Understatement

„…wie sehr es mich immer gefreut, einen gewissermassen Geistesverwandten, engeren Landsmann zu haben- denn bis jetzt ist es sehr selten, dass unter Eisen u. Kohlen unserer Vaterstadt künstlerische Elemente sich entwickelt haben.“

Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus

 

Halbzeit, und damit der Moment gekommen, Bilanz zu ziehen und darüber zu schreiben, warum Südwestfalen der beste Ort der Kultur-Förderung sein kann.

Wenn ich meinen Eindruck über die Region mit einem einzigen Wort zusammenfassen sollte, dann wäre es dieses: UNDERSTATEMENT.

Südwestfalen ist mit Sicherheit eine Region, die im Außen- und Eigenbild völlig unterschätzt wird.

Südwestfalen, das ist auf den ersten Blick eine Industrieregion mit viel Wald. Die viele und üppige Präsenz der Natur, lässt einen leicht an Landwirtschaft denken. Man stellt sich dann Bauern vor, die Kühe hüten, Frauen mit Kopftüchern, die mit Eimern in den Händen zum Melken ausziehen. Man meint, es wäre eine Gegend, in der die Menschen von ihren Händen leben, indem sie das Feld bestellen, man glaubt, sie seien abhängig vom Wetter, würden gelernt haben, sich dessen Willen beugen, wie der eines alles beherrschenden Gottes. Aber das stimmt nur zu Hälfte. Von der Landwirtschaft allein haben die Menschen in Südwestfalen nie leben können.

Viele Vorurteile existieren bezüglich dieser Gegend, die kulturell gesehen, nicht viel von sich reden macht. Die zahlreichen Schützenvereine lassen an die Vorliebe für Tradition und Folklore denken. Heimat ist ein wichtiges Wort. Und das alles erinnert schmerzhaft doch auch an eine andere Zeit in Deutschland, die wir gerne vergessen wollen. So wurde ich zu Beginn des Stipendiums auch oft gefragt, was ich denn in Südwestfalen erforschen wolle, vielleicht Nazis? Rechtsradikale? AFD-Mitglieder? Den Rechtsdruck gibt es leider aktuell in sehr vielen Regionen Deutschlands und meines Wissens nach nicht herausragend mehr in Südwestfalen als in anderen Gegenden.

Religion ist ein anderes Stichwort, das immer wieder fiel. Dies oft im selben Atemzug mit Max Weber genannt, der ausführlich über den Geist des Kapitalismus im Zusammenhang mit religiöser Tradition geschrieben hat. Es wird nicht selten vermutet, der Reichtum der Region läge an einer gewissen pietistischen Lebensweise. Selbstverständlich hängt religiöse Praxis und Akkumulation von Reichtum zusammen. Dies nicht nur auf Seiten des Protestantismus.

Der Reichtum der Region kommt aber nicht vom Beten, sondern ursprünglich aus den Bergen. Er war lange versteckt in dem unterirdischen Labyrinth, einer Welt, die der des Minotaurus gleicht.

Es gibt überhaupt sehr viele versteckte Schätze in der Region. Vielleicht liegt dieser Zustand an der Gegenwertigkeit der Bergwerke, sie sind zwar stillgelegt, aber immer noch da, wenigstens im kulturellen Gedächtnis der Region. Bergwerke haben es so an sich, das man tief graben muss, um, was Leuchtet ans Licht zu bringen. Vielleicht haben sich die Menschen in Südwestfalen deswegen angewöhnt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, sich genügsam zu geben, nicht auffällig jedenfalls, denn sie kennen sich aus mit vergrabenen Werten.

Während im Rheinland Kohle abgebaut wurde, waren es in Südwestfalen Erz, Kupfer und Silber. Hier wurde Eisen und Stahl produziert. Altena gilt als die Wiege der Drahtproduktion.

Die Historiker Peregrine Horden und Nicholas Purcell haben in ihrem Werk „The Corrupting Sea“ die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt im Mittelmeer über gut dreitausend Jahre hinweg analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es eine lokale Form der „langen Dauer“ gibt. Traditionen, die sich mit der Zeit zwar verändern, aber auch eine lokale Hartnäckigkeit aufweisen. Der Begriff der „langen Dauer“, longue durée ist von Ferdnand Braudel geprägt worden, einem Historiker der Annalen Schule.

Für Braudel verläuft die menschliche Geschichte nicht gradlinig, sondern auf verschiedenen Ebenen, wobei die Ereignisse, die für uns meist zu den wichtigsten historischen Zeitmessern werden, wie der 11. September oder die aktuelle Coronakrise, eben nur Wellen auf der Oberfläche des langen Stroms der Geschichte sind, und der viel tiefere Grund darunter meist verborgen liegt.

Wenn ich nun diese von Braudel geprägte, und von Horden und Purcell weiter entwickelte Theorie auf Südwestfalen anwende, so erklärt sich das lokale verankerte „Understatement“ als ein zeitloses Phänomen, als ein historischer Tatbestand, der in den lokalen geographischen Besonderheiten und im kulturellen Gedächtnis seiner Bewohner verankert ist. Bereits die Kelten sollen dort den Wald gerodet und das Erz aus den Bergen geholt haben. Lange muss man nicht überlegen, um sich vorzustellen, wie diese Art der lokalen Produktion die Menschen formt. Die Schätze der Region befinden sich in der Tiefe ihres Seins.

Die nachhaltige Tradition der Waldrodung (Hauberge) ist eine der vielen Schätze der Region, von denen kaum jemand über die Grenzen hinaus Notiz nimmt. Südwestfalen ist still und unauffällig, mit nicht wenigen Global Players im Unternehmensbereich, ist es auch eine reiche Region. Reich und verschwiegen, wie Heinrich Vormweg in seinem Film „Siegen, Notizen einer Stadt“, erzählte. Der Film entstand 1966 und wurde nur einmal im Fernsehen gezeigt, er ist unerkannt geblieben, wie die Region, über die er berichtet.

Industrie bedeutet Kreativität und Produktivität, doch was ist mit der anderen Produktion, die eigentlich auch systemrelevant ist, die der Kunst? Auch darüber wurde bereits im Film von Vormweg reflektiert, dort ist von Verachtung gegenüber jener Produktivität die Rede, die nichts Verwertbares hervorbringt, also Kunst.

Dabei kann Südwestfalen auf eine eigene glorreiche Epoche in der Kunstgeschichte zurück schauen, der sogenannte „Hagener Impuls“, der hauptsächlich von Karl Ernst Osthaus (1874-1921) beeinflusst wurde. Zu dieser Epoche gehört auch Ida Gerhardi (1862-1921), die in Hagen geborene Künstlerin wurde von mir bereits in einer Youtube-Lesung vorgestellt. Sie ist, genauso wie Karl Ernst Osthaus, das weibliche Beispiel für die Modernität und Aufgeschlossenheit der Region. Ohne Ida Gerhardi hätte Karl Ernst Osthaus zu deutlich weniger französischen Künstlern Kontakt gehabt.

Osthaus-Museum-Hagen, Bild von Simone Scharbert

Von den ambitionierten künstlerischen Projekten des Karl Ernst Osthaus in Südwestfalen sind die architektonisch herausragenden Gebäude geblieben, wie der Hohenhof, das von Henry Van de Velde geplante Wohnhaus der Familie.

Der „Hagener Impuls“ ist kaum über den ihm eigenen Begriff des Antriebs hinausgegangen. Es ist bei einem Anstoß geblieben, das weltweit bekannte Folkwang-Museum steht heute im Ruhrgebiet, das aus diesem Impuls entstandene Bauhaus glänzt heute nicht in Südwestfalen. Dabei hatte Karl Ernst Osthaus angeregt, das soziale Leben durch Kunst zu gestalten. Er wollte die Versöhnung schaffen von Kunst und Sozialem. Eine Künstlerkolonie, Werkstätten und ein Lehrinstitut sollte gegründet werden, sie alle sind nur noch Teile eines Museums. Aber auch davon ist nichts geblieben, als die Gebäude, leere Räume, die heute dort ausgestellt sind wie Sammelstücke, schön anzusehen, beeindruckend sogar, aber leblos. Eine heute tote Utopie.

Osthaus schreibt, dass im Westfalen des 19. Jahrhunderts die künstlerische Tradition nicht wirklich veranker ist: „Kleine Malertalente, die hie und da auftauchten, verließen den Boden der Heimat und suchten in Düsseldorf oder Italien ein Milieu, das ihnen Anregung und Förderung gab.“

Doch ist die künstlerische Produktivität Südwestfalens nicht nur Vergangenheit. Auch heute noch gibt es in der Region viele Perlen künstlerischer Produktion, die still und leise vor sich hin glitzern.

Unter Eisen entwickeln sich auch künstlerische Elemente, wie Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus schreibt.

Ein Künstler, der Eisen zu seinem künstlerischen Element gemacht hat, ist Eberhard Stroot. Der ehemalige Olympiasportler lebt schon lange in Kreuztal. Viele seine Kunstwerke sind aus Stahl. Das Grundmetall für Stahl ist Eisen.

Kunstwerke von Eberhard Stroot, mit freundlicher Genehmigung vom Künstler

Zu Eberhard Stroot gehört seine Frau, Karin Stroot. Die ist Tänzerin und ist im Siegerland mit ihrem Tanztheater bekannt geworden.

Tanztheater Karin Stroot, mit freundlicher Genehmigung von der Künstlerin

Das Besondere an den Stroots ist auch, dass sie als Künstlerpaar vier Kinder haben. Ich erinnere mich noch genau, wie ich, schwanger mit meinem ersten Kind, bei Karin Stroot in der Küche saß, und mir von ihr erzählen ließ, wie das so geht, Künstlersein und Kinderhaben. Es ist nicht leicht. Die Stroots sind als kinderreiche Künstlerfamilie eine Ausnahme.

Die Performance-Künstlerin Marina Abromavic beispielsweise wurde schwer angegriffen, als sie in ihrer Biographie schrieb, sie habe in ihrem Leben drei Abtreibungen gehabt. Abromavic hat nicht Unrecht, wenn sie behauptet, eine Karriere in der Kunst und Kinder seien nicht vereinbar. Ihre Aktion „The Artist is Present“ stand für meine Aktion „The Reader is Present“ in diesem Blog Pate.

Das Künstlerpaar Stroot hat nicht nur vier Kinder, sondern sich nie gescheut, damit auch offen in der Kunstwelt hervorzutreten. Als das Paar gemeinsam 1981 im Sportstudio auftrat, war ihr erstes Kind dabei und wurde von Bern Heller auf den Arm genommen.

Vierzig Jahre später sind Kunst und Kinder immer noch nicht besonders gut miteinander vereinbar. Frauen sind in der Kunst  weiterhin unterrepräsentiert. Stipendien, die Künstler mit Kindern fördern sind eher die Ausnahme. Es lässt sich nicht von einer familienfreundlichen Nachwuchsförderung sprechen, denn in der Landschaft der Preise, Förderungen und Stipendien wird oft 35 als Altersgrenze angesetzt. Erziehungszeiten werden nirgendwo angerechnet. 2014 hat Julia Franck darauf hingewiesen, dass es in Deutschland eigentlich keine Vereinbarkeit für Kinder und Kunst gibt.

Dies heißt, das Künstler, die sich eine Familie wünschen, sehr gut ihr Leben im Voraus planen müssen, was eigentlich unmöglich, und damit kontraproduktiv ist, denn weder Kinderkriegen noch Familienglück oder das Leben überhaupt sind wirklich planbar. KünstlerInnen zahlen oft einen hohen Preis für dieses familienfeindliche System der Kunstförderung.

In ihrem Roman schildert Isabelle Lehn berührend den Zustand der Zerrissenheit zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Karriere einer Autorin.

Heute würde eine Kusntperformance mit Kind wie die der Stroots im Sportstudio damals, als Beispiel der Vereinbarkeit gefeiert. Damals gehörte der Auftritt lediglich zum diskreten Charme der Stroots aus Südwestfalen.

Es ist also durchaus eine fortschrittliche Region, die sich wohl selbst unterschätzt und auch von außen unterschätzt wird. Dabei steht sie den urbanen Zentren mit wenig nach, wie religiöses Miteinander, Industrie, Kunst und Kultur zeigen. Aber doch hält sich die Region selbst hinterm Berg und dies hat sicher mit dem zu tun, was der Historiker Fernand Braudel „lange Dauer“ nannte.

Möglichkeit einer Region, so habe ich mein Projekt genannt und eine Möglichkeit ist für mich die Kunst- und Kulturförderung. Eine Option ist an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anzuknüpfen. „Folkwang“ kommt aus dem nordischen und bedeutet so viel wie „Halle des Volkes“. Osthaus wollte Kunst allen zugänglich machen und auch Künstlerresidenzen schaffen.

Eine Möglichkeit wäre eine Künstlerkolonie zu gründen, eine, die explizit KünstlerInnen aller Sparten mit Kindern fördert und damit eines der ersten nicht nur in Deutschland, sondern auch Weltweit wäre. Dafür wäre die Region nicht mal auf den Staat angewiesen, eine von UnternehmerInnen gegründete Stiftung könnte dazu eine Alternative bieten. Ein Ort der sich dafür anbieten würde, wäre beispielsweise Altena, eine Stadt mit großer Abwanderung in der Region, aber auch eine Stadt mit einem bedeutenden künstlerischen Erbe, wie das Apollo-Kino.

Südwestfalen könnte Vorbild  und Vorreiter in Deutschland für eine familienfreundliche Kulturförderung sein. KünstlerInnen würden nicht nur eine Unterkunft und Förderung, sondern auch Kinderbetreuung geboten, indem die Kinder für die Zeit des Aufenthaltes in die lokalen Schul- und Betreuungseinrichtungen integriert werden. Daraus könnte eine Win-Win-Situation entstehen, denn indem die Kinder betreut werden, können sich Künstler selbstverständlich auch in das lokale Geschehen miteinbringen.

Ein ambitioniertes Projekt mit dem ich, mit einem großen Bogen zwar, an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anknüpfe. Ein Projekt, das einer Region würdig ist, die viel leistet, sich aber selbst gerne unter den Scheffel stellt. Ein Projekt, mit dem aus einem Understatement, ein Statement werden könnte, auf das die deutsche Kulturlandschaft wartet.

Osthaus, Hagen, Bilder von Simone Scharbert, ganz HERZLICHEN DANK dafür!

 

Tanztheater Karin Stroot, Bilder von Karin Strooh, Herzlichen Dank dafür!

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Verkehrsberuhigung

Licht fällt gelenkig durch Verkantungen. Es riecht nach Baumarkt. Und nach Männern, die wissen, was zu tun ist.
Drei Trucker zwischen mir und Jesus. Hinter uns radelnde Rentner.
Die Filzdeckchen auf den Hockern grob. Ihre Farbe königlich.
Ich stehe in der ökumenischen Autobahnkirche von Siegen, einem Gotteshaus, das von außen aussieht wie die Luxusgarage eines James-Bond-Bösewichts.
Von innen ist die Kirche weniger einschüchternd. Das Holz sieht preiswert aus. Und aufrichtig. Unlackierte Spanplatten, pragmatisch ineinandergesteckt. Eine Kirche zum Selberzusammenbauen. Ikea verkauft jetzt auch Möbel für Haustiere. Sollten sie ihr Sortiment je um Möbel für Götter erweitern, könnte das aussehen wie hier: Helles Holz, die Teelichter aus dem 100er Pack. Alle Verschwendung von Raum passiert oben in der Kuppel – der Wohnraum Gottes hingegen ist optimal genutzt. Minimalistische Hocker, die zum praktischen Stapeln einladen. Der Altar, ein Schreibtisch aus der letzten Kollektion. Alles macht den Eindruck, als könne es innerhalb weniger Stunden wieder auseinandergebaut und abtransportiert werden. Falls Gott umzieht.
Unseren Göttern Häuser bauen zu wollen, ist ein zutiefst menschlicher Impuls. Andere Tiere machen so etwas nicht. Schon die alten Griechen entschieden, dass ihre Götter nicht irgendwo hausen sollten, sondern es schön haben. Mit Säulen und allem Drum und Dran.
Selbst die Israeliten schleppten ein riesiges Zelt durch die Wüste auf ihrer 40jährigen Reise, das Zelt der Begegnung. Dort trafen sie Gott, schufen bewusst Raum, um ihn zu treffen, nicht irgendwo, sondern an einem besonderen Ort. Sie trugen das Zelt bis nach Jerusalem, trugen es bis sie Gott einen Tempel bauen konnten, ein echtes Zuhause.
Ich stelle mir vor, dass das Zelt der Israeliten von innen so ähnlich aussah wie diese Autobahnkirche – minus Kreuz natürlich. Ein Ort, an dem Menschen Gott begegnen können, während sie unterwegs sind.
Gott wohnt natürlich überall: Im Billighotel auf dem Parkplatz neben der Kirche. In der muffeligen Spielhalle direkt nebenan. Im Lastwagen mit dem Leuchtschild, in dem das Wort „Harry“ blinkt. Auch bei BurgerKing schräg gegenüber. Was immer Gott ist, ist überall.
Ich schaue lange auf das Kreuz. Das Architektenbüro Schneider+Schumacher hat alle Register gezogen. Auch die Sonne gibt heute ihr Bestes, den gewünschten Effekt zu erzielen. Ein Engelsgesang-Aaaaaaaaaaahh rieselt Licht auf das Kreuz. Alles ist erleuchtet.
Ich stehe auf, und blättere durch die deutsche Version der ausliegenden Truckerbibeln, die nur aus dem Neuen Testament und ausgewählten Psalmen besteht. Ich lese im Lukasevangelium, aber werde nicht warm mit diesem netten orientalischen Tischler. Jesus und ich haben, um im südwestfälischen Bild zu bleiben, einfach keinen Draht zueinander.
Ich schließe die Augen und atme tief ein. Der Geruch des Holzes erdet mich. Vielleicht sollten auch Museen nach Holz riechen. Und Gerichtsbehörden. Orte, denen es gut tun würde, ihnen ein bisschen Hoheit zu nehmen und ihnen eine Erinnerung einzufügen, dass wir – Holz, Kunst, Gott, Demokratie – alle im selben Boot sitzen. Ich fühle mich demütig, ohne mich erniedrigt zu fühlen. Der Holzgeruch erinnert mich an die Schöpfung, und daran, dass mir egal ist, ob Gott die Menschen geschaffen hat oder die Menschen Gott. Ich möchte glauben, nicht wissen, dass ich Teil einer bewussten Entscheidung, eines mutigen Experiments, bin. Dass sich etwas Höheres, Liebendes entschieden hat, uns zu kreieren, trotz unserer uneleganten, allzu offensichtlichen Fehlbarkeit. Wenn manche Menschen dieses Höhere Jesus nennen wollen, warum nicht?
Das hier ist ein guter Ort, egal, was man glaubt. Ein Ort voll stiller Autorität. Einer, der handfest, aber erhaben ist.
Ein Ort, der anmutig ist, ohne einzuschüchtern.
Ein Ort für Trucker. Für Radfahrer. Für Regionsschreiber.
Ein Ort für alle.

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Kleiner Bonus: Hier die Siegerländische Version des Vaterunser (und für Interessierte, das Vaterunser auch in 703 anderen Sprachen/Dialekten – Klingonisch ist auch dabei –  dank der #reformaction2017):
https://www.reformaction2017.de/vaterunser/beitrag/Vq9NL

 

Außenansicht 1 ©lka

 

Außenansicht 2 ©lka

 

Holz ©lka

 

mein Mann, erleuchtet ©lka

 

 

 

aaaaaaaahhhh ©lka

 

„together you and me are purple, because we are so royal“ ©lka

 

Holzholz ©lka

 

Jumbopack ©lka

 

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Truckerbibel 1 ©lka

 

Truckerbibel 2 ©lka

Mehr von Lisa Kaufmann

WINNING

 

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„Nein, nein. Sie müssen da ganz anders rangehen, Frau Meyer. Wir im Reinvention Center reden nicht von weakness. Von Versagen. Von Verfall. Nein!“ Ihr Personal Improvement Adviser, kurz PIA, haut auf den Tisch. „Wir reden von marketable skills, ja? Ihre Schwächen sind Ihre Stärken, Frau Meyer. Unsichtbar ist das neue vermittelbar.“ Er fixiert etwas knapp über ihrem Kopf. Frau Meyer dreht sich um und sieht einen hageren Mann mit schulterlangem blondem Haar, der mit gesenktem Blick einen Teleprompter in die Höhe hält.
„Invisible is the new black, ja?,“ verkündet der PIA weiter. „Wer will behaupten, dass Sie keinen Wert mehr für diese Gesellschaft haben? Wer? Das ist doch unverschämt, machen Sie sich doch nicht so klein, ja?“ Ihr Personal Improvement Adviser streicht sich über seine Glatze und haut ein weiteres Mal auf den Tisch.
„Die Geisteswissenschaften mögen abgeschafft sein, aber das muss ja nicht das Ende Ihrer Karriere bedeuten, Frau Meyer. Bücher und Kunst und so sind ja schön und gut, aber wissen Sie was auch wichtig ist? Hotpants!“
„Ja?“, fragt Frau Meyer und schaut auf ihre großen Oberschenkel, die durch eine Cordjeans in Form gebracht auf der Sitzfläche des Stuhls liegen.
„Ja, Frau Meyer. Hot is the new smart. Skin over looks!“
Skin over looks? Renate Meyer dreht sich skeptisch zum Teleprompter um. „SKIN OVER BOOKS!“, steht dort in großen, selbstbewussten Buchstaben.
„Wir reden hier nicht zwangsläufig von Ihnen in Hotpants, gewiss nicht, aber profitieren wir nicht alle von Schönheit in der Welt? Ist das kein ehrenwerter Beitrag, den Sie leisten können, Frau Meyer?“ Sie nickt unsicher.
„Sie können als Personal Optimization Worker arbeiten, als POW, Frau Meyer. Sie können die Welt im wahrsten Sinne des Wortes heißer machen!“ Frau Meyer hört auf zu nicken.
„Spitze! Ich finde es spitze! Monday beginnt Ihr POW-Trainingscamp in Winning, vormals Siegen – alle Infos kriegen Sie an der Rezeption“, ruft der PIA und klatscht dynamisch in die Hände, woraufhin die Tür hinter Frau Meyer aufschwingt. Sie steht benommen auf, nickt dem Mann hinter dem Teleprompter zu und tritt durch die Tür in ihre berufliche Zukunft.
Drei Wochen zuvor wurden die Geisteswissenschaften an der Universität Siegen abgeschafft. Nach den Kirchen und Museen, hätte die Schließung der Philosophischen Fakultät keine Überraschung mehr sein dürfen. Frau Meyer war trotzdem überrascht. Einige Tage traf sie sich noch morgens mit früheren Kollegen der Geschichtswissenschaft vorm Fakultätsgebäude. Zusammen starrten sie auf die Werbetafeln, die nun ihren ehemaligen Arbeitsplatz verkleideten und lasen die Leuchtbotschaften, die dort in Dauerschleife über die Bildschirme liefen: „WIR LEBEN IM JETZT!!!“, „NEUES LIEBLINGSFACH: ZUKUNFT“, „LIEBER GESCHICHTE SCHREIBEN ALS GESCHICHTE STUDIEREN“. Sie waren ratlos. Ihre Demonstrationen blieben unbesucht, ihre handgemalten Poster sahen mickrig aus im Vergleich zu der Neonleuchtschrift, die hinter ihnen thronte, und schnell fühlten sie sich wie ewig Gestrige, wenn Studenten sie verlegen und nicht ohne Mitleid im Vorbeigehen anlächelten. Die Studenten der Geisteswissenschaften hatten die Wahl auf eines der Fächer, die es noch gab – Maschinenbau, Medizin, Mechantronik… – umzusatteln, oder eine Umschulung zum Personal Optimization Worker zu machen. Den Lehrenden blieb keine Wahl: Sie wurden in ihren Kündigungsemails gebeten, beim örtlichen Reinvention Center vorstellig zu werden.
Die ersten Wochen übte Frau Meyer ihren neuen Job aus wie in Trance. Nachdenken war ohnehin nicht gefordert, und so latschte sie wie ein Zombie mit der Heizplatte in den Händen ihrer Klientin, Princess Unicorn, hinterher, damit diese ungeachtet der Außentemperatur winzige Hotpants und Miniröcke tragen konnte. Sie betrachtete sich und die anderen Personal Optimization Worker – die beiden Texter, das Windkind, den Make-Up Artist, die Frau mit dem Teleprompter, die Parfumbeauftragte und die Beleuchterin – wie sie früher desinteressiert nach einem langen Tag eine Sendung im Fernsehen geschaut hatte. Sie sah zu, wie die POWs um ihre Klientin, „Princess Unicorn“, eine ehemalige Sozialversicherungsfachangestellte, nun Influencerin, schwirrten, sah zu, wie sie ihr Leben ausleuchteten, einparfümierten und schrieben und war sich sicher, dass das alles a) nicht wahr sein konnte und b) im Falle, dass es doch wahr war, unmöglich etwas mit ihr, Renate Meyer, zu tun haben konnte. Diese ersten Wochen, in denen sie ihr Leben wie durch eine Milchglasscheibe betrachtete hinter der alles unwirklich war, wichen ungefilterter Panik. Tagelang rang sie um Luft, und konnte kaum laufen. Am Ende dieser mehrtägigen Panikattacke, gab einer der Texter ihrer Unit ihr wortlos eine Jumbopackung Prozac mit der Aufschrift „1x täglich 40mg“.
Seitdem ist nichts mehr kompliziert. Sie ist taub, aber die Welt hat wieder Ordnung. Nach drei Monaten als Personal Optimization Worker genießt Renate Meyer beinahe, wie ihre Welt auf Grundbedürfnisse zusammengeschrumpft ist. Verdichtet zu „satt“, „ausgeschlafen“, „schmerzfrei“, „wohltemperiert“. Um so tragischer, wenn eines der Bedürfnisse unerfüllt bleibt. Vorne schwitzt sie, hinten friert sie. Wie eine lebende Glasfabrik. Einfach Siliziumoxid, Natriumoxid und Calciumoxid schlucken und kleine hübsche Kugeln ausscheiden. Vielleicht könnte das ein Nebenverdienst werden – optimization und so.
An das Gewicht der Heizplatte hat sie sich mittlerweile gewöhnt, die Hitze bleibt unerträglich. Diese neue Arbeit ist nicht einfach, aber sie ist unkompliziert. Das einzige was sie aus der Fassung bringt, sind Störungen im Tagesablauf und hartnäckige Erinnerungen an früher, die wie ein immerwährender Mückenstich durch Jucken um Aufmerksamkeit winseln. Kratzen macht es schlimmer, das weiß sie selbst. Die einzige Strategie ist, die Erinnerungen zu ignorieren und der Versuchung zu widerstehen.
Sie bleibt hinter Princess Unicorn stehen, stellt die Heizplatte ab und senkt den Blick. Princess Unicorns goldglänzenden Beine stecken heute in hohen, pink-glitzernden Stiefeln, ihre kurzen Jeans-Hotpants bedecken nur knapp ihre Pobacken – alles sieht aus wie immer, aber irgendetwas stimmt nicht. Renate Meyer lässt ihren Blick über Princess Unicorns Pelzjacke gleiten, über die winzige rote Lackhandtasche, die verloren von ihrer Schulter baumelt. Etwas fehlt. Frau Meyer wird nervös, heißer Schweiß läuft ihren fröstelnden Rücken herab. Sie konzentriert sich auf Princess Unicorns schillernde Fingernägel, die das künstliche Licht reflektieren wie die Mistkäfer vergangener Zeiten – alle Insekten außer Schmetterlinge wurden auf Wunsch der Influencer ausgerottet. Der Personal Optimization Worker, der für die Beleuchtung (Sierra-Filter wird derzeit gewünscht) zuständig ist, hat heute ganze Arbeit geleistet. Auf Princess Unicorns Wangen schimmern verschiedene Rosatöne in wohldurchdachtem Farbverlauf, sie sieht aus wie in goldenes Licht getaucht. Sie betrachtet anerkennend den Make-Up-Artist ihrer Unit, einen unscheinbaren Mann Mitte 40, der ihr vage bekannt vorkommt – vielleicht auch ein ehemaliger Dozent? Vielleicht ein Mitglied des Französischclubs oder der Elterngruppe?
Auch nach drei Monaten kennt sie die Namen der übrigen POWs nicht – wie Bekannte, die sich im Wartezimmer des Psychotherapeuten begegnen, nicken sie sich morgens höflich und verstohlen zu und ignorieren sich ansonsten. Sie betrachtet das babyblaue Haar, wie es träge auf Princess Unicorns Schultern liegt und da fällt es ihr auf: Das Windkind fehlt. Mit weichen Knien und offenem Mund starrt sie auf den Ort, circa einen Meter vor ihrem Client, an dem das Windkind stehen und ausgerüstet mit einem lautlosen Föhn für kontinuierliches Wehen sorgen sollte. Ursprünglich wurden Kleinwüchsige für diesen Job genutzt, da diese die ideale Größe haben, rückwärts vor dem Klient zu laufen ohne diesem dabei die Sicht zu versperren. Aber diese Ressource war schnell erschöpft – „Uns gehen die Zwerge aus“, titelte die BILD-Zeitung. Fortan wurden Kinder als Windmaschinen genutzt. Das anfängliche Unwohlsein der Clients mit diesem Arrangement war schnell vergessen und nun wundert sich niemand mehr, über vorsichtig rückwärts laufende 7-Jährige.
Jetzt scheint auch Princess Unicorn das Fehlen zu bemerken und blickt auf ihr Haar, das leblos auf ihren Schultern liegt. „Where the Windkind?“, fragt sie in dem Pidgin-Englisch, das schnell zur der einzigen Sprache geworden ist, die die Clients ohne Hilfe eines Teleprompters sprechen können. Der Texter und der Teleprompter schauen sich betroffen an. Die beiden scheinen etwas zu wissen und Renate Meyer merkt, wie Schweiß ihre Hände nässt. Störungen im Ablauf kann sie heute nicht vertragen, und vor allem nicht hier auf dem Siegberg, wo ihre Kirche stand.
„The Windkind dead, sorry“, sagt der Texter und senkt das Haupt. „No wind?“ Fette Tränen rollen aus Princess Unicorns kugelrund operierten Augen; die schweren falschen Wimpern senken sich wie langsam herabstürzende Vögel. Das Windkind ist tot. Angstschweiß wärmt Renate Meyers Hintern, aber sie kann die neue Wärme nicht genießen.
Benommen geht sie weiter bergauf, stolpert, und lässt beinahe ihre Heizplatte fallen. Sie blickt herunter und entdeckt einen Stein, daneben noch einen – einige Meter weiter eine winzige Steinmauer. Das muss sie sein, ein Stück immerhin. Panisch sucht sie weitere Steine, versucht, sie in ihrem Kopf zu dem sechseckigen Grundriss der Nikolaikirche zusammenzusetzen.
Sie gibt auf. Erst das Windkind, jetzt die Nikolaikirche – ihre Selbstbeherrschung ist gebrochen. Das Jucken ist unerträglich. Renate Meyer wird kratzen bis es blutet.
Sie erlaubt sich fünf Sekunden. Dann muss sie die Erinnerungen mit Gewalt zurückdrängen, wie das Ersatzfederbett in die zu kleine Bettschublade.
5. Henner und Frieder, die beiden Statuen, die sie auf dem Weg zur Kirche begrüßten.
4. Die 9Bar, mit deren Eisbechern sie ihre Söhne bestochen hat, mit zum Gottesdienst zu kommen. Schöne Abende dort mit Kolleginnen aus der Universität und Freunden.
3. Der bemalte Stromkasten zu dem die Jungs immer Wettrennen gemacht haben, als sie noch klein waren.
2. Der linke Türflügel, verziert mit einem Löwen.
1. Auf der Spitze des Turms das Krönchen, ihr Krönchen.
Stop!

Es juckt nicht mehr. Das hier ist nicht aufgeben. Das hier ist Hingabe, denkt Renate Meyer und fühlt Tränen über ihre Wangen rollen.
„You sad? Poor POW, you want candy?“, fragt Princess Unicorn und zupft rosa Zuckerwatte aus der Tasche ihres Pelzjäckchens. Frau Meyer öffnet den Mund – die süße Watte klebt an ihrem Gaumen.
Sie blickt mit ihren verheulten, ungeschminkten Augen in Princess Unicorns schimmerndes Gesicht und fühlt Wärme und Glück durch ihren Körper strömen. „Me happy when you happy. And when not cold“, antwortet Renate Meyer und weiß, dass sie Recht hat.

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