Ich hatte Angst vor der Hölle

Ich habe in den 90er Jahren in einer christlichen Versandbuchhandlung in Wuppertal gearbeitet und dabei den Begriff „christliche Nächstenliebe“ in einer ganz neuen Dimension kennen gelernt.

Rolf Urspruch

Vor dem Treffen mit Rolf Urspruch habe ich mich ein wenig gefürchtet. Nach seiner ersten Mail an mich war klar, da würde einer erzählen, wie zerstörerisch Arbeit für Menschen sein kann. Und, das war mein erstes Gefühl, da war noch etwas, das darüber hinaus ging.

Wir treffen uns am Hans-Dietrich-Genscher-Platz am Bahnhof Barmen, Rolf Urspruch ist pünktlich, ein eher scheuer, zurückhaltender Mensch, der aber umso entschlossener wirkt. Er rollt das R und vielleicht ist er mir deshalb gleich sympathisch.

Keine 1.700 DM habe er verdient, als er Anfang der 1990er Jahre in der christlichen Versandbuchhandlung Verlag und Schriftenmission eine Vollzeitstelle antrat. Das wären heute nicht einmal sechs Euro die Stunde.
Ich hatte damals keine Ahnung, sagt Rolf Urspruch, dass das Ausbeutung ist, über Gehalt hat man einfach nicht gesprochen, auch unter den Kollegen nicht.

Wir spazieren Richtung Barmer Anlagen, die ehemalige Trasse der Barmer Bergbahn entlang. Früher, erzählt Rolf Urspruch, sind die Familien am Wochenende und an Feiertagen mit der Bahn zum Toellerturm hoch. Da war immer was los. 1959 wurde sie leider wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen.

Die Sache in der christlichen Versandbuchhandlung fing gleich mit einem großen Hindernis an. Ein Teil meiner Tätigkeit bestand darin, Büchersendungen zu kontrollieren und dazu musste ich natürlich sitzen. Es gab aber keinen Stuhl zum Schreibtisch. Als mein Chef morgens reinkam, fragte ich ihn, ob er mir nicht einen Stuhl besorgen will. Aber das hat er abgelehnt: Sie bekommen keinen Stuhl. Und da hat meine Kollegin Martina mir etwas Gutes getan und aus ihrem Elternhaus einen Drehstuhl geholt.

Ich war sehr ängstlich damals

Dieser Stuhl, sagt Rolf Urspruch, während wir tapfer den Berg hochlaufen, war dann hart umkämpft. Komischerweise nur mein Stuhl, nie der Stuhl der Kolleginnen. Seitdem er da stand, wurde er von unseren Kunden mitgenutzt. Das waren Leute aus anderen Gemeinden, die Kommissionsware zurückbrachten und neue Bücher aussuchten. Die waren offensichtlich der Meinung, dass ich keine Berechtigung hatte, auf diesem Stuhl zu sitzen, da standen also ständig dreckige Bücherkartons darauf oder Mäntel oder Jacken lagen auf der Lehne, kaum war ich nur mal kurz weg. Manche setzten sich auch einfach und standen nicht mehr auf, selbst wenn ich direkt daneben stand. Und ich habe mich nicht getraut, denjenigen zu bitten, aufzustehen. Ich hatte Angst, der bleibt sitzen, der weigert sich und was mache ich dann? Das ist dann ja noch demütigender.

Auf den Aufnahmen höre ich, dass wir immer noch bergauf gehen. Ich sage nichts. Die Verletzung von damals ist bis heute in Rolf Urspruchs Stimme zu hören.

Seit ich sechs Jahre alt bin, zumindest kann ich mich solange zurück erinnern, war ich schwer depressiv. Bis vor zwei Jahren. Ich hatte Angstzustände, Angst vor Menschen, Angst vorm Leben, Angst vor der Hölle. Also sehr stark von meiner christlichen Erziehung beeinflusst. Und deshalb konnte ich auch nicht soweit denken, dass ich vielleicht zu wenig Gehalt bekam.

Ich war sehr ängstlich damals, sagt Rolf Urspruch, ich habe nur die Kartons genommen und in eine Ecke gestellt, wo sie niemanden störten. Und wenn ich dann wieder aufstand und an meinen Platz kam, stand wieder alles voll.
Einmal, erzählt er, war ein Ehepaar aus Leverkusen da, schon etwas älter, wieder stand der Karton auf meinem Platz, wieder stelle ich den Karton an eine andere Stelle, und da sagte der Mann zu mir, du kannst froh sein, dass du hier arbeiten darfst.

Der Vorwurf lautete auf Hurerei

Hier war mal ein Planetarium, sagt Rolf Urspruch. Es wurde im Krieg beim Fliegerangriff auf Barmen zerstört und leider nicht wieder aufgebaut. Bekannte von ihm, erzählt er, die damals Kinder waren, hätten sich in die Wupper geschmissen, um den Flammen zu entgehen, und dort in den Fluten haben sie sich kennengelernt und später geheiratet.

Seinem Arbeitgeber, der Stadtmission, gehörte auch ein Altenheim in der Nähe von Siegen, der Leiter hatte eine Mitarbeiterin, die mit ihrem Freund ohne Trauschein zusammenlebte.
Und das wurde ihr ständig vorgeworfen, der Vorwurf lautete auf Hurerei. Er muss die ziemlich terrorisiert werden. Wenn diese Menschen bei anderen Sünde feststellen, können sie wirklich zudringlich werden, sagt Rolf Urspruch, und er sagt es so, dass man die Zudringlichkeit förmlich spüren kann.
Was hat Sie denn an der Stelle interessiert, warum wollten Sie dort arbeiten, frage ich.
Ich war froh, dass ich etwas gekriegt hatte, ich wollte unbedingt eine Stelle haben. Vom Arbeitsamt wurde mir eine Ausbildung zum Bürokaufmann vorgeschlagen, in einem Ausbildungszentrum, aber mir ging es psychisch ganz schlecht und ich wusste, das halte ich nicht durch. Und zur selben Zeit hatte ich auch meine Freundin kennengelernt, die in Wuppertal lebte und mit der ich dann 27 Jahre lang zusammen war. So gesehen war es die richtige Entscheidung, ebenfalls nach Wuppertal zu ziehen.

Bei Gott entschuldigen für jeden Mist

Als Kind hatte ich das Pech, ich musste in die Sonntagsschule der Brüdergemeinde gehen, und da ging es viel um die Hölle. Ich hatte unheimlich viel Angst vor der Hölle, mein ganzes Leben lang, ich war mir sicher, dass ich in die Hölle kommen würde und habe angefangen, religiöse Zwänge zu entwickeln. Zum Beispiel, ich muss mich dauernd bei Gott entschuldigen, wegen jedem Mist. Wenn mir der Deckel vom Mülleimer runterknallte, musste ich mich bei Gott entschuldigen. Und wenn ich heil über die Straße gekommen bin, musste ich mich sofort bei Gott bedanken.

An Wuppertal liebt er die Industriearchitektur und vor allem liebt er die Schwebebahn. Besonders im Stadtteil Vohwinkel, das bis heute von der Konstruktion der überirdischen Bahngleise dominiert wird. Er selbst kommt vom Dorf, in der Nähe von Marburg in Hessen, die Gegend ist ländlich und auch stark religiös geprägt, viele Freikirchen gibt es dort, ähnlich wie im Bergischen Land.

Rolf Urspruch vor der Schwebebahn in Wuppertal

Allerdings hatte ich auch Angst vor Menschen, vor allem vor Männern. Und das wussten die in meiner Arbeitsstelle. Zum Beispiel mein Chef, der war ein erfahrener Mann mit viel Menschenkenntnis, als Missionsinspekteur bereiste er die ganze Welt und guckte sich die Arbeit der Missionare an; er war zuständig, wenn es Konflikte gab. Der konnte Menschen gut einschätzen und er hat sofort gesehen, dass ich mich nicht wehren konnte. Schon beim Bewerbungsgespräch hat er gemerkt, wie konfliktscheu und ängstlich ich war, sonst hätte er mir nie diesen schlecht bezahlten Job hingeknallt.

Die Sache mit der Schokolade

Was waren denn Ihre Aufgaben?
Wareneingang und Warenkontrolle und einfache Werbetätigkeit, Zettel falten und Sachen tackern, das war es in der Hauptsache.
Konnten Sie denn von dem Gehalt leben?
Ich hatte keine Gehaltsvorstellungen, aber ich habe schon bald gemerkt, ich komme nicht richtig aus mit dem Geld. Die Kollegen konnten sich ein Auto leisten und jedes Jahr in den Urlaub fahren. Ich dagegen bin immer zu meinen Eltern nach Hessen gefahren und mein Vater hat mir 100 Mark gegeben, damit ich die Fahrtkosten bezahlen konnte. Ich habe aber daraus geschlossen, dass ich eben nicht so gut mit Geld umgehen kann wie die anderen.

Eine andere Sache, sagt Rolf Urspruch, war die Sache mit der Schokolade. Auf meinem Platz stand immer eine Schale mit Schokolade. Die Leute mussten über meinen Kopf hinweggreifen, über meine Schulter hinweg, um an die Schokolade zu kommen. Dass ich da saß, war ihnen egal, fast so, als wäre ich gar nicht da.
Heute würde man das Mikroaggressionen nennen, denke ich, eine Aggression, die als solche nachzuweisen gar nicht so einfach ist, weil sie so harmlos daher kommt. Aus vielen kleinen Mikroaggressionen entsteht ein Dauerbeschuss, dem das Opfer kontinuierlich ausgesetzt ist.
Ich habe dann angefangen, selbst Schokolade zu essen. Ich war also ziemlich beleibt. Und auf einmal hing da eine Karte an unserer Pinnwand, auf der war eine ziemlich beleibte Person abgebildet. Man ist, was man isst, stand da drauf.
Damit war ich natürlich gemeint, sagt Rolf Urspruch. Er lacht. Das war ziemlich gemein.
Waren die froh, dass sie ein Opfer hatten in Ihnen?, frage ich.
Ja, meint er, das kann schon sein.

Haben Sie Angst vor Hunden?

Wir kommen an einem Kriegerdenkmal vorbei, hier liegen die Helden aus dem ersten Weltkrieg begraben, erklärt uns ein Schild, und Rolf Urspruch erzählt von Gerda, der Sekretärin des Chefs, die sehr tüchtig war und sehr viele Überstunden machte. Sie war allerdings ein bisschen labil. Sie war von meinem Chef abhängig, der hieß Becker, und meine Kollegin Martina sagte, wenn die mal einen neuen Chef kriegt, das kann die nicht. Die kann nur mit dem Becker zusammenarbeiten. Und das, sagt Rolf Urspruch, hat der Becker ausgenutzt. Er hat sie oft bis aufs Blut geärgert, solange, bis die Gerda ausgerastet ist. Und der Becker saß dann da und hat das richtig genossen.
Wie hat er das denn gemacht?
Ach, der war sehr kreativ, der wusste, wie man Menschen verletzen kann. Aber die Gerda nannte ihn immer liebevoll das Beckerle, das sagt ja viel aus. Als der Chef dann die Position aufgegeben und nur noch in der Missionsgesellschaft in Neukirchen gearbeitet hat, ist die Gerda ihm hinterhergezogen.
Er ist früh gestorben, sagt Rolf Urpruch, und was aus der Gerda geworden ist, weiß ich nicht.

Blick von den Barmer Anlage auf die Stadt Wuppertal

Wir sind nun oben angekommen auf dem Barmer Berg und schauen hoch zum Toellerturm, bevor wir zurück zum Bahnhof gehen. Ein Hund steht vor uns und schaut uns boshaft an.
Haben Sie Angst vor Hunden?, fragt Rolf Urspruch, vor manchen schon, sage ich, ich mag jedenfalls nicht, wenn sie mich beißen. Gerade die kleinen schnappen ja gerne mal.
Genau, sagt Rolf Urspruch, die Wadenbeißer, das sind die schlimmsten. Der Hund geht zum Glück zu seinem Frauchen zurück, sie nimmt ihn an die Leine.

Rolf Urspruch hat sich viele kleine Begebenheiten aus einem Arbeitsleben gemerkt, manche davon sogar aufgeschrieben. Meine Kolleginnen und mein Chef waren Mitglieder der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland, Radevormwald. Ich gehörte nicht dazu, sagt er, weil ich von einer anderen Landesgemeinde kam. Und wer nicht dazugehört, läuft Gefahr, gemobbt zu werden.

Die nehmen mich nicht für voll

Wir unterhalten uns über die Frage, warum man es trotz schlechter Behandlung nicht schafft zu gehen. Ich denke an die Geschichte mit Gerda; vielleicht, weil man irgendwann kein Selbstwertgefühl mehr hat, schlage ich vor, weil man denkt, man kann es allein gar nicht schaffen? Ja, vielleicht stimmt das sogar, sagt Rolf Urspruch. Ich kam zu dem Schluss, das läuft überall so ab, ich kann mich nicht wehren und werde zum Spielball der anderen. Die nehmen mich einfach nicht für voll.

Nach neun Jahren schafft er es schlussendlich doch zu kündigen, aber ich war am Boden, sagt er.
Kurz danach hat der Laden übrigens pleite gemacht, erzählt Rolf Urspruch. Die hatten ja niemanden mehr, der die stupide Arbeit machte.

Erst als er vor zwei Jahren in das Pflegeheim gezogen ist, in dem er jetzt wohnt, ist plötzlich etwas mit ihm geschehen.
Die sind alle so engagiert da, sagt er. Die lieben dort alte Leute! Und da habe ich plötzlich meine Angst verloren. Er denkt viel über sein Leben nach und warum seine Eltern ihm nichts beigebracht haben. Schade, dass ich keine Kinder habe. Er würde gerne nochmal von vorne anfangen.

Wir trinken noch einen Kaffee, es ist ein warmer Tag im Juni, wir sitzen draußen. Rolf Urspruch möchte, dass ich seinen richtigen Namen veröffentliche. Es musste alles mal gesagt werden. Ein Foto machen wir auch noch. Vor der Konstruktion der schönen Schwebebahn, die ein paar Meter über uns vorbeislidet, Richtung Vohwinkel.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Spaziergang vom Bahnhof Barmen durch die Barmer Anlagen
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Der Wald hängt voller Spiegel

Ratingen-Cromford liegt definitiv nicht an der Straße der Arbeit. Dennoch treffe ich mich mit Thyra im Café der ehemaligen Textilfabrik – die nicht irgendeine Fabrik war, sondern die erste industrielle Fabrik auf europäischem Festland. Gebaut hat sie bereits 1783 ein gewisser Gottfried Brügelmann, der sich die Konstruktionspläne für die industrielle Verarbeitung von Baumwollgarn nicht ohne ein beträchtliches Ausmaß krimineller Energie beschafft hatte, nämlich durch Industriespionage. Immerhin hat er seine Fabrik nach dem britischen Vorbild in Cromford benannt und einen vollendeten englischen Landschaftspark um das Gelände bauen lassen.

Thyra ist schon da und bestellt gerade einen Kaffee.
Frau Holst, sagt die Kellnerin, wie schön, dass Sie mal wieder vorbeischauen.

Dabei ist es schon 16 Jahre her, dass Thyra hier gearbeitet hat – natürlich nicht in der Textilfabrik, sondern für den Landschaftsverband (LVR), der in der ehemaligen Produktionshalle mit angrenzendem Herrenhaus ein Industriemuseum betreibt.

Es ist eine seltsame Geschichte, sagt Thyra, dass ich damals hier gelandet bin. Denn eigentlich bin ich Tanzlehrerin.

Das war ein Knochenjob

Wir brechen auf und laufen Richtung Anger, wo mich Thyra auf die Wiesen hinweist, auf denen früher das Tuch ausgelegt und gebleicht wurde.

Hier wurde das Tuch auf den Bleichwiesen der Anger getrocknet

Das war ein Knochenjob, sagt Thyra. Hinter den Wiesen überqueren wir den Fluss und laufen auf ein herrschaftliches Anwesen zu. Es heißt Haus zum Haus.
Keine Ahnung, was das ist, auf jeden Fall ein staatstragender Name, sagt Thyra und lacht und ihr Lachen hört sich glücklich an, diese Art von Glück, die keinen Grund braucht.
Ich habe hier ja nur drei Jahre gewohnt; und davor war sie in Gummersbach, wo sie ihre erste Anstellung bekommen hat, in einer Ballettschule in Gummersbach, im Alten Rathaus.

Der Besitzer hatte das Rentenalter längst erreicht, aber wie Tänzer halt so sind, sagt Thyra, der hatte soviel Begeisterung für die Schule und für seine Kundschaft, der konnte gar nicht aufhören. Das war mein allererster Job. Meine Wohnung in Bergneustadt hat mir der Ballettschulenbesitzer besorgt.

Für unsere nächste Ballettschulenaufführung suchen wir Kinderspielzeug wie Roller oder Puppenwagen und außerdem suchen wir eine kleine Wohnung für unsere neue Mitarbeiterin.

350 Schülerinnen zwischen 3 und 80 Jahren hatte die Schule und jede bekam einen solchen Flyer in die Hand gedrückt. Eine Woche später hatte ich eine Wohnung. Er hat mich selbst hingefahren, mit seinem dicken Mercedes.

Der wusste über jeden Dackel Bescheid

Irgendwann, nach der Ich-weiß-nicht-wievielten Knieoperation, musste er die Ballettschule dann doch verkaufen, Tänzer haben eben meistens einen ziemlich kaputten Körper, sagt Thyra. Er war auch sehr groß, sogar größer als ich.
Thyra ist tatsächlich ziemlich groß, sicherlich über 1,80. Ich kann sie mir sehr gut als Tänzerin vorstellt, sie strahlt Disziplin und Leichtigkeit aus.
Der alte Besitzer war eine Institution in Gummersbach, der kannte Hans und Franz und wusste über jeden Dackel Bescheid, und wenn so jemand geht, geht eben auch die Kundenbindung in die Binsen.

Kostenfaktor Thyra

Der neue Besitzer wollte schließlich von mir wissen, warum denn so viele Leute die Schule verlassen. Der meinte offenbar, dass es an mir liegt.
An dir?
Ja, ich war die einzige Festangestellte und damit auch der Kostenfaktor schlechthin.

Wie war denn dein Tagesablauf?
Der Arbeitstag begann um 14 Uhr mit den Kleinen und das ging dann wie die Orgelpfeifen, weil die Älteren ja erst später aus der Schule kamen und am Abend waren die Erwachsenen dran. Und am nächsten Tag wieder um 14 Uhr angefangen. Bis abends um 20 Uhr.
Ganz schön viel, jeden Tag 6 Stunden unterrichten, sage ich (die nach jedem 1-Tages-Workshop zwei Wochen Urlaub braucht.)
Ja, das war wirklich viel.
Dann, eines Abends, ich wollte gerade nach dem Unterricht nach Hause gehen, ach Thyra, hieß es da, ich habe noch einen Brief für Sie, können Sie mir bitte den Empfang bestätigen, ja klar kann ich, sagte ich und quittiere den Brief und mache ihn auf und dann war das meine Kündigung.

Unterbezahlt für 23 Euro die Stunde

Im Nachhinein gesehen, war es aber gut, dass die mir damals in der Tanzschule gekündigt haben. Ich konnte nämlich, sagt Thyra, am Abend keinen Schritt mehr gehen vor Schmerzen. Ich habe das damals einfach akzeptiert und gedacht, meine Knie sind eben nicht die besten. Und erst, als ich dann arbeitslos war, habe ich gesehen, das geht auch anders! Das lag tatsächlich am vielen Stehen und am unaufgewärmten Tanzen.

Schön hier, oder? sagt Thyra. Und schau mal die Birke, die hier so einen 90 Gradwinkel macht.

Sieht ein bisschen aus wie ein Tänzerknie, oder?

Glücklicherweise habe ich ein Foto von der tanzenden Birke gemacht. Beim Abhören der Aufnahmen denke ich, dass es doch erstaunlich ist, wie sehr die Umgebung immer unsere Gespräche spiegelt und unsere Themen. Im Grunde, denke ich, hängt der Wald voller Spiegel, und in manche schauen wir hinein und in andere nicht.

Birke mit Tänzerknie

Danach habe ich erst einmal keinen neuen Job gefunden. Was auch daran lag, dass eine Festanstellung an einer Ballettschule extrem selten ist. Die meisten arbeiten als Honorarkräfte, wie das auch an der VHS üblich ist, wo man unterbezahlt für 23 Euro arbeitet. Brutto! Und das unternehmerische Risiko allein trägt.

Während sie arbeitslos war, hat Thyra sich künstlerisch engagieren können und das Musicalprojekt Oberberg mitgegründet. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit stolperte sie über eine Anzeige in der Zeitung, dass die Rheinland Kultur in Lindlar fürs Bergische Freilichtmuseum jemand suche, der bäuerliche Hauswirtschaft vorführt. Und da habe ich gedacht, naja, Kartoffeln kochen und Kräuterquark rühren, das kann ich.

Ich bin ganz überrascht, welche Trampelpfade deine App kennt, sagt Thyra, während wir durchs Gebüsch Richtung Stadtwald laufen.

Das war also mein Einstieg im Museum, sagt Thyra, und das ist ein total schöner Job, wenn man Natur mag. Ich habe gelernt, wie man auf einem Kohleofen kocht und das Holz hackt und das Anzündeholz abspaltet von den großen Brennklötzen. Ich habe Wildkräuter gelernt und Kühe melken und von der Milch Käse machen. Ich könnte auch auf einer Alm überleben, lacht Thyra. Der Hof Peters ist ein Bauernhof auf dem Stand der 1960er Jahre, und es ist natürlich viel anschaulicher für das Publikum, wenn da tatsächlich jemand wirtschaftet, wenn es da nach Essen riecht und im Herd das Feuer ist. Einen Bildschirm kann man immer montieren, aber das zu erleben, ist etwas ganz anderes.

Das Ding ist nur, sagt Thyra und lacht ihr Lachen, wenn ein Jahr vorüber ist, geht das ganze Programm wieder von vorne los. Und das fand ich … ein bisschen langweilig.

Die kann mehr als Ziegen melken

Im Freilichtmuseum hatte sie eine feste Stelle, vier Tage die Woche. Nach drei Jahren hat der LVR dann aber festgestellt, oh, Freilichtmuseum ist eine gute Sache, nur, im Winter ist da ja weniger los. Das müssen wir mal optimieren. (Es war die Zeit der großen Arbeitsoptimierung). Der LVR hatte damals regionale Kultur, Gesundheit und Straßenbau. An der Kultur wird natürlich als erstes gespart. Den Straßenbau haben sie an die spätere Straßen.NRW abgegeben, die sitzen auch in Gummersbach, hinterm Steinmüller.

Der LVR hat also Saisonbetrieb eingeführt, was eben bedeutete, dass ich die Hälfte des Jahres arbeitslos sein würde, und an dieser Stelle werden wir beinahe von Mountainbikern überfahren, deren Strecke über unseren Pfad verläuft.

Ratingen Stadtpark

Ich war allerdings vorher schon in der Zentrale aufgefallen. Vor allem dadurch, dass ich hartnäckig nachfragte, wie das Alternativkonzept aussieht, da ich ja meine Miete bezahlen muss. So bekam ich eine Aufgabe in der Zentrale in Brauweiler und konnte zeigen, dass ich organisatorisch und konzeptionell gut bin.

Damals hat der Landschaftsverband das Projekt Musik in den Klöstern initiiert. Und der Kollege, der das machen sollte, der war sehr gut in Marketing und Kommunikation. Aber nicht in Fleißarbeit. Die hat er an mich weitergegeben. Dann habe ich noch ein paar Vorschläge gemacht und ein paar Fragen gestellt, und dann war klar, die kann mehr als Ziegen melken. Tatsächlich bin ich dann nicht mehr zurück ins Freilichtmuseum, sondern nach Ratingen-Cromfort. Als Kassenleitung.

Plötzlich Führungskraft

An meiner Reaktion in den Aufnahmen wird klar, dass ich keine Ahnung habe, was eine Kassenleitung ist. Man verantwortet den Kassenbetrieb, schreibt die Dienstpläne und führt das Team, erklärt Thyra.

Meine Einstellung war vor allem auch der Tatsache geschuldet, dass ein elektronisches Kassensystem eingeführt werden sollte. Bis dahin ging beim LVR die Buchhaltung zu Fuß, sagt Thyra, und wie aufs Stichwort höre ich in den Aufnahmen ein Flugzeug auf seinem Anflug zum Düsseldorfer Flughafen, der nur 8 Kilometer entfernt liegt. Und – ganz revolutionär – sagt Thyra, wir fingen sogar an, E-Mails zu schreiben! Das war 2003. Vom Ziegen melken direktemang in die Digitalisierung.

Dann ging es Schlag auf Schlag mit der Karriere. Nach 3 Jahren Kassenleitung in Cromford wurde ihr die übergreifende Objektleitung aller damals sechs LVR-Industriemuseen angeboten.
Und auf einmal war ich Führungskraft mit 80 Mitarbeitern, sagt Thyra und lacht, noch immer überrascht von diesem gewaltigen Karrieresprung. Das Coole daran war, dass ich alles ja selbst schon einmal gemacht hatte, das hat mir sehr geholfen.

Wir bleiben stehen und sagen tolles Bild, nur weiß ich leider nicht mehr, was wir in diesem Moment bewundert haben.

Wahrscheinlich haben wir dieses Mohnblumenfeld gesehen

Später hat Thyra die Hälfte der Museen abgegeben und sich museumsübergreifenden Themen gewidmete, das bedeutete Projektarbeit. Man gab mir ein Buch und sagte, lesen Sie dieses Buch. Da steht alles drin über Projektmanagement. Ich dachte, ok, ich habe zwar nicht alles verstanden, aber probieren wir es einfach mal. Schritt für Schritt. Wie im Tanzunterricht.

Sag mal ein Beispiel, bitte ich sie. Zum Beispiel, sagt sie, wie planen und erfassen wir die Arbeitszeit der Mitarbeitenden? Bis dahin gab es handschriftliche Dienstpläne und Stundenzettel. Das ist aber old school und fehleranfällig, deshalb haben wir auf Software mit elektronischer Stempeluhr umgestellt. Ein riesiger Aufwand war das.

Wir stehen an einer Ampel gegenüber einem Haus. Auf einem Schild ist ein Hund abgebildet, der als Warnung gelten soll. Zu unserer Verblüffung steht genau dieser Hund plötzlich direkt neben uns, in echt. Ist das derselbe Hund, der hier abgebildet ist, frage ich die Besitzerin und deute auf das Schild. Nee, nicht ganz derselbe, lacht sie. Aber das ist wirklich meine Küche, sagt die Frau und deutet auf das Küchenfenster neben dem Schild.

Die kleinste Abteilung der Welt

Die Ampel springt auf grün.

Inzwischen, sagt Thyra, bin ich seit 23 Jahren bei der Rheinland Kultur.
Und seit die neue Chefin da ist und den Bereich umstrukturiert hat, hat Thyra sogar ihre eigene Abteilung bekommen. Am Stammsitz in Brauweiler leitet sie „die kleinste Abteilung der Welt.“
Endlich bin ich da angekommen, wo ich selbst gestalten kann. Wir machen museumsübergreifende Projekte. Die nächste Arbeitsbesprechung am Montag wird übrigens eine Arbeitswanderung sein!, sagt Thyra. Hoffentlich hält das Wetter!

Die Frau mit dem Hund überholt uns und wünscht uns ein schönes Wochenende. Wir wünschen zurück.

Findest du, dass es überhaupt Führung und Leitung geben muss?, frage ich Thyra, während ich meine Jacke anziehe, die Sonne ist weg und Wolken türmen sich auf.

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, gesellschaftlich stehen wir an dem Punkt, dass wir schon noch jemand brauchen, der den Hut aufhat. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht vielleicht auch eine Entwicklung geben könnte, die das eines Tages überflüssig macht. Wenn man die Historie anschaut, könnte das schon eine logische Weiterentwicklung sein.

Zurück in Cromford essen wir im Museumscafé einen unfassbar guten Käsekuchen, der noch ganz warm ist.
Du musst dir unbedingt das Museum anschauen und das Herrenhaus, sagt Thyra.
Zu jeder vollen Stunde wird das Mühlenrad in Bewegung gesetzt und man kann den berühmten Waterframes zuschauen, wie sie ihre Arbeit tun.
Und das mache ich auch.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Rundwanderung von Ratingen Cromford zum Blauen See
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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Der Typ

Du, ich bin einfach nur froh, wenn ich heute hier rausgeh. Ich komm hier jeden Tag mit guter Laune. Sagen alle: Sonnenschein. Und so will ich auch wieder gehen.
Aber der Typ? Der Typ?!
Ich versteh ja alles erstmal. Vielleicht Drogen. Oder Familie. Sicher hat der es auch nicht leicht. Das ist aber noch kein Grund.
Nein, Doris, nein. Du machst dir keine Vorstellungen. Der vergrault mir die Leute. Das ist mal das erste. Und das zweite ist: Der riecht. Das hab ich denen auch gesagt. Ich so zum Ordnungsamt: Ich kann da gar nicht rangehen! Wobei, erstmal war ja immer noch Polizei.
Ich erstmal die Polizei angerufen, aber die Polizei kommt nicht raus. Die kommt einfach nicht raus, Doris, die kann nur Knollen eintreiben, sonst nichts! Aber Knollen eintreiben, das können die. Du, ich muss mal auf die Uhr gucken. Hab noch Pause, aber nicht mehr lang.
Jedenfalls, ich also dann Ordnungsamt angerufen. Und die sind auch gekommen, sechzehn Minuten später. Da hast du nur gehört: Mit dem kann man nicht umgehen, woll? Ja, vielen Dank, das hab ich auch schon gemerkt.
Die haben den dann weggeschickt. Eine Stunde, dann stand der wieder da. Wieder Krawall gemacht, wieder die Leute angeschrien. Unmöglich, Doris, unmöglich! Der macht da eine Riesenwelle. Ich sag ja, der tut mir auch leid.
Aber was das soll? Der steht mir direkt am Eingang! Ich so: Ist der von der Konkurrenz? Jetzt hab ich noch fünf Minuten. Dann muss ich wieder rein. Weiß nicht, was ich heute noch machen soll. Doris, mir ist ganz schwindlig!
Aber ja.
Aber ja.
Gibt immer zwei Seiten, woll?
Aber wenn vor deinem Laden einer ausrastet, über Stunden, da kriegst du es einfach mit der Angst.
Wir jedenfalls: Nochmal das Ordnungsamt. Und da geht keiner ran. Und wir: Wieder angerufen. Bescheid gesagt, Viertelstunde, kommt keiner. Und natürlich kommt auch sonst keiner mehr. Würd mich da auch nicht in die Nähe trauen.
Hab gedacht, nicht, dass der mir noch, ich weiß nicht, Doris, was ist mit den Leuten? Also wieder beim Ordnungsamt geklingelt. Kommt keiner, woll?
Nein.
Ich schwöre.
Ich. Schwöre. Es. Dir.
Doris! Die haben gesagt: keiner frei.
Wir schreiben jetzt einen Brief.
Wir schreiben einen Brief, der geht direkt an den Bürgermeister. Die Brigitte, die kennt sich da aus. Der geht ins Rathaus, bis ganz nach oben, und dann sehen wir mal. Hat die Brigitte gesagt. Und ich sag: Mir reichts für heute. Ich geh da nicht wieder rein. Doris, ich war gestern beim Arzt. Du weißt nie, wie lang das Leben noch geht. Schau dir die Jessica an. Der Jessica, der haben sie es letzte Woche einfach ins Gesicht gesagt. Was meinst du, wie sich ein Mensch da fühlt? Was meinst du, was da los war.
Ich hab morgen erstmal Friseur. Das ist auch nötig. Und dann sehen wir weiter. Da war nur noch ein Termin freu. Aber der geht ja in einer Stunde durch bei mir. Und wenn ich Montag wieder in den Laden komm, und wenn dann da immer noch der Typ ist, und wenn der dann immer noch schreit, dann weiß ich auch nicht, woll?
Ich mach jetzt Schluss.
Aber schnell, sonst guckt noch mein Chef.

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Die Kneipe

Ulli, pass auf, es ist so. 2019. Schon 2019 hab ich da manchmal mutterseelenallein am Tresen gesessen. Da kann ich mein Bier auch zuhause trinken. Setz ich mich vor den Spiegel, dann ist mehr los. Und billiger ist das auch.

Also komm mir nicht mit Corona. Corona haben alle gehabt. Aber da war schon vorher niemand, Ulli. Keine Sau. Und deshalb sag ich, der Lothar macht nicht mehr lang. Der macht nicht mehr lang, und das ist gut so. Der hat fertig, der Lothar. Weißt du, wie alt der ist? 60, 61, sowas. Und wenn die vergessen haben, dem in die Rentenkasse zu zahlen, was sie sehr wahrscheinlich vergessen haben: ein ganz armes Schwein. 

Naja, so ist das. Früher haben wir alle gedacht: Hallo, wir sind die Könige! Das ist halt vorbei. Aber Stammgäste nimmst du nicht aus, Ulli, dabei bleibt es. Die Stammgäste sind dein Kapital. Das hat der Lothar nie verstanden. Da hast du einmal dein Portemonnaie vergesssen, einmal schwach auf der Tasche, da ging der Hahn zu. Und deshalb ist da keiner mehr hin, mein Lieber. Corona, von wegen. 

Jetzt hat er es noch mit einer neuen Kellnerin versucht. Meint die, sie wär bildhübsch, hat sie selbst gesagt. Ich hab die ignoriert, mein Gott, es gibt schönere. Ist nicht meine Welle, sag ich zu meiner Frau. Ich sag: Zahl du bei der, und dann gehen wir. Und das haben wir gemacht. Und sind dann runter zu der neuen. Die gefällt mir ja nicht. Gar nicht gefällt die mir, schon das Interieur. Aber die nehmen für frisch Gezapftes einen Euro. Null vier! 

Klar, Ulli, klar. Das ist der Einstiegspreis. Aber so hab ich das auch bei der Gans erlebt, die waren ewig auf eins fuffzig. Die hatten da immer ein Dreißig-Liter-Fass. Und in zwei Stunden haben die locker zwölf Fässer durch. Dann hatten die mal die Brauerei gewechselt. Das ging auf eins siebzig, aber das hielt sich auch lange. Und jetzt sind sie auf zwei. Aber was krieg ich sonst für zwei? Nichts, Ulli, nichts! Ich will nur mein Bier trinken, in Remscheid. 

Und der Lothar, der versteht es einfach nicht. Der lässt ihn verkommen, den schönen Laden. Wirst sehen, am Ende steht der da, mit seiner Zicke von Kellnerin, und zählt aber die Penunze. Das wär früher nicht passiert. Als noch der eine die Kneipe gemacht hat, der eine mit dem Bart. Der, wo immer selbst noch die Leiter hoch ist. Weil oben der Fusel steht. 

Weißte doch selber, wie der heißt! Der ist jetzt in Günzburg. Günzburg, Ulli! So sind halt die Zeiten. Ich warte einfach darauf, dass der Lothar die Miete nicht mehr zusammenkriegt. Das ist bald soweit, und dann: Bing! Wechselt die Truppe. 

Der ist ja gar nicht Hauptpächter. Der Hauptpächter sitzt auf Malle. Ewig schon. Weiß aber keiner genaues. Ich war neulich auch da. Malle, mein ich. Geht ja jetzt wieder. Und was soll ich sagen! Weißt du selbst, Ulli, weißt du selbst. Die haben Kneipen. Schweden! Finnen! Deutsche! Iren! Holländer! Alle in einem Laden. Und was du sonst noch denken kannst. Pool. Billard. Dart. Wahnsinn. Nur essen kannst du da nicht. aber da musst du dich halt entscheiden. Ob du essen willst oder trinken, Ulli. Im Leben. 

Na. Wir wollen mal sehen, wie lange der Lothar es noch macht. Leid tut er mir schon, das geb ich zu. Aber ich hab’s ihm immer gesagt. Jetzt ist es zu spät. Jetzt kommt erstmal der Weihnachtsmarkt, mein Lieber. Und Weihnachtsmarkt, das ist ein Gemetzel, das weißt du. Da kommt keiner gut raus. 

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Zwischenruf: Schnipsel IV

Als Regionenschreiber ist man ja oft auf der Jagd. Nach DEM Satz, der wirklich etwas von der Umgebung erzählt, DEM Moment, in dem Menschen etwas offenbaren. Die Jagd macht müde. Deshalb setzt man sich. Und wenn man dann sitzt, ereignen sich Satz oder Moment manchmal völlig unvermittelt. Viel öfter noch ereignet sich gar nichts. Und am häufigsten ein Weder-Noch, das erstaunlich dringend aufgeschrieben sein will. Verstreute Notizen.
(Anm.: Auch eine liebgewonnene Gewohnheit vom letzten Mal; Schnipsel I & Schnipsel II, Schnipsel III)

Remscheid, Alleestraße. Die Dame, die sich vom Stuhl hievt, den Tisch umkurvt, ihren Rollator stehenlässt, die rüstig zum Eingang des Backshops wackelt und durch die Tür ruft: „Hallo! Chef! Eine Bestellung!“
„Selbstbedienung!“, kommt es von drinnen.
Die Dame prustet: „Nö, dafür bin ich zu alt.“

Remscheid, Theodor-Heuss-Platz. „Spielt ihr hier richtig Basketball oder nur just for fun?“ Der Mann quatscht die zwei Jungs an, die auf den Korb am Remscheider Löwen werfen. Das heißt, sie haben geworfen – bis die noch winzige Tochter des Mannes im pinken Anorak den Ball geschnappt hat und hinweggewetzt ist. Sie spielten schon richtig, sagen die Jungs unwohl und blicken ihrem Ball hinterher, den das Mädchen nun Richtung Allee-Center trägt. Ihre Mutter läuft ihr hinterher und versucht die Kleine sanft zu überreden, das fremde Spielgerät wieder herzugeben. „Welche Position?“, fragt der Mann die Jungs fachmännisch, „Ah, Point Guard, verstehe“, sagt er, „Ist gut, wie ihr das spielt“, sagt er, „sehr, sehr gut.“ Die Jungs nicken zunehmend unwohl, der eine dreht sich zum wiederholten Mal nach ihrem Ball um, als ein Schrei ertönt, gleich darauf die Tochter auf dem Arm der Mutter zurückkommt, die Mutter ruft: „Jetzt ist Alarm!“ Die Jungs wollen wissen, wo ihr Ball geblieben ist. „Na, vielleicht macht ihr mal Schluss für heute“, sagt der Mann, räuspert sich und geht im Stechschritt davon.

Remscheid, Peterstraße. Eine junge Frau versucht, einen Pekinesen zu bändigen. Das Tier springt an ihr hoch, schüttelt den Pelz, schnappt übermütig nach Frauchens Händen. Zwei Passanten bleiben stehen und finden den Hund putzig und süß. Die Frau fährt entnervt herum: „Mich können‘se auch mal anfeuern, danke!“

Remscheid, Carl-Friedrich-Straße. Zwei Schüler grinsen über das ganze Gesicht und zeigen dabei hervorragend justierte Zahnspangen. Der eine hält ihnen ein Handy vor die Gesichter, sie hören einer Stimme zu, ihr Grinsen wird immer breiter dabei. Das silberne Blitzen des eingespeichelten Metalls, bis der andere, er hat einen kiffenden Teddybär auf dem Pullover, die Handystimme schließlich auflachend unterbricht: „Klar, wahrscheinlich. Dann bin ich jetzt plötzlich so einer, der mit einer Zwei nicht mehr zufrieden ist?“

Remscheid, Gewerbeschulstraße. Zwei Schülerinnen, dick geschminkt, noch dicker angezogen, schlurfen der überraschend prallen Sonne entgegen. Der einen verläuft der Mascara: „Sind wir in zehn Minuten am Rathaus oder was meinst du?“ Die andere zieht an ihrem Seidenschal: „Keine Ahnung, in dem Tempo bleiben wir hier.“

Remscheid, Hindenburgstraße. Der glatzköpfige Mann mit verkniffenen Augen, der an der Bushaltestelle lehnt. Er lässt Bus um Bus um Bus vorbeiziehen, ohne sich auch nur umzudrehen. Das weiße Shirt platzt ihm fast über dem Bauch, er hat es trotzdem in die Hose gesteckt, Tätowierungen quellen aus den Ärmeln und dem Halsausschnitt. Sein Gesicht ist rot, und als die Kellnerin des nahen Cafés aus der Tür kommt, durchzuckt es ihn plötzlich: „Ey, ey, ey!“ Er brüllt, er zeigt auf die Teller, er zeigt auf die Kinder, die die Teller bekommen, alle starren ihn an, er sagt leiser: „Lecker Waffeln.“

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Der Glaube

Wenn ich‘s doch sage. Fang du nicht auch noch an. Das geht so schnell heutzutage. Dass du in der Ecke stehst. Mit Twitter und allem. Das heißt gleich: Querdenker. Dabei hab ich mit denen nichts, gar nichts mit denen am Hut. 

Ich hab auch keinen Hut, das ist die andere Sache. Aber ich hab Augen im Kopf. Und ich sag dir jetzt: Das Virus. Das ist sowas von real! Ich brauch da auch keine Experten mehr für. Bin zweimal geimpft, und warte jetzt auf die dritte. 

Und deshalb glaub mir mal, dass ich viel bin. Aber keiner von den Spinnern. Weil, das denken die jetzt bei der Stadt. Weil, ist auch bequemer. Ist klar. Weil, wenn die mir glauben würden? Die müssten das ganze Ufer zusperren. 

Das mach jetzt ich. Also, wenn ich Zeit hab. Das geht jetzt aber nicht so schnell. Ist erst mal anderes zu tun. Wir müssen die Leute alarmieren, verstehst du? In der Wupper schwimmt ein Krokodil. 

Was weiß denn ich, wo das herkommt! Gibt doch Verrückte genug. Ich sag ja, das ist aus dem Zoo entwischt. Irgendwann bei dem Hochwasser vielleicht. Und jetzt wills keiner gewesen sein. Aber vielleicht ist es auch privat. 

Also, dass das von privat kommt. Weil es jemand gehalten hat. In der Badewanne, keine Ahnung. Und dann entkommt so ein Tier. Und dann sagst du ja auch nicht, verzeihung, haben sie mein Krokodil gesehen?

Aber ich hab‘s gesehen, na hör mal. Bin ich blind, oder was! Acht Tage ist das jetzt her. Seit acht Tagen dreht das Viech hier frei. Oder länger. Ich hab‘s untersucht. Siehst du das Häufchen? Da vorne?

Das ist kein gewöhnliches, glaub mir. Hund oder Katze sieht anders aus. Und daran kannst du‘s natürlich bemessen. Ich sag dir lieber nicht genau, wie. Hat was mit der Konsistenz zu tun. Bei Kuhfladen weißte ja auch: Sind sie ganz trocken, ist die Herde schon etwas länger vorbei. Und dieser staubtrockene Klumpen? Das ist Krokokot. 

Jetzt schau nicht so. Der ist nicht gefährlich. Gefährlich ist nur das Tier selbst! Da brauchst du Glück, das hab ich dem Wanni auch gesagt. Ich sag: Wanni, was hatten wir ein Schwein! Aber der Wanni wieder, weißte? Wir waren doch besoffen, und so. Ich sag, klar, sag ich, nicht mehr ganz nüchtern, und dunkel war es auch! Ist halt so, in der Nacht. Das heißt aber ja nicht, dass da kein Krokodil war! Ich glaub, der Wanni hat immer noch Angst. 

Wir nämlich: Da hinten, da hinten am Ufer gesessen. Und gib ihm, natürlich, aber moderat. Und dann hören wir so Fische. Das ist ja schon selten, dass man hier Fische hört. Eigentlich gibt‘s das gar nicht, aber so kleine Fische, so bisschen plitsch, plitsch, plitsch, platsch. Und dann auf einmal, flapp! Ein richtiger Schlag. Sind wir ganz nass geworden von. Dabei saßen wir gar nicht so nah. 

Da muss was richtig großes einmal raus sein und dann wieder rein. In die Wupper. Ich sag: Wanni, pass auf! Und dann seh ich die Zähne, ich seh den Schwanz und diese schuppige Haut. Und kleine Augen, so an den Seiten. Die blitzen! Ich bild mir das ja nicht ein. 

Acht Tage, wie gesagt. Und ich jetzt der einzige, der aufpasst. Ich hab den Fluss im Auge, aber das Vieh ist nicht noch einmal hochgeschwommen. Das ist natürlich clever. Das weiß jetzt Bescheid. Das sind ja Jäger, da, wo die herkommen. Im Nil und so. 

Aber ich bin auch clever. Ich halt die Leute vom Ufer fern. Ja, wer denn sonst? Nur bei den Kindern ist es schwierig. Da mach ich dann oft einen auf, du weißt schon. Bisschen Stulle, bisschen ballaballa. Und renn so auf die zu. Dann sind die Eltern gleich da, kannste mal sehen, zack zack. Da muss man sich nämlich eigentlich gar keine Sorgen machen. 

Und wegen dem Kroko auch nicht. Ich hab da nämlich einen Plan. Weil, wenn sonst keiner was tut? Dann muss ich Fakten schaffen. Ich sag dir, was ich mache, siehst du die Brücke, da? Da häng ich ein Hühnchen runter. Einfach so, an der Schnur. Keinen Broiler, noch roh. So eins aus dem Supermarkt. Weil, wenn das Krokodil Fisch mag? Dann kann das dem Hühnchen nicht widerstehen. 

Und dann schnappt es zu. 

Und dann sehen das alle. 

Und wenn nicht, muss ich es nachts wieder abhängen, klar.

Aber ich weiß schon, was du jetzt denkst. Nämlich, das ist ja ein schlauer Plan. Und jetzt will der Typ sicher gleich Geld von mir, für das Hühnchen. Aber nee, nee, nee, glaub mir mal. Das Geld für das Hühnchen hab ich schon. Hab ich schon längst. 

Ich brauch Geld für Kippen. Haste was?

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