Der Autor

Ah, Autor? Wat für Autos machense denn? Kleiner Scherz. So, jetzt hier mal Schuhe aus, und Kleingeld aus den Hosentaschen. Rest könnense anbehalten. Ich leg jetzt einmal die Nadel, dann haben wir nachher keinen Stress. Weil, wennse dann auf dem Bauch liegen, dann komm ich nit mehr gut ran. Und wenn dann der Doktor sagt, man sieht nix, wir brauchen Kontrastmittel? Ja, dann stehenwa da.
Welcher Arm isset denn? Der linke? Schreibense mit dem? Na, dann brauchense den doch gar nit.
Ja, dat is mir schon klar: Ein Autor schreibt. Gebense mir mal den anderen. Da pieksen wir. Wo tut’s überhaupt weh? Außen? Da?
Brauchense keine Sorgen haben. Mit dem Ding hier findenwa alles. Dat läuft mit 1,3 Tesla. Gibt schon welche, die laufen mit 7. Dat is aber dann eher für Gewebe. Wir wollen ja auf den Knochen raus.
Wat sindse denn jetzt so blass? Mögense keine Nadeln?
Autor also, so so so. Krimi wahrscheinlich! Oder Fantasy? Les ich ja alles nit. Ich les nur Science-Fiction. Kennense dat? Aber nit so nen Asimov-Scheiß.
Entschuldigung.
Aber hab ich ein Mal probiert. Mach ich nit nochmal. Ich les richtige Science-Fiction. Philip K. Dick. Kennense den? DAT is ein Schriftsteller.
Legense sich mal hier hin. Genau. Und nit erschrecken. Ich zieh jetzt mal an ihnen. Hau ruck!
Da habense sich ja doch erschreckt.
Philip K. Dick also. Dat K steht für Gefahr, sag ich immer. Wennse mal schreiben können wie der, dann würd ich auch wat von ihnen lesen. Aber wennse aus Köln kommen, dann müsstense doch eigentlich singen, oder? Hab ich so dat Gefühl. In Köln singen immer alle. Kommen doch alle Bands da her. Is bestimmt wegen Karneval. Haben wir hier natürlich auch, Karneval. Aber nit so. Nit so.
Und wie gefällt es ihnen auf dem Land? Is mal wat anderes, oder? Klar, muss man mögen. Aber die Stille, sag ich immer. Die Stille!
Philip K. Dick also. Und Harry Potter. Dat les ich auch noch. Obwohl das kein Science-Fiction is. Wat hab ich immer gesagt: Geh mir weg mit dem Scheiß.
Entschuldigung.
Aber geh mir weg. Und dann hat mir das trotzdem mal eine angeschleppt. Band drei. Der lag dann da. Und nur Fernsehen is ja auch nix, sag ich immer.
Jetzt nit mehr bewegen, bitte. Geht ja auch gar nit. Den haben wir gut eingepackt, wa? Den Arm.
Und dann hab ich dat gelesen, Harry Potter. Und soll ich ihnen mal wat sagen? DAT hat Substanz. Hier, mit diesen, wie heißen die. Mit diesen Dementoren. Sowat kann man nitt schreiben, wenn man dat nit erlebt hat. Also, nit jetzt das Zaubern und so, schon klar. Aber die sind ja, also, dat is ein Symbol, ich sag mal, dat geht schon eindeutig so in Richtung: Depression.
Ich mach ihnen jetzt noch die Kopfhörer auf. Dat is, weils gleich ein bisschen laut wird da drin. Aber da müssense sich auch keine Sorgen machen. Wennse mal auf einem Höhner-Konzert waren. Dat is dat gleiche. Habense gehört? HABENSE GEHÖRT? Kleiner Scherz.
Wat schauense denn? Sindse nervös?
Ich geb ihnen gleich mal hier dat Bällchen. Da könnense drücken. Wenn wat is.
Ich bin ganz in der Nähe.

So! Dat waret schon. War nit so schlimm, oder? Kommense mal her, stehense mal vorsichtig auf. Kontrastmittel habenwa nit gebraucht. Wennse mich fragen, is dat eh nur eine Sehnenscheidenentzündung. Da hat der Arzt nur nit richtig hingesehen. Kommt vor, kommt vor. Is leider so.
Ich würd ihnen gerade mal noch die Nadel rausmachen. Schön drücken. Dat gibt nen blauen Fleck. Aber dat kommt an bei den Damen, dat sag ich ihnen. Besser als dat mit dem Geschreibsel, wa? War nämlich bei Philip K. Dick auch immer dat Problem. Wennse mich fragen. Deswegen hat der sich auch den Schädel weggekloppt mit Drogen aller Art. Na, fürs Schreiben waret gut. Aber glücklich geworden is der auch nit. Dat machense hoffentlich besser. Ich würd mich freuen, wenn ich mal wat lese von ihnen. Werdense mal berühmt!
Wat schwitzense denn so?
Is doch vorbei jetzt.

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MOMUMENT Teil XV

FÜNFZEHN

Wenige Wochen später waren wir zurück nach Berlin gezogen.
Es hatte bestimmt ein Jahr gedauert, bis ich Xae endlich vergessen hatte, und ich wunderte mich nun, dass ich diese Zeit völlig verdrängt zu haben schien.
Sie war die erste gewesen, die mich verletzt hatte, das erste, was ich verloren hatte, jedenfalls soweit ich mich nun erinnern konnte. Wir meinen ja, als Kinder seien wir unbeschwert gewesen, weil es noch nichts gab oder nicht viel, das wir vermissen konnten, nichts, von dem wir glauben konnten, es verloren zu haben. Aber stimmt das überhaupt? Welche Verletzungen habe ich noch vergessen? War Xae wirklich die erste?

Ich stand vor dem verfallenden Schloss im Jahr 2000 und fragte mich, ob es diesen Punkt in der Vergangenheit, den ich anstrebte, diesen Zustand, nach dem ich mich sehnte, überhaupt jemals gegeben hatte. Ob es dieses Gefühl der Wahrhaftigkeit, dem ich seit Jahrzehnten schon verzweifelt  nahe zu kommen versuchte, überhaupt jemals gegeben haben konnte.

Der Erdboden, nach dessen Nähe ich mich so sehnte, war doch nichts weiter als die absolute letzte Wahrheit, eine sprachlich nicht zu fassende Wahrheit, durch nichts zu erschüttern – ein Kern, ein Ich, ein Unveränderliches – unerreichbar, und damit nur als Illusion existent.

Ich hatte mich nie für jemanden gehalten, der an eine solche Wahrheit glaubt oder glauben will. Aber insgeheim hatte ich wohl doch immer danach gesucht oder zumindest gehofft, dass, wenn ich nur zurück könnte zu diesem einen imaginären Punkt, wenn ich nur tief genug graben würde…

Aber es gibt keine Zustände, begriff ich nun, nur Prozesse, nur einen einzigen Prozess. Daher kann man auch keinem Zustand gedenken und keinen Zustand rekonstruieren. Alles verändert sich permanent und unvorhersehbar. Der Wind bewegt den Grashalm, eine Hummel fällt herunter, fliegt davon, die Welt ist nicht dieselbe wie eben noch, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Ich griff nach meinem Armband und öffnete mit einem Knopfdruck die Schnalle. Sofort lag ich wieder in dem Bett in dem Zimmer in der Bibliothek in dem Land auf dem Planeten in der Zeit, die ich zu kennen glaubte und in der ich doch nie gewesen war. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob Urras wirklich nur eine Zwischenstation war oder nicht schon mein Zuhause.

ENDE

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MOMUMENT Teil XIII und XIV

DREIZEHN

Hinter mir im Gebüsch raschelte es. Eine Amsel wahrscheinlich, dachte ich und erschrak als ich mich umdrehte und einen Bisam sah. Er hielt inne, als er mich einatmen hörte und raschelte dann geschäftig davon. Ich starrte ins Gebüsch, ein Hundehaufen lag im Laub. Wieso lag da ein Hundehaufen? Hatte jemand ein Foto von der Scheiße seines Haustiers gemacht? „Das Foto zeigte den Bisam“, sagte die Stimme. „Ach, und die Scheiße habt ihr einfach mit reingenommen?“, sagte ich. Die Stimme antwortete nicht.

Ich betrachtete das Laub und fragte mich, ob es sich echt anfühlte. Das Moos zu berühren, hatte ich mich nicht getraut, aus Angst, es könnte meine Erinnerung an das Gefühl von echtem Moos überlagern. Aber inzwischen war ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt noch wusste, wie sich „echtes“ Moos anfühlte oder ein „echtes“ Blatt, ob ich den Unterschied wirklich spüren würde. Und was überhaupt bedeutete „echt“, wenn dieses „Echte“ nicht mehr existierte bzw. nicht mehr zugänglich, nicht mehr erfahrbar war? Ist der Baum im Wald echt, wenn niemand es bezeugen kann? Ich berührte ein Blatt, das über die Lehne der Bank hing, zerrieb es zwischen meinen Fingern, bis die Zellen zerdrückt waren und es feucht wurde. Dann riss ich ein zweites ab, roch daran, es roch vertraut säuerlich, und steckte es in den Mund. Ich kaute. Es schmeckte nach gar nichts.

Jetzt erst bemerkte ich, dass neben der Bank ein Pfad durch das Gebüsch führte. Er kam mir bekannt vor. Ich folgte dem Weg an einer kleinen Kapelle vorbei und über die Stever. Links von mir tauchte eine Gräfte auf, ich sah das verfallende Schloss und mit einem Mal erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich, dass ich als Kind mal mit meiner Klasse hier gewesen war. 2035 oder 36 musste das gewesen sein – die Zeit, in der ich und meine Moms bei meiner Tante gewohnt hatten. Danach hatte ich das Schloss nie wieder besucht. Wieso eigentlich nicht? Ich wusste es nicht. Meine Klassenlehrerin Frau Boer war sehr technikaffin gewesen, weswegen wir nicht, wie die meisten anderen Klassen die Burg Vischering besuchten, sondern das Schloss Senden, wo eines der ersten virtuellen Prozess-Museen Deutschlands eingerichtet worden war. Ich erinnerte mich an die Allee, auf der ich jetzt stand. Es war heiß gewesen, ich hatte geschwitzt. Vor mir waren Nelly und Xae gelaufen und ich war eifersüchtig gewesen, weil Xae nicht neben mir ging, sondern neben Nelly, der immer diese bekloppten Panel-Jackets trug und dessen Eltern Landwirte waren und der außerdem ein Junge war. Ich erinnerte mich, wie wir über die Brücke gegangen, wie ich stehen geblieben war, vorgegeben hatte, die Schildkröten in der Gräfte zu beobachten, in Wirklichkeit aber nur getestet hatte, ob Xae auf mich warten würde. Wartet sie? Ich guck so aus dem Augenwinkel.
Sie hatte nicht gewartet, sie war mit Nelly weiter gegangen, ins Schloss und ich hatte irgendwann aufgegeben.
War ja klar.
Und war hinterhergelaufen.
Renn halt vor. Xae dreht sich um. Sie sagt nichts, sie guckt nur so, macht die Augen so weit auf. Was soll das jetzt heißen? Ist sie annoyed? Ist sie annoyed von mir? Ja genau Xae. Ja ok, dann geh doch mit deinem scheiß Nelly. Das ist doch komplett lächerlich, wie du an ihm klebst. No shit. Aber bitte.

 

VIERZEHN

Vor dem Eingang werden VR-Brillen verteilt. Ja, hätte ich auch meine eigene mitnehmen können. Thanks. Frau Boer guckt mich und Xae ganz excited an, als sie die Brille aufsetzt, irgendwie sweet. Ich versuche, einigermaßen happy auszusehen. Für die Boer.
Ich setz das Ding auf und seh erst mal gar nichts, beziehungsweise naja halt alles wie vorher. Ah, jetzt fängt der Vortrag an. Wir sollen uns ruhig frei auf dem Gelände und im Schloss bewegen. Ok. Jeder kann sich seine Tour individuell zuammenstellen. OK. Wow. Das ist ja der Wahnsinn, individuell ist ja immer gut. Ich guck zu Xae und Nelly rüber. „Together?“, fragt sie mich jetzt. Ich sag natürlich Ja. Was soll ich auch sagen. Nein? Und mich lächerlich machen? „Ok lass erst mal draußen bleiben, wenn die anderen reingehen“, sag ich.

Wir bleiben also vor dem Schloss auf der Brücke stehen. „Muss man irgendwas machen, damits anfängt?“, fragt Nelly. Jesus, how stupid ist der Junge? „Auf den grünen Pfeil klicken, glaub ich“, antwortet Xae. Ich klicke auf den grünen Pfeil. „Willkommen im Schloss Senden…“, Begrüßung yadda yadda yadda. Dann wird das Bild weiß, dann leere Wiese, paar Bäume, Bauernhaus oder sowas in der Art halt.

„Urkunden belegen, dass sich auf diesem Grundstück schon im 9. Jahrhundert ein sächsischer Hof befand. Das Schloss beziehungsweise der Ursprungsbau des Schlosses wurde allerdings erst Anfang des 15. Jahrhunderts für einen Herrn namens Ludeke Droste erbaut, dessen Vater das Grundstück im 14. Jahrhundert gekauft hatte. Ludekes Sohn Sander ließ später das Herrenhaus errichten.“ Jetzt erscheint der linke Teil vom Schloss. „Das erste seiner architektonischen Art und damit Vorbild für die Bauweise der westfälischen Renaissance. Das Rathaus in Münster zum Beispiel ist auch in diesem Stil erbaut, das kennst du vielleicht.“ Hm ok. „Typisch ist vor allem der Staffelgiebel, den man hier seht.“ Grün blinkende Linien auf dem Dachgiebel. Wow. „Booooring“, ruft der dumme Nelly und geht weiter. Xae natürlich hinterher.
„Im 16. Und 17. Jahrhundert ist das Schloss immer wieder angegriffen, geplündert und teilweise zerstört worden, was ein Grund für die vielen An- und Umbauten ist. Den Ursprungsbau ist leider heute nicht mehr erhalten.“ Sad. „Der älteste verbliebene Teil des Schlosses ist das Herrenhaus aus dem 15. Jahrhundert. Teile des Verbindungshauses stammen aus derselben Zeit. 1719 kam dann das schiefe Mannenhaus dazu, das damals natürlich noch nicht schief war…“ For real?  „…und 1899 der Rombergtrakt, der heute an der Stelle steht, wo früher der Ursprungsbau gestanden hat.“
Nacheinander ploppen das Verbindungsgebäude, das schiefe Haus und der Teil hinterm Herrenhaus auf.

„Im Zweiten Weltkrieg wurde das Schloss dann von britischen Soldaten besetzt. Angeblich wollten die sich durch die Zerstörung der Einrichtung an den Deutschen rächen, weswegen sie einen Großteil des Mobiliars in die Gräfte warfen.“ Ein Stuhl fliegt aus dem Fenster. Haha Oh Jesus. „Und tatsächlich hat man in den letzten Jahren so einiges im Graben gefunden, zum Beispiel das hier.“ Jetzt ist ein Kran am Ufer aufgetaucht, der irgendwas rauszieht, aha ok, ein Klavier. Exciting. „Einige Jahre später wurden Vertriebene…“ Wo ist Xae, sind die schon dahinten? Ich geh links ums Schloss rum. Da stehen sie und lachen über irgendwas. What‘s so funny? HÄ? Egal. Ich dreh mich demonstrativ weg und dem Schloss zu. Sofort fängt der Typ wieder an zu brabbeln: „Die Turmspitze ist natürlich, wie man sehen kann, nicht die originale Spitze. Die soll im Krieg 1944 von einem englischen Tiefflieger, bei einer Notlandung abgerissen worden sein.“
Ein mini Flugzeug fliegt übers Schloss gegen die Spitze, Spitze kracht runter, Splash. Was für geile Special Effects, no shit.
„Das hier“, rote Pfeile in der Luft. „…die sogenannte ‚Krone‘ ist ein architektonisches Zitat der alten Spitze. Sie wurde 2019 angebracht und beweist ein für die damalige Zeit relativ modernes Verständnis von Denkmalpflege. Während man in den meisten Burgen und Schlössern der Region versucht hat, einen bestimmten historischen Zustand zu rekonstruieren, hat man sich hier dafür entschieden, den besonderen Charakter des Schlosses zu betonen. Da das Schloss keinen bestimmten Stil repräsentiert, wäre es auch ziemlich schwierig gewesen, sich für einen Zustand zu entscheiden. Heute steht das Schloss und seine Instandsetzung für den Wandel – und zwar nicht nur den Wandel der Stile über die Jahrhunderte, sondern auch der Werte in Bezug auf Denkmalschutz und Denkmalpflege. Das sieht man zum Beispiel an der Spitze, aber auch an der Einrichtung des Schlosses, wenn wir uns die Gebäude später von innen ansehen.“

Ich geh weiter an der Gräfte entlang, an Xae und Nelly vorbei. What the hell? Die gucken irgendwas im Gras an, kp, egal halt.
„Übrigens war hier in den 1960ern ein Internat eingerichtet, nachdem die Familie Funnemann aus Münster das Schloss gekauft hatte. Wenn die Gräfte im Winter zugefroren war, sind die Kids manchmal darauf Schlittschuh gelaufen.“ Kids, haha Oh man. „Aus den Berichten eines ehemaligen Internatsschülers wissen wir, dass die Eisfläche auch manchmal als Projektionsfläche für abendliche Diashows genutzt wurde. Weißt du noch, was ein Dia…“ Jaja, shut up.
Die Gräfte friert innerhalb weniger Sekunden zu, ein Bild flackert über das Eis, ein Foto scheinbar, von was? Was ist das? Ein paar verkleidete Jungs. Ok that’s weird. Sieht eigentlich ganz sweet aus, Diashow auf dem Eis. Why not.
„Diese Tradition haben wir aufgegriffen. Jedes Jahr am zweiten Advent, findet bei uns die Cinema on Ice Night statt. Allerdings mussten wir in den letzten drei Jahren…“ Bla bla bla.

„Dieser Baum wurde von den Jungs damals zum Klettern benutzt, es gibt sogar einige Fotos, die vom Baum aus geschossen wurden und das Schloss aus der Vogelperspektive zeigen.“ Jetzt sieht man einen Jungen auf dem Ast sitzen. „Und dort hinten, im Kanal, waren die Internatsjungs im Sommer oft baden.“ Warum erzählt der mir das?
Jetzt scheint die Sonne plötzlich, also i.r.l.  Es wird wärmer. Ich nehm die Brille ab und dreh mich um. Xae und Nelly stehen da und zeigen auf die Spitze. Wahrscheinlich hören die sich auch grad die story mit dem Flugzeug an. Xae hat ihre Haare aufgemacht. Ja klar, is klar. Bitch. Sie lachen. Ich setz die Brille wieder auf und geh weiter
„Im schiefen Mannenhaus, das damals natürlich noch nicht schief war…“ I knooooow! Du wiederholst dich buddy, „…wohnte der Internatsleiter mit seiner Frau.“ Erzählt er mir das Internatszeug, weil er denkt, das interessiert mich? So als Teenager? Haha. Es ist so fucking cringy, wenn sie versuchen, es uns Recht zu machen, or worse: uns zu imitieren. Mein Gott ey.
„Die Sicherung des Mannenhauses war eine der ersten Sanierungsmaßnahmen seit 2015. Ohne den Einsatz des Vereins Schloss Senden wäre das Haus wahrscheinlich schon vor ein paar Jahren in die Gräfte gestürzt. Zugänglich wurde es jedoch erst wieder 2026. 2027 hat ein Investor aus Hamburg es dann zu einem Gruselkabinett umgebaut, das allerdings drei Jahre später wieder schließe musste, nachdem ein Junge aus dem Fenster geklettert und sich das Genick gebrochen hatte. Zum Glück kann der Junge heute wieder laufen.“
Den rausfallenden Jungen haben sie sich zum Glück gespart.
„Seit 2031 wird das Mannenhaus nun zu verschiedenen Zwecken vermietet. Vor zwei Monaten fand hier zum Beispiel eine Drama Performance statt und im nächsten Monat wird eine Tanzgruppe…“ Blaaaa. Ein paar Gänse hocken im Gras. Ich geh dran vorbei, sie latschen weg. Sind die jetzt real oder nicht? Ich guck über die Brille. Sind real.
Soll ich auf Xae warten? Ich steh noch ein bisschen auf der Brücke rum. Jetzt fängt er wieder an, mir irgendwas über die Brücke zu erzählen. My dear God, please, stop it. „Kommt ihr?“, ruf ich. Sie antworten nicht. Geh ich halt alleine rein. Das muss ich mir echt nicht antun.

Drinnen stehen Aubrey, Frigga und Rin. Frigga sieht bescheuert aus, ihr Kopf ist viel zu klein für die Brille. Aber Frigga sieht halt irgendwie eh immer slightly dumb aus. Sorry it’s a fact.
„Das hier war zu Internatszeiten der Speisesaal. Hier soll es Senfspender gegeben haben, mit denen die Jungs über die Tische geschossen haben.“ Der Typ lacht, eine Reihe Tische taucht auf, an denen Jungs in gemusterten Pullis sitzen und sich gegenseitig mit Senf bespritzen. „Später wurde hier das Schloss-Café eingerichtet.“ Die Jungs verschwinden wieder. Jetzt komplett anderes Interieur, runde Tischchen, ältere Damen vor gigantischen Torten.
„Seit den 1980er Jahren war das Schloss nämlich ein Hotel mit Casino. Nach einem Brand im Dachstuhl musste es Ende der 90er jedoch geschlossen werden. Danach stand es erst mal mehrere Jahre lang leer und verfiel, bis der Förderverein Schloss Senden sich der…“ Gott ist das boring. Ich nehm die Brille ab und guck Frigga zu, wie sie mit offenem Mund rumsteht und ihren Überbiss lüftet. Haha, sorry, that’s mean, aber ich muss lachen. Aubrey und Rin sind inzwischen weiter gegangen. Wo ist Xae? Egal. Egal. Stop thinking about her, hör auf so clingy zu sein.

Ich geh weiter. Ohne Brille sieht alles voll leer aus, voll slick irgendwie. Obwohl, im nächsten Zimmer wieder nicht. Holzvertäfelung, Muster-Tapete, verzierter Kamin. Ich setz das Ding wieder auf.  „Das ist das Kaminzimmer. Hier haben die Jungs abends am offenen Feuer gesessen und Musik gehört, zum Beispiel die Beatles. Kennst du die überhaupt noch?“ Hard Days Night wird angespielt.
Ein paar Jungs sitzen in den Sesseln vor dem Kamin, einer liest, einer bindet dem Lesenden die Schnürsenkel zusammen. Witty!
„Seit über zehn Jahren finden hier verschiedene Kunstveranstaltungen statt. Konzerte, …“
„Eeeey Edda ist das nicht eine deiner Moms?“
What? Rin steht im Türrahmen und zeigt auf irgendwas, das ich nicht sehen kann. „Hä?“
„Die da, die ist doch deine Mom.“ Oh no, nononono, please not. Ich klicke auf das Connect-Symbol unten in der Symbolleiste und sehe, was er meint. Auf einem der Sessel vor dem Kamin sitzt meine Mutter und liest aus ihrem Buch, grüner Einband, ihr erster Roman. Davor ungefähr dreißig Leute, die mit langen Fingern im Gesicht zuhören. Fuck. Oh fuck. Das hatte ich vergessen. Ja man, das war so klar, ich sag einfach nichts, vielleicht reden sie dann über was anderes.
„Das ist eine von Eddas Moms, glaub ich.“
„For real now?“
„Yessss.“ Okay, wow, thanks Mom. Richtig richtig angenehm. No shit.
Ich geh raus, weiter, die Treppe hoch.
„Hier waren die Zimmer der Jungs eingerichtet.“
Irgendwer hier? Nee. Ok. Kein Bock mehr ey. Ich geh den Gang entlang in eines der Zimmer. Zwei Betten, zwei Tische, das wars.
„Morgens vor dem Frühstück mussten die Jungs in ihren Zimmern am Frühsport teilnehmen. Wer verschlief oder nicht mitmachte, musste zur Strafe fünf Runden ums Schloss drehen. Schau doch mal aus dem Fenster.“ No thanks buddy. Ich nehm die Brille ab und steck sie in meine Tasche. Die Betten sind natürlich verschwunden, der Tisch auch, stattdessen stehen lauter Leinwände unter dem Fenster. Ich geh hin, und leg eine auf den Boden. What the hell? Das Bild ist komplett mit weißer Farbe zugekleistert, teilweise bestimmt zwei Zentimeter dick. Quer darüber oder besser dadurch geht ein Strich, ein Kratzer, als hätte jemand mit nem krassen Fingernagel die Farbe abgekratzt. Darunter sieht man ein anderes, also ein richtiges Gemälde mit dunklen Farben. Ich kann Schuhe erkennen, und was ist das? Ein Auge? Wenn ich hier kratzen würde… Nee ey, ich lass es lieber.

Ich stell das Ding zurück, geh raus und guck in den nächsten Raum – auch n Atelier. Und weiter.
Im dritten Zimmer stehen Klangschalen und so stuff, lauter Tücher und Kerzen und so, wahrscheinlich ein Meditationsraum. Ah ja, steht auch an der Tür: „Zwischennutzung Montags – Freitags 8 bis 14 Uhr. Awareness & Meditation“. Das vierte Zimmer ist abgeschlossen. „Zwischennutzung Montags bis Donnerstags 10 bis 16 Uhr. Kickboxen.“
Also, ich geh einmal komplett durch. Manche Türen sind offen, manche geschlossen. Physiotherapie, Gitarrenunterricht, Atelier, Atelier, Büro.
Noch eine Treppe höher find ich ganz vorne ein leeres Zimmer mit einem Stuhl am Fenster. Hier ist es gut, aber ich geh trotzdem weiter. Die Türen dahinter sind alle verschlossen, verschlossen, verschlossen. An der dritten steht: „Astronomy Class“. Sweet! Ah Shit, Tür ist leider auch zu. Ok what now? Ich geh wieder in das kleine Zimmer vorne und knie mich auf den Stuhl. Geht das Fenster auf? Yes! Das ist perfekt. Hier bleib ich einfach, bis die anderen fertig sind.
Ich guck raus, die Sonne scheint, es ist noch heißer geworden. Blue sky, über den Gemüsebeeten vor dem Schloss fliegen Feldroboter. Ich setz meine Sonnenbrille auf. Da unten hinter der Brücke sitzen zwei im Gras. Wer ist das? Sieht aus, als würden sie Arm in Arm… Sind das Xae und Nelly? Das kann nicht sein. Wer ist das? Wer?
Es fühlt sich an, als würde mir jemand in den Bauch fassen, nach einem Klumpen Eingeweide greifen und daran ziehen.

Mehr von Charlotte Krafft

MOMUMENT Teil XII

ZWÖLF
Hinter der dritten Brücke stellte ich den Roller ab und setzte mich auf eine Bank. Die Sonne schien natürlich. Ich fragte mich, ob es in der Simulation auch manchmal regnete, stürmte oder gewitterte. „Du kannst gerne das Wetter verändern.“
Ich betrachtete die Lichtreflexe auf dem Wasser. Plötzlich machte es mich wütend, diese ganze falsche Idylle. Was war denn mit den Stürmen, mit den Überschwemmungen, waren die dokumentiert? Oder die Waldbrände? Und was war mit Unfällen, gab es Verbrechen, Mord, gab es Krieg? Ob man den Krieg einfach pausieren, abschaffen, ausblenden konnte, oder man sich einfach mitten ins Gefecht stellen konnte, mitten in die Schussbahn, mitten auf das Ziel der Bombe, ohne verletzt zu werden? Und was war mit dem langsamen Ende der menschlichen Zivilisation auf der Erde? Mit dem Aussterben der Arten? War auch dieses Ende dokumentiert worden? Wie weit in die Zukunft reichte die Simulation? Würde ich einen Ausflug in die Zerstörung, einen Urlaub in der Katastrophe machen können?
„Die Katastrophe ist jetzt“, sagte die Stimme nüchtern.
Wieder weinte ich. Diesmal lange und laut. Es hörte mich ja niemand und mir wurde bewusst, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich sicher sein konnte, dass ich allein war.

Mehr von Charlotte Krafft

MOMUMENT Teil X und XI

ZEHN
Ich sah zu, wie sich die Baumreihe links von mir mir auflöste und die beiden Felder, die sie trennte zu einem verschmolzen. Ich sah zu, wie aus dem Maisfeld ein Kornfeld wurde und dann wieder ein Maisfeld. Ich sah, wie die Wallhecke vor mir verschwand, die Windräder verschwanden, monströse Mähdrescher auftauchten und ebenfalls wieder verschwanden, und wie der Bach sich füllte und breiter wurde. Ich spürte, wie die Hitze nachließ und die Luft feuchter wurde. Dann sah ich, wie sich das Feld um 1940 plötzlich wieder teilte. Dort, wo vorher bzw. später eine Baumreihe gestanden hatte, tauchte nun wieder dichtes Feldgeholz auf, dass sich immer weiter in die Länge zog und langsam zur Hecke zurückbildete. Auch vor mir war eine Hecke aus dem Boden gewachsen und das Feld dahinter war zu einer Weide geworden. Und der Bach! Jetzt erst erkannte ich, dass der Bachlauf plötzlich eine Beule hatte, wo vorher keine gewesen war. Es sah aus, als habe ihn jemand zusammen geknüllt und wieder lang gezogen.
Und dann war mit einem mal Schluss. 1907. Weiter ging es nicht. Das einzige, was sich kaum verändert hatte bis hierhin, war der Berenbrocker Busch hinter dem Feld am anderen Ufer.

Ich schob den Roller erst an den Feldrand und dann das letzte Stück am Bach entlang. Nach ungefähr fünf Minuten stand ich am Ufer des Kanals, aber es gab keinen Weg, wie ich erwartet hatte. Der Radwanderweg war ja erst irgendwann in den 90ern gebaut worden. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich sah auf die Anzeige an meinem Armband. Ein rotes Ausrufezeichen blinkte hinter der Jahreszahl. „Was bedeutet das?“, dachte ich. „Dass die Rekonstruktion zu dieser Zeit und an dieser Stelle nicht verlässlich realitätsgetreu sind. Um zu sehen, welche Ausschnitte anhand authentischer Bildquellen rekonstruiert und welche ergänzt wurden, wähle die Quellenansicht.“
„Ok, wie mach ich das?“
„Ich mach das für dich.“

Vor mir erschienen mehrere Rahmen aus grünem Licht, die jeweils markierten, welcher Ausschnitt der Simulation auf einer Fotografie oder einem Landschaftsgemälde basierten. Am Kanal entlang gab es einige dieser Ausschnitte. Als ich mich jedoch umdrehte, sah ich nur ein paar sehr kleine orangene Rahmen über dem Feld schweben. „Was bedeutet das Orange?“, dachte ich.
„Die orange umrahmten Ausschnitte wurden anhand des unscharfen Hintergrunds auf Bildern vom anderen Ufer rekonstruiert.“

Ich betrachtete die Landschaft hinter mir. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie nicht echt war. Direkt neben mir stand eine junge Weide, etwas weiter links genau dieselbe. Und auch im Rasen am Ufer waren sich wiederholende Muster zu erkennen. Er war aus immer demselben Bodenausschnitt zusammengesetzt worden. Derselbe Klee, dieselbe Butterblume, derselbe Zigarettenstummel alle 1,5 Meter. Ich lachte.

Ein Stück schob ich den Roller noch am Kanal entlang. Diese Vergangenheit in denselben Farben zu sehen wie die Gegenwart, war auf eine Weise faszinierend, gleichzeitig aber auch enttäuschend, weil entmystifizierend – ententfremdend. Ich hatte sie mir immer in schwarz-weiß vorgestellt, ein Reflex, der sich nicht abstellen ließ und ein Beweis dafür, wie sehr schon die Erfindung der Fotografie unsere Vorstellung von Zeit, von Realität beeinflusst hatte, und damit ein nie mehr auszulöschender Teil unseres Menschseins geworden war, unserer „Natur“, wie man früher sagte.

Als es mir zu anstrengend wurde, hielt ich an, tippte auf die Jahreszahl und gab direkt „2000“ ein. Für einige Sekunden wurde es weiß um mich herum. Dann sah ich wieder den Kanal vor mir, allerdings immer noch keinen richtigen Radweg – mehr sowas wie ein Schotterweg. Und endlich fiel mir ein, dass ich nicht am eigentlichen Kanal, sondern vor der Alten Fahrt stand.

Als Kind war ich nur selten an diesem alten Arm des Kanals entlanggefahren. Wir hatten uns an den Weg gehalten, der vom Bach aus die Umgehung entlangführte, aber die war erst in den 1930ern gebaut worden, weshalb ich vom Feld aus natürlich direkt bis zum ursprünglichen Kanal gelaufen war. Ein kleines Stück rollte ich den holprigen Weg entlang, bog dann links ab und landete endlich auf der Dortmund-Ems-Route. Nun kam mir auch alles etwas vertrauter vor.

ELF

Ich fuhr unter der ersten Brücke hindurch, ein paar Gänse liefen schnatternd über den Weg, unter der zweiten Brücke hindurch, ein Kahn lag am anderen Ufer, unter der dritten Brücke hindurch. Weiter als bis zu dieser „dritten Brücke“ hatten wir als Kinder nicht fahren dürfen, warum auch immer. Vielleicht war Tante Mia selbst nie weitergefahren und die Vorstellung, dass wir uns an einem Ort aufhielten, den sie nicht kannte, machte ihr Angst.

Mehr von Charlotte Krafft

MOMUMENT Teil IX

NEUN

Im Dunkeln fuhr ich den Naturpfad entlang, der um den Ort herumführte. Er war in den 30ern angelegt worden als Barfuß-Wanderweg und hatte sich inzwischen zu einer regelrechten Wanderallee entwickelt. Die Sträucher und Bäume im Wildstreifen am Wegrand waren teilweise bis zu vier Meter hoch gewachsen, aber der Weg wurde scheinbar immer noch in Schuss gehalten. Der Sand war weich, sodass die Räder des Rollers ein paar Mal darin abzurutschen drohten. Als der Pfad den Ostdamm kreuzte, um dann weiter Richtung Buldern zu führen, bog ich ab und fuhr den Ostdamm entlang nach Westen. Die Nacht war immer noch vollkommen still, so still wie sie es in Realität wahrscheinlich nie gewesen wäre. Die Allee lag schwarz vor mir, nur der gelbliche Lichtkegel meines Rollers fiel auf die Straße, streifte die Baumstämme, das Korn und die Blüten am Wegrand. Irgendwann schaltete ich das Licht aus. Meine Augen gewöhnten sich sofort an die Dunkelheit.

Ich fuhr vorbei an kleinen Felder, Wallhecken und Bächen, von denen ein Großteil ausgetrocknet war. Einzelne Feldgehölze und Beimreihen bis hin zu kleinen Wäldern unterbrachen die regelmäßige Anordnung der Parzellen. In der Ferne war das rote Blinken der Windräder zu sehen.

Kurz vor Rödder begann der vertikale Gemüseanbau. Reihe um Reihe standen sie hintereinander – teilweise bis zu hundert Meter lange und fünf bis acht Meter hohe Hydroponik-Anlagen. Was hier angebaut wurde, konnte ich nicht erkennen. Wahrscheinlich Salat, Kohl, Rüben, vielleicht sogar Grünkohl. Auch über diese Anlagen hatte es eine Debatte gegeben, die sich über mehrere Jahre hingezogen hatte. Die einen lobten die Effizienz und Umweltfreundlichkeit der vertikalen Landwirtschaft, andere beklagten sich darüber, dass die „Gemüsewände“ die Park-Ästhetik der Landschaft störten, und die Horizontal-Bauern beschwerten sich, weil die Anlagen Schatten auf ihre Felder warfen. Ich hatte damals schon in Sri Lanka gelebt, bekam durch meine Tante aber relativ viel mit, auch weil sie direkt betroffen war. Einer der Feldkomplexe grenzte an ihr Grundstück. Es hatte in Hiddingsel eine Petition gegeben, die sie eigentlich hatte unterschreiben wollen, es dann jedoch nach einem Vortrag meiner Mutter doch nicht getan hatte. Schön waren die Dinger weiß Gott nicht, aber ich stimmte meiner Mutter zu: Bevor man sich eine Diskussion über Ästhetik leisten kann, muss erst mal die Versorgung gesichert sein.

Hinter Rödder wechselten sich vertikale und horizontale Landwirtschaft ab. Irgendwann sah ich am Rand eines horizontalen Feldes eine eigenartige schwarze Kuppel, auf der hunderte winzig blauer Lichter blinkten. Ich konnte mich nicht erinnern, hier jemals so etwas gesehen zu haben. Ich hielt an und versuchte zu erkennen, um was es sich handelte. „Dies ist eine R-42 Station für Feld-Roboter“, sagte die Stimme. „Wenn du die Roboter in Aktion sehen möchtest, schalte in den Tages-Modus.“

Statt direkt in den Tages-Modus umzuschalten, klickte ich auf die Uhrzeit und begann langsam nach links zu swipen. Ich beobachtete, wie die Sterne über den Himmel krochen, wie die Sonne aufging, wie ein paar Reiher an mir vorbei flogen, dicht über dem Boden, mich vollkommen ignorierend. Um sieben Uhr erhoben sich die Flugschaaren von der Station und schwärmten aus auf der Suche nach Unkraut, Parasiten und Pilzen.
Sie hatten etwa die Größe einer Meise und sahen auch fast so aus, was sich bald als Problem herausstellen würde, wie ich mich nun erinnerte. Immer wieder war es vorgekommen, dass verwirrte Falken oder Habichte die Flug-Roboter angriffen, worauf sich die Roboter wiederum mit gezielten Laserstrahlen wehrten. Also hatte man die Roboter umprogrammiert, sodass sie keine Vögel mehr angreifen würden, was jedoch dazu führte, dass immer mehr Bots aufgrund von Vogel-Attacken zerstört wurden und immer mehr Raubvögel aufgrund von verschluckten Kleinteilen verendeten. Ein weiteres Problem war, dass sich die Schädlings- und Unkrautbekämpfung mit der Nist- und Brutzeit einiger Feld-Vogelarten wie zum Beispiel der Feldlärche überschnitten, und das ständige unruhige Treiben über dem Feld die Lerchen vom Nisten abhielt, was wiederum dazu führte, dass sich die regenwurmfressenden Plattwürmer, deren einzige Feinde die Feldvögel waren, ungestört ausbreiten konnten, da die Feldroboter lediglich oberirdische Parasiten erkennen konnten, was wiederum dazu führte, dass sich die eh schon nicht besonders hohe Bodenqualität zusätzlich verschlechterte, da es keine Regenwürmer mehr gab, die den Boden dränten und belüfteten.
In ein paar Jahren würde man daher ein neues Modell auf die Felder schicken, das weniger an Vögel erinnerte und außerdem nur ein paar Mal im Jahr eingesetzt wurde, um die Nistzeit der Feldvögel nicht zu stören.

Ich setzte mich auf meinen Roller, tippte wieder auf die Jahreszahl und swipte noch ein Stück weiter bis 2065. Sofort spürte ich den Temperaturanstieg. Es war bestimmt zwei Grad heißer als noch vor fünfzehn Jahren. Die Station für die Feldroboter war verschwunden. Auch die Windräder und die vertikalen Feldkomplexe hinter und vor mir waren abgerissen und wieder zu horizontalen Feldern und Wildweiden umgebaut worden. Das Feld links von mir war wesentlich verkleinert worden. Dahinter lag ein Kiefernwald, der nicht älter als sieben oder acht Jahre sein konnte.

Ich fuhr weiter. Blühende Wiesen wechselten sich ab mit kleinen Äckern unterschiedlichster Formen, die durch braune Schläuche am Boden bewässert wurden. Jedes Feld war von Wallhecken, Baumreihen oder breiten Blühstreifen begrenzt. Manchmal sah ich Teiche oder Bäche, die jedoch größtenteils ausgetrocknet waren. Flugroboter sah ich keine. Wahrscheinlich war die Unkrautbekämpfungssaison schon vorbei oder sie hatte noch nicht begonnen. Vielleicht verzichtete man inzwischen auch ganz darauf, was man sich wahrscheinlich ohne Probleme hätte leisten können. Getreide aus authentischer Landwirtschaft war in den 60ern zum Luxusgut geworden, ich persönlich hatte nie einen Unterschied schmecken können.

Kurz vor Hiddingsel bog ich rechts ab und dann links auf den schmalen Wanderweg durch die Bachauen am Krukenbach führte. Der Hutewald und die Weiden links und rechts des Baches waren meines Wissens in den 30ern angelegt worden. Irgendwann hatte man die Kühe wieder weggenommen aufgrund der hohen CO-2 Produktion. Die Schnucken waren geblieben und über die Jahre anscheinend mehr oder weniger verwildert. Ab und zu sah ich eine kleine Gruppe im Gras rumliegen oder im Schatten der Bäume stehen. Als sich mir eines der Tiere in den Weg stellte, hielt ich an. Ich hupte, doch das Schaf ließ sich nicht beeindrucken. Entweder ich fuhr drum herum und durch das Feld links von mir, oder ich änderte noch einmal die Zeit. Ich entschied mich für letzteres und swipte zurück bis zum Jahr meiner Geburt.

Plötzlich stand ich in einem Maisfeld. Nicht nur die Weiden, der kleine Auenwald und mit ihnen die Heidschnucken waren verschwunden, sondern auch der Weg. Er musste erst kurz nach meiner Geburt entstanden sein. Zum Glück war ich nicht mehr weit vom Kanal entfernt und der Mais war noch nicht besonders hoch. Allerdings wunderte es mich, dass er überhaupt hier wuchs. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals ein Maisfeld in der Region gesehen zu haben. „Mais wurde ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bis ins frühe 21. Jahrhunderts auch im Münsterland vermehrt als Energie- und Futterpflanze angebaut“, sagte die Stimme.
Das hatte ich nicht gewusst. Wenn ich schon mal dabei bin, dachte ich, und begann langsam durch die Jahre immer weiter zurück in die Vergangenheit zu wischen.

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