Überlebensgeschichte. Lage, Look und Geschichte geben dem Ort eine geheimnisvolle und zugleich vertraute Aura – wie in einem Agatha Christie Krimi oder einem von Firnis verdunkelten Landschaftsgemälde.

Aber auch die Dorffehde zwischen zwei Sägewerksbesitzern und die scheinbar nicht aufzuhaltende Schrumpfung gehören ins Bild. Und das zwischen Fachwerk und dunkle Holzverschläge bizarr überdimensioniert wirkende Schloß am Ortseingang, Ausdruck alter Feudalzeiten. Es war dazu bis vor ein paar Jahren in der Hand des „Feinds“, der das Dorf zerstören wollte.
Dabei hätten die zwei kauernden Löwen (Schafe? Hunde?) am Tor zum Schloss Wildenberg sicher auch unter Wasser toll ausgesehen.
Von Deutschlands angeblich ältester, der so genannten „1000 jährigen Eiche“ (die in Wahrheit wohl 300-500 Jahre alt ist) in Brunskappel, sind heute wegen einer Baumkrankheit auch nur noch Reste übrig. Ein schlechtes Omen für das schrumpfende Dorf, das selbst durch Sturheit diesmal kaum noch zu retten scheint.

Mein ganzes Sauerland verdichtet
Zunächst mal ist die Einfahrt ins Dorf eine Linkskurve und unterstützt damit meine wirre Theorie, mit der der Sauerlandaufenthalt und meine Motorradfahrerei im ersten Text zusammenkamen.
Mitten im Dorf führt außerdem eine kleine Straße eng und kurvig den Berg hinauf Richtung Elpe und lässt mich jedesmal freudig grinsen beim Hinaufknattern. Schonmal zwei Dinge, die für mich „Sauerland to love“ sind.

Der kleine Ort im Negertal hat zum Teil 300 Jahre alte Fachwerkhäuser, ist umgeben von Wald, Feldern und Weihnachtsbaumschulen und hat überhaupt sehr viel Sauerländer Geschichte hinter sich: Brunskappel ist wie die Eiche nominell über 1000 Jahre alt: Erzbischof Bruno von Köln stiftete hier, am Bächlein Neger, zwischen Winterberg und Olsberg vor über 1000 Jahren eine Kapelle, die (viel) später namensgebend für die Siedlung wurde. Da haben wir, tiefgründend, das Katholische in der Einöde, das so lang bestimmend war fürs Sauerland.

In der großen Kirche des Dorfs erfüllt eine 250 Jahre alte Barockorgel den Raum mit Musik und erinnert mich an den Film „Schlafes Bruder“: ein Bauernjunge als unerkanntes Musikgenie des 19. Jahrhunderts. Das hätte in der Abgeschiedenheit und walddunklen Talwelt des Sauerlands auch passieren können.

Allmählicher Aderlass
Heute hat Brunskappel die gleichen Sorgen, wie viele kleine Orte der Region: es gibt keine Kneipe, keinen Arzt, kein Café, keinen Bäcker, keinen Metzger, keine Schule. Von den vor 30 Jahren im Kampf gegen die Talsperre vereinten und später entzweiten 400 Einwohnern sind heute noch rund 250 übrig. Am Ortsende, direkt an der vielbefahrenen Straße durchs Tal, stehen einige Häuser leer.
Weiter hinten, wo sich das Tal weitet und einen schönen flachen Seegrund hergegeben hätte, spielen an einem sonnigen Sonntag nur drei Kinder neben der plätschernden Neger Fussball. Trotzdem gibt es natürlich eine Schützenbrüderschaft und Schützenhalle, auch einen Dorfverein und eine freiwillig Feuerwehr. Es gibt sogar jemanden, der Kunst macht, jedenfalls prangt „Galerie“ an einem Nebengebäude vom Schloß, wo Steine mit eingearbeiteten Kristallen oder Metallteilen stehen. Sorgen, Selbstverständliches und Eigensinn Sauerland Style.

Es gibt sie doch, die sagenhafte Sturheit
Dass man heute noch durch Brunskappel schlendern kann, über die kleine Brücke über die Neger, in die Kirche, um die Orgel zu sehen, den Hang hinauf zu den Höfen, zur Schützenhalle, ist zweifelsohne der immer wieder behaupteten Sauerländer Sturheit geschuldet.
Die Geschichte um die Talsperre ist faszinierend. Damals berichteten von  Spiegel über Die Zeit viele überregionale Medien darüber: Der Kampf des kleinen Dorfs gegen den Regierungspräsidenten, die Landesregierung und den Ruhrtalsperrenverein (RTV) in Essen. Er dauerte zehn Jahre, von 1974 bis 1984. 400 Dörfler im Tal gegen die Politik und Verwaltung und Gerichte sowie 600.000 Menschen und die Industrie im Ruhrgebiet, die mit dem Talsperrenwasser hätten versorgt werden sollen.

In dem langen, bitteren Kampf zerbrach aber auch das Dorf in zwei Hälften: diejenigen, die ob der scheinbar immer geringeren Chancen, das Dorf zu retten, den Streitereien im Dorf und der nicht endenden Ungewissheit ihre Häuser irgendwann für gutes Geld an den RTV verkauften und denjenigen, die weiter kämpfen wollten – Plansfeststellungsverfahren, 50 Millionen investierte DM vom RTV, Landesentwicklungsplan und beginnenden Vorarbeiten zum Trotz.

Bald gab es eine Bürgerinitiative für die Talsperre und eine dagegen, es gab Anfeindungen, Straßenseiten wurde gewechselt, bei bestimmten Leuten nicht mehr gekauft, Begriffe wie „Dorfverräter“ vergifteten das Zusammenleben, es wurde nicht mehr miteinander gesprochen, aber Flugblätter gedruckt. Wer diese Stimmung über Jahre in einem 400 Seelenort ohne Blessuren übersteht, hat ein gesundes Selbstbewusstsein – oder kein Herz. Sogar der Pfarrer, der die Gemeinde mehr als 20 Jahre lang betreut hatte, konnte den Streit im Dorf nicht mehr ertragen und verließ eines Nachts Brunskappel ohne sich nochmals umzusehen.

Das Dorf und der Untergang
Diese Dorfgemeinschaft, die in Essen, Arnsberg und Düsseldorf so lässig weggeplant wurde, schien also auch ohne Talsperre unterzugehen. Ende 1983, trotz laufender Verfahren und Einsprüche, fuhren Planierraupen auf. Am Nordausgang des Dorfes schoben sie rund 40.000 Kubikmeter Mutterboden zu einem Probedamm zusammen. Dann 1984 die Sensation: Das Oberverwaltungsgerichts in Münster entschied in einem Revisionsverfahren, dass die Negertalsperre nicht gebaut werden darf. Und auch die Revision dagegen, wurde vom Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen. Im Dorf wehten jedesmal die Fahnen des Schützenverein, die Glocken wurden geläutet.

Am Ende hatten Form- und Planungsfehler und der Starrsinn einiger Dörfler zur Rettung geführt. Scheinbar. Denn der RTV pokerte und drängte noch jahrelang weiter, plante offenbar nach einer Schonfrist mit der Umsetzung erneut zu beginnen. Noch bis 2005 betrieb er „Standortsicherung“ in Brunskappel und begann erst dann Grundstücke im Dorf wieder zu verkaufen. Ein erstaunlich ausdauerndes und zugleich selbstherrliches und die Gemeinschaft zersetzendes Verhalten durch einen öffentlich-rechtlichen Betrieb unter der Aufsicht des Landes. Hier in Brunskappel, reines CDU Land, sind jedenfalls damals die ersten Wutbürger zur Welt gekommen, nicht in Stuttgart am Bahnhof.

Schloß und Mensch
Das bereits erwähnte Schloß, der Prunkbau neben der Neger gleich am Eingang zum Dorf, spielt in diesem Drama auch eine Rolle. Das Schloß Wildenberg hat einige hundert Jahre Geschichte, Abriss, Umbau und Brand, dann Neubau 1907 hinter sich. Heute wirkt es eher wie ein Herrenhaus hinter großem Tor, ein wenig verloren und vernachlässigt, ist aber ein Hingucker, wenn man wie ich in vier Monaten durch 80 oder 100 Dörfer der Region gekommen ist, die sich architektonisch doch sehr ähnlich sind.

Eigentümer diese Monolithen war bis vor ein paar Jahren der verhasste Ruhrverband. Jene Institution, die sich 30 Jahre dem Untergang Brunsskappels widmte. Wie ist es dazu gekommen? Dem letzten Wildenberg der 70er Jahre stand, nach einigen 100 Jahren Familiengeschichte im Ort, finanziell das Wasser bis zum Hals. Da kam der Plan des Ruhrtalsperrenvereins (heute Ruhrverband), eine Talsperre zu bauen und Brunskappel im Stausee versinken zu lassen, gelegen.
Und obwohl Schloßeigentümer Schäfer-Wildenberg sich im Dorf als Vorkämpfer für den Erhalt des Dorfs gab, verkaufte er im zehnten Jahr es Kampfes 1984, nur eine Stunde vor der endgültigen Gerichtsentscheidung über die Talsperre, für einen zweistelligen Millionenbetrag seinen gesamten Besitz an den Ruhrverband. „Eine Stunde! Die wussten, wie das ausgehen würde. Das ist der eigentliche Skandal“, sagt einer im Dorf.

Seit ein paar Jahren ist das Schloß wieder in Privatbesitz, wenn auch nicht in der Hand derer von Wildenberg: Der alte Schäfer-Wildenberg kehrte auch nach dem Aus für die Negertalsperre nicht nach Brunskappel zurück, spekulierte angeblich mit Kakao, tätigte einige fehlschlagende Investments und verstarb vor wenigen Jahren offenbar völlig verarmt.

Ein Wald von Geschichten
Eine weitere Geschichte, über die ich stolperte, ist die von den zwei Sägewerksbesitzern, deren Konkurrenz über die Jahre zu Hass geronn. Zwei Feinde wie in einem Shakespeare Stück oder bei Dallas. Der eine ein erbitterter Gegner der Talsperre, der andere ein klassischer Kriegsgewinnler. Der eine heute tot, sein Sägewerk in Konkurs gegangen, der andere reich und mit hochmodernem Sägewerk in der Region der Platzhirsch. Da gönnte man sich nicht das Schwarze unter den Fingernägeln und kämpfte sich mit Tricks und Taktik wund.

Die Details dieser Geschichte würden hier zu weit führen, geben aber in jedem Fall einen guten Roman ab. Vielleicht schreib ich den, wenn nicht bald ein anderer tut. Wie ich schon in meinem Text über Literatur im Sauerland schrieb: Geschichten gibt es genug, richtig gute, tragische und witzige. Was in diesem Dorf zusammenkommt, ist eine Mix vieler Sauerland Essenzen.

Überhaupt seien, so erzählt man mir im Dorf, in den langen Jahren des Kampfs gegen die Talsperre wie in einem Brennglas alle erdenklichen menschlichen Schweinereien im Dorf vorgekommen, windige Figuren mischten mit und wollten ans locker sitzende Geld des Ruhrverbands, dazu Lügen, stiller Verrat und Intrigen.
„Noch heute, wenn eine Kleinigkeit vorfällt, brechen die alten Fronten wieder auf“, erzählt einer, „Da müssen ein oder zwei Generation vergehen, bevor das vergessen ist – wenn es das Dorf dann noch gibt.“

Heute leben nur noch 246 Einwohner in Brunskappel, diesem hübschen, alten Sauerländer Dorf. Holländer haben sechs oder sieben Häuser gekauft, kommen aber nur in den Ferien. Es gibt (fast) keine Kinder und derzeit keine Familien, die Kinder bekommen könnten. Wenn nichts passiert, frische Ideen und Kinder geboren werden, wird es diesmal wohl untergehen. Aber nicht im Wasser einer Talsperre, sondern in Überalterung und Landflucht des 21. Jahrhunderts und den Spätflogen einer nie gebauten Talsperre.

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