Der Regen

Ich bin vor drei Jahren hierher gekommen. Ich bin zuerst nach Mannheim gekommen. Ich bin nach Deutschland gekommen, weil ich nach Österreich wollte. Ich wollte nach Österreich, weil ich gehört habe, dass es sehr schön dort ist. Ich bin aber nach Deutschland gegangen, weil ein Freund hier lebt. Mein Freund hat gesagt, in Deutschland ist alles umsonst und du musst die Sprache nicht lernen. Mein Freund hat mich ein bisschen verarscht. 

Danke schön. Ich habe Deutsch gelernt in einem Kurs. Und mit Fernsehen. Ich habe nicht immer Menschen gefunden zum Reden. Die Menschen im Fernsehen reden immer. Aber ich habe gemerkt: Die Menschen im Fernsehen reden manchmal nicht korrekt. 

Wuppertal finde ich eine sehr schöne Stadt. Viele Leute sagen, Wuppertal ist nicht schön. Aber ich finde: sehr schön. Mein Freund wohnt in Wuppertal. Mein Freund hat gesagt, in Wuppertal gibt es die meisten Religionen. Die meisten Religionen in einer Stadt. Da hat mich mein Freund nicht verarscht. 

Religion ist für mich sehr wichtig. Ich musste meine Heimat verlassen wegen Religion. Meine Heimat ist Iran. Ich vermisse meine Heimat. Ich vermisse meine Eltern. Meine Eltern sind noch dort. Sie haben zu mir gesagt, dass ich gehen soll. Ich soll ein gutes Leben haben. Das haben sie zu mir und meiner Schwester gesagt. Meine Schwester ist auch noch dort. 

Ich bin Christ. Die Leute in Wuppertal sagen, hier bist du sicher. Sie sagen, wir sind auch Christen. Die Leute sagen, sie mögen mich, weil ich Christ bin. Ich mag das nicht. Die Leute sollen mich mögen, weil ich auch ein Mensch bin. Meine Religion ist nur wichtig für mich. 

Ich habe eine kleine Wohnung. Es ist sehr schwierig, in Deutschland eine Wohnung zu finden. In Iran haben wir ein Haus. Aber ich bin sehr glücklich. Ich habe einen Schrank. Ich habe den Schrank gebaut. Nein, repariert. Der Schrank ist kaputt gewesen. Ich kann gut reparieren. Ich habe meinen Nachbarn gefragt, ob ich ihm auch einen Schrank reparieren soll. Jetzt suchen wir einen kaputten Schrank für ihn.

Ich suche eine Arbeit. Ich suche Freunde. Ich suche eine Freundin. Ich weiß nicht, wie die Leute in Deutschland etwas finden. Mein Deutsch ist nicht schlecht. Aber mein Deutsch ist auch nicht so gut. Ich muss noch besser sprechen. Ich hoffe, dass ich dann etwas finde in Wuppertal. 

Ich bin nicht viel hinausgegangen. Es war immer Corona und ich bin sehr vorsichtig. Aber ich gehe hinaus, wenn es regnet. In Wuppertal regnet es sehr viel. Die Leute in Wuppertal mögen den Regen nicht. Sie schimpfen und gehen in ein Haus. Aber ich mag den Regen. Regen ist für mich Deutschland. Regen ist für mich keine Angst. Ich mag das Gefühl auf meinem Gesicht. Ich gehe hinaus, wenn es regnet. 

Und ich habe gelernt, es gibt kein schlechtes Wetter. Es gibt nur schlechte Kleidung. Ich habe jetzt einen Anorak. 

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Der Akki

Fränk! Komm rüber! Ja, hast du frei oder was? Warst du beim Friseur? Ach komm. Trinken warst du! Bei Mazzino! Erzähl mir nix. Ich seh es dir doch an.
Es wird ernst, Fränk. Wir müssen zusammenhalten. Wegen Akki. Ja, was glaubst du, wo der ist? Zuhause ist der. Ich ärger den ja immer. Ich sag, wo soll der sonst sein, sag ich: Der kommt ja auch nicht hoch von der Couch.
Aber der Akki, mein Lieber, das ist ein Problem. Weil jetzt! Jetzt tut der sich gerade eine Schweinshaxe reinstellen. Fränk, mein Lieber, du kennst es doch auch. Eine Schweinshaxe oder was weiß ich, und dazu zwei Liter Weizen. Und dann raucht der sich einen.
Und das ist mein Punkt, Fränk. Ich lieg dem ja in den Ohren. Seit Jah-ren. Da muss was passieren. Aber mir erzählt der, dass er ins Fitness geht. Ich sag: wie denn! Ich sag: so? Ich würd dem da schön mal, weißte: Auflauern. Denn eins ist doch klar. Der geht auf der Rückseite direkt wieder raus!
Aber Akki sagt: Nee, nee. Der sagt, das schlägt nur nicht an bei dem. Wegen Stoffwechsel, sagt der Akki. Stoffwechsel, Fränk! Dabei muss der nur fuffzehn Liegestütze pro Tag machen, fuffzehn Liegestütze, das reicht.
Aber wenn ich bei dem bin? Dann seh ich den wieder Cola trinken. Klar kannste Cola trinken, Fränk! Aber erst, wenn du 25 Kilo runter hast. Das ist die Sache vom Kopf. Da ist der nicht stark, der Akki.
Weißte, Fränk? Ich bin jetzt auch 45. Da setzt das an, die Scheiße. Ich merk das ja bei mir. Und ich so zum Akki: Du musst wenigstens joggen gehen. Ich jogge ja acht Kilometer pro Tag. Ich zum Akki: Lauf mal mit! Dann kannste auch deine Pizzas essen! Ich ärger den ja immer. Ich ärger den gern.
Aber der Akki dann: Auf der Arbeit lauf ich ja genug. Auf der Arbeit, Fränk! Da hat der Körper doch nix von. Wegen dem Melatonin. Das glaubt mir keiner, aber das ist so: Du musst das wollen, du musst dem Körper das zeigen. Und wenn du im Stress bist, dann kommt das Melatonin und dann kannst du‘s nicht zeigen. Dann bleiben die Kilos drauf.
Ich weiß das. Ich hab ja Fußball gespielt. Über Jahre, Fränk, über Jahre. Ich also zum Akki, ich sag: Lass uns wenigstens schwimmen gehen. Im Wasser, viele Bewegungen. Ich zieh den ja immer auf. Ich sag, sonst kannste nächstes Jahr die T-Shirts XXXXL holen, sag ich: Kannste nach Holland fahren für. Oder nach Washington. Die Amis haben das auch.
Der Akki, ey. Ich mein, der könnte ja auch Paprika futtern. Mais, Paprika, aber nein. Der liegt auf dem Arsch, und unsereins muss Geld produzieren. Oder nicht, Fränk?Geht ja alles auf die Knete. Hilft ja nichts.
Ich bin da an so einer Immobilie dran. Das könnte jetzt ganz schnell gehen. Unten ist so eine alte Kneipe drin. Oben mach ich Büroräume draus. Würd‘ mich insgesamt so 130.000 kosten. Und nach einem Jahr für 280 weiterverkaufen, Fränk. Ich hab einen Kollegen, der ist Makler. Der sagt: Mach 390, oben schön Penthouse, komplett offen, ganz viel Glas. Brauchst du noch ein paar Jahre, aber dafür: die Kohle! Sagt der: Geduld. Sag ich: Nein, Fränk. Ich muss jetzt was machen. Den Kaufvertrag hab ich schon, ich warte nur noch auf die Bank.
Und da hab ich dem Akki auch wieder gesagt. Ich sag: Junge, geh mal zur Bank, hol mal Kredit! Mach dir einen Kiosk, das funktioniert. Ich geb dir 40 dazu, sag ich, 40 000. Ich ärger den ja immer. Aber der macht ja nicht, der Akki. Der macht ja nicht. 

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Zwischenruf: Schnipsel III

Als Regionenschreiber ist man ja oft auf der Jagd. Nach DEM Satz, der wirklich etwas von der Umgebung erzählt, DEM Moment, in dem Menschen etwas offenbaren. Die Jagd macht müde. Deshalb setzt man sich. Und wenn man dann sitzt, ereignen sich Satz oder Moment manchmal völlig unvermittelt. Viel öfter noch ereignet sich gar nichts. Und am häufigsten ein Weder-Noch, das erstaunlich dringend aufgeschrieben sein will. Verstreute Notizen.
(Anm.: Auch eine liebgewonnene Gewohnheit vom letzten Mal; Schnipsel I & Schnipsel II)

Wuppertal, Südstraße, Ecke Gesundheitstraße. Die ältere Dame, die mürrisch die Anhöhe erklimmt und dabei ihren Rollator wie einen lästigen Einkaufswagen vor sich her schubst. Sie schimpft beständig gegen die Mittagshitze an, scheucht zwei Schulkinder aus dem Weg und hält inne, als sie den Scheitelpunkt der Straße erreicht hat. Sie dreht sich um, niemand ist hinter ihr, sie sagt: „Dann muss man sich halt etwas einfallen lassen, damit die Kunden nicht alles ausprobieren.“

Wuppertal, Bahnhofsstraße. Der Mann im Anzug, der verschwitzt das Geschäft betritt, sich umblickt wie ein gehetztes Reh, der den Ladenbesitzer anspricht: Er müsse jetzt scannen. Scannen? Ja. Er müsse jetzt scannen, sein Zug habe nämlich Verspätung. (Die nur ihm selbst zugängliche Logik, die dafür absolut zwingend scheint)

Wuppertal, Willy-Brandt-Platz. Das kleine Mädchen, das seinem Vater glücklich seine Saurier-Tätowierungen zeigt – Rubbel-Tattoos aus dem Zeitschriftenladen, die sie auf jede verfügbare Fläche geklebt hat. Der Papa muss gucken: Ein grüner Dino auf dem Handrücken, ein gelber Dino auf der Schulter, ein Flugdino auf dem anderen Arm, ein T-Rex auf dem Schienbein. Tochter, glücklich: Das mach ich auch, wenn ich groß bin! Vater, erschrocken: Tattoos? Tochter: DINOSAURIER!

Wuppertal, Schloßbleiche. Der Mann, der seinen Spazierstock ans Geländer lehnt. Mühsam den obersten Hemdknopf schließt. Der den Hut richtet, die Ärmel, der mit geschwollenen Fingern seinen Kragen überprüft. Er greift wieder zum Spazierstock, atmet ein, räuspert sich. Und marschiert gemessenen Schrittes flußaufwärts. 

Wuppertal, Nützenberger Straße. Wie man manchmal Widerstand leistet, indem man alte Befehle befolgt. Oder besser: Wie sich der Golden Retriever weigert, das Geschäft zu betreten, indem er Männchen macht. Das Geschäft ist ein Laden für Klaviere und vielleicht hat er dort drin schlechte Erfahrungen gemacht, vielleicht schreckt ihn der Geruch von blankpoliertem Holz oder falschen Noten. Vielleicht ist es auch einfach nur eine Laune, aber anders als sein Herrchen will er die Schwelle partout nicht überschreiten, macht jetzt sogar Sitz und gleich darauf Platz und hechelt ausnehmend folgsam. Es nützt ihm nur alles nichts, weil die Leine an ihm zerrt, die Leine, dieses arglistige Ding, die wird er sich, wenn dieser Tage einmal niemand hinsieht, vornehmen müssen. 

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Bergisch Babel III

Wuppertales (Warmlauschen)

(Anm.: So hat das beim letzten Mal auch schon angefangen, Bergisch Babel I & Bergisch Babel II)

 

„Ja kommste? Ja wat haste denn? Ja kommste jetzt mal? Ja willste nich? Ja wohin willste denn? Wohin willste? Haste wat gefunden? Ja wat haste denn gefunden? Ja zeigst du’s mir? Ja zeigst du’s mir gleich? Ja aber da ist doch nix? Da ist doch gar nix? Da ist doch nix, jetzt komm aber mal! Komm jetzt her, Frauchen wird kalt!“

 

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„Und dann gibt es ja auch diese schönen Masken.“
„Ach.“
„Die in Wuppertal hergestellt werden.“
„Aha?“
„Die hab ich letztens gekauft. In blau. Und in türkis.“
„Sehr schön.“
„Die sind halt ein bisschen gröber.“
„Ja?“
„Ja. Aber das gehört sich auch so.“

 

//

 

„Die Mama muss weg.“
„Aber warum denn?“
„Die Mama muss weg!“
„Schau doch mal, hier ist gibt es doch Eis.“
„Will kein Eis!“
„Und Döner.“
„Was ist Döner?“
„Sowas wie der Mann da hat.“
„Will kein Döner!“
„Bist du gar nicht hungrig?“
„Nein!“
„Wollen wir dann vielleicht nachhause gehen?“
„Nein!“
„Was dann?“
„Die Mama muss weg!“
„Wohin soll die Mama denn gehen?“
„…“
„Schau, jetzt geht die Mama weg, ist das richtig so? So?“
„…“
„Soll die Mama vielleicht gar nicht weggehen?“
„Doch!“
„Aber warum?“
„Das haben die im Film gesagt!“

 

//

 

„Haben Sie auch Waschmittel?“
„Aber sicher, der Herr.“
„Auch das richtige?“
„Kommt ganz drauf an, was Sie meinen.“
„Das weiße mein ich.“
„Hier sind alle Sorten, die wir …“
„Nein, nein, nein, das weiße mein ich doch! Nicht das bunte Zeug hier.“

 

//

 

„Du, ich bins. Ich steh an der Bahn und wollt mich kurz melden. Wir sind jetzt durch. Volles Rohr. Einmal die ganze Nummer. Voll schade, dass du nicht dabei sein konntest. War nämlich wieder sehr schön gewesen. Wirklich sehr schön. Echt au-ßer-ge-wöhn-lich. Hätt ich vorher nicht gedacht. Diesmal kam aber auch alles zusammen. Das kann man ja nicht planen. Also, insgesamt eben voll toll. Ich freu mich mega. Und jetzt geht’s nachhause. Der Zug kommt auch gleich. Hoffentlich bist du bald wieder dabei.“

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Die Wurst

Ich seh hier noch ganz andere Dinge, dat kannste mal glauben. Aber da halt ich ja nicht drauf. Weil, dat is nicht meine Arbeit. Wat is meine Arbeit? Den Laden am Laufen halten, so einfach. Wenn ich eins, zwei fuffzig sind dat, eins gelernt hab, Servietten da vorne, also wenn ich eins, aber gerne, dann is dat: Von selber läuft der nicht.

Ach, ich mach dat schon ne Weile. Lass es mal fünf Jahre sein. Aber verändert? Wat glaubste. Da ist dat nicht die Brangsche für. Corona, na klar! Da hatt ich auch zu gehabt. Aber ist ja vorbei. Kannste mal gucken. Wie die sich benehmen. Na, alle: Kein Mundschutz, kein Abstand, nix! Wie sagt man? Der Mensch ist vom Menschen der Wolf.

Stammgäste? Klar, gibbet. Aber warum kommen die? Weil du hier deine Ruhe hast. Is dat mitten in der Stadt? Na sicher. Is dat New York hier? Nee. Aber trotzdem wat los. Glaub mir mal. Und deshalb machen wir drinnen entspannt. Heiß und fettig, aber lässig. Sag ich jetzt so.

Mich kannste zitieren. Zwei siebzig sind dat! Aber lass mir die Leute in Ruh. Ich habe zu danken! Weil, die kommen ja, damit denen hier keiner. Ich sag mal: auf den Keks. Ob die mal wat erzählen? Sicher doch. Wenn du weg bist. Da bin ich auch mal Therapeut. Psychologe. Ich steh hier zwar am Grill. Aber oft näher dran als die Ehefrau.

Obwohl die eh nicht mehr dran ist. Dat is ja dat Problem. Bei den meisten. Wenn du verstehst. Tuste aber nicht. Biste noch zu jung für. Willste eine? Wieso? Und die? Jetzt sag nicht, du bist Vegetarier.

Jedenfalls. Wenn du wat wissen willst? Dat geht nicht so aus dem Stehgreif. Musst dich schon mit mir hinstellen, nen Tag oder zwei. Dann kannste dein Buch schreiben. Allein schon, wat hier alles ankommt! Lokalpolitik. Promis auch. Der Bürgermeister war da. Und die jungen Leute. Außer die Moslems. Obwohl, die auch. Aber nur nachts. War neulich einer da. Sagt der: Ich darfs niemand erzählen! Und so mit der Faust. Und ich: Junge, wem soll ich dat denn? Den Krakauern hier oder wat?

Geöffnet täglich von elf bis um zehn. Zwei Lange mit Senf, kommt sofort. Sonntags bis fünf. Und glaub mal, dat hier in der Früh schon Leute stehen. Der eine will Bierchen zischen. Der andere schon mal Pommes Schranke. Dauert aber ein Momentchen, bis dat Friteuse läuft. Hatte auch mal einen da, dem war es zu langsam. Der wollte Currywurst. Und ich: Ketchup geholt, aus dem Lager. Wenn ich wiederkomm, zählt der mir Scheine aufn Tisch. Zack, zack, zack. Wieviel willste. Ich kauf den Laden. Ich räum den auf. Sag ich, kannste knicken, ich sag: Zahl deine Wurst und dann Abmarsch. Weil, dat geht ja nicht. Weil, bin ja auch nur zur Miete.

Wat, Frauen? Dat nun nich. Oder wenig. Hin und wieder mal. Senf steht da vorne! Wurst ist Männersache. Aber du. Da kannste mit dem Kollegen sprechen, der hat die Bude beim Dings. Beim Industriegebiet. Und da ist auch. Ich sag mal: Gewerbe. Aber musste wissen. Der verkauft keine müde Thüringer, weil sowat können die Damen nicht mehr sehen. Der macht seinen Umsatz mit Schnappes. Sagt er.

Dat ist dat wahre Leben. Da weißte aber nix von. Vielleicht haste Glück. Dann kommt Omma nachher noch vorbei. Nicht meine Omma. Die heißt nur so. Die hat wat zu erzählen. Jeden Tag um eins dreißig steht die da. Bockwurst mit Brot.

Bis die irgendwann mal nicht mehr da war. Da hab ich gedacht: Jetzt ist sie hinüber. Und dann seh ich die ne Woche später da vorn den Gehweg runterwackeln. Ich sag, Omma, sag ich, Omma, wat is? Keine Bockwurst heute? Sagt die: Nee, dat schmeckt mir nicht mehr. Aber auf so ne Art. So ne Art, dat ich schon gemerkt hab.

Jetzt kriegt sie die Bockwurst umsonst. Und steht wieder da. Eins dreißig. Jeden Tag.

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Der Wald

Mir ging’s tatsächlich nur darum, dass die Kinder mit in den Wald können. Auch zur Corona-Zeit. Einmal die Woche. Wir machen hier 120 Waldführungen im Jahr. Und bis zum Sommer sind die natürlich erstmal alle abgesagt. Ich hab ja selbst drei Kinder zuhause und erleb´, wie die sich mühen, diese Zeit zu überstehen. Und da hab ich gedacht: Wie krieg ich vielleicht stattdessen den Wald zu denen?
So kam die Idee. Ich hab jetzt nicht das tollste Handy. Aber eins, was Filme macht. Und ich hab nen Schwager in Hamburg, der ist professioneller Filmemacher. Der dreht – wat weiß ich, wat der dreht: Werbefilme auf der AIDA, Bandvideos, der kann alles. Ich sag: Torben, pass auf, was kost’ das? Wenn ich dir die Aufnahmen schicke und du schneidest die und du sagst mir, dass ich ein schlechter Filmemacher bin, und dann sagst du mir, wie es richtig geht. Nenn mir den Preis! Aber bitte, mach keinen Schwager-Kurs.
Sagt er: Pass auf, mach erstmal ein paar Aufnahmen. Und dann schick mir das. Und dann kam direkt: So geht das nicht.
Du musst mit ´nem Konzept anfangen.
Du musst ´nen Spannungsbogen aufbauen.
Das entscheidende ist der Vorspann. Und der Abspann.
Und denk dran, dass du nicht bei jeder Szene ´nen anderen Pullover anhast! Da werden die Leute ja irre, visuell. Boah.
Und dann musste ich das lernen. So kam das.

Hannes, hampel nicht.

Im Moment brauch ich drei Vormittage, um so einen Film zu machen. Technisch geht’s jetzt schon besser. Am Anfang bin ich einfach mit dem Handy in den Wald. Da hab ich mein Sätzchen gesprochen. Und gedacht: Uh, tolle Szene. Dann bin ich zurück: Ja, warum hat der jetzt nichts aufgenommen? Bis ich mal gelernt hab, diese Einstellung zu aktivieren, dass keiner von außen ans Handy rankommt. Denn wenn einer anruft, dann bricht das ab. Das hat erstmal fünf Filme gedauert.
Und das war auch Frust! Jetzt war das so gut! Und dann musst du das nochmal erzählen! Bin ja auch kein gelernter Schauspieler. Manchmal hab ich auf die falsche Stelle in der Kamera geguckt. Manchmal darf man auch gar nicht reingucken. Bewegen muss man sich. Aber nicht zuviel bewegen! Das sind so Tipps, die man vom Profi kriegt. Was leichter gewesen wär, wär der Profi mit mir vor Ort gewesen. Dann hätte er einmal draufgeguckt und gesagt: Hannes, hampel nicht.
Immerhin, Themen hab ich genug. Denn draußen ist ja immer was los. Das Problem ist eher: Man kann ja nicht 15 Minuten da reinstellen. Da hören die Leute nicht mehr zu. Maximal 6! Als muss man sich beschränken. Wobei mich der Torben beschränkt hat. Der hat gesagt: Ich schneid´ sowieso alles weg. Also beschränk dich schon mal selber.

Checker Tobi, Checker Can, Checker Weißichnich

Jetzt ruft grad hier ´ne Kräuterpädagogin an. Die will wissen, wann wir weiterdrehen. Das muss dann nämlich alles bis Sonntag fertig sein. Damit der Torben das schneiden kann. „Stressfaktor“ ist noch ein bisschen übertrieben. Aber jetzt warten die Leute drauf. Die sagen: Dienstag, wir freuen uns schon wieder. Wenn der Film dann erst Mittwoch kommt? Da ist man plötzlich schon unter Zugzwang.
Und ich sag mal, ich weiß durch den ganzen Kram meine Rundfunkgebühren jetzt noch mehr zu schätzen. Denn klar, auf dem Level, auf dem wir das jetzt machen, geht das schon so irgendwie. Aber für den nächsten Schritt? Da bräuchte man Kamerateam und Skript und Mikro und haste nich gesehen. WEIL: Um so ´nen richtig coolen Film zu machen, wie Checker Tobi oder Checker Can oder Checker Weißichnich. Das kostet! Das ist nicht: Laberlaber, fertig. Das ist ein Aufwand. Hab ich jetzt kapiert. Klar, der Förster Hannes kann so ein bisschen dummes Zeug erzählen. Aber das ersetzt niemals eine gute Produktion.
Außerdem muss ich letztlich mit dem arbeiten, was ich so finde, ne? Und ich guck dann immer. Neulich zum Beispiel, was haben wir gehabt? Da war ein Baum, der musste weg, da waren aber Spechtlöcher drin. Hab ich gesagt: Schade, den möchtest du nicht fällen, ne? Pass mal auf, da schicken wir ´nen Kletterer rein. Der sägt den runter, bis da, wo die Spechthöhlen sind. Und da kann man auch ´nen schönen Film draus machen. Hab ich gesagt. Naturschutz und Wald.

Darfste nicht, darfste nicht

Bisschen Angst hatte ich nur vor dem Lehrvideo über Jagd. Denn klar. Da gibt’s auf der einen Seite die Jägerschaft. Auf der anderen Seite die kompletten Jagdgegner. Da sitzt man schnell mal dazwischen. Und dann die Frage: Wie kannste das in 6 Minuten überhaupt hinkriegen? Du kannst ja ÜBERHAUPT kein Thema in 6 Minuten so erklären, dass nicht wenigstens einer sagt: Da haste aber wat vergessen. Und ich wusst´ überhaupt nicht, ob ich das kindgerecht vermittelt kriege.
Aber ich glaube, es ist dann doch ganz witzig geworden. Und so, dass man zumindest eine Idee davon kriegt: Aha, so ist die Jagd, darum gibt’s die Jagd. Und dann kann man ja diskutieren.
Zumindest hab ich bislang noch keinen völligen Abriss gekriegt. Auch sonst noch nicht. Das würd´ mich natürlich schon erwischen. Ich bin ja nicht so abgebrüht. Wobei alle sagen: Darfste nicht persönlich sehen, darfste nicht, darfste nicht. Gibt immer auch Idioten, die einfach nur Idioten sind.
Im Gegenteil. Die Rückmeldungen sind meistens positiv. Und du kannst ja auch mal ´ne Frage beantworten. Aber wichtig auch, dass das nur der Blick eines Försters auf eine Sache ist, möglichst nicht zu wertend, für Kinder gedacht. Das ist der Anspruch. Dem möcht ich gerecht werden.

Piuuuh! Ein Buntspecht

Kinder sind immer Kinder. Egal, aus welchem Elternhaus die kommen. Ob die arm sind oder reich oder Migrationshintergrund haben oder ob deren Uropa schon hier war – im Wald, da sind die alle gleich. Und machen sich alle gleich gern dreckig. Wenn sie dürfen.
Und sind gleich interessiert an der Natur. Ganz oft ist es tatsächlich sogar so, dass die Kinder, die in der Schule vielleicht gar nicht so klarkommen, in den MINT-Fächern, dass die aufblühen im Wald.
Beispiel. Ich hatte ein ganz auffälliges Kind, ADHS vielleicht, man weiß es nicht. Der wurde im Wald richtig ruhig. Der wuselte zwar immer noch vor sich hin. Aber dann kam er wieder und hatte sich so einen Ring gebaut, aus ´nem Herbstblatt. Und sagt direkt, warte, ich mach noch was. Die Lehrerin wollt´ den schon einfangen, ich sag: alles gut, alles gut. Und der kam mit der nächsten tollen Idee. Waren die anderen Kinder so: DAT WILL ICH AUCH! Sagt der: Musst du so, dann musst du so – und hat denen das erklärt. Und wir stehen am Rand und sagen: Boah. Was ist mit dem Kind los, ne?
Wo wir dann feststellen: Der Lernort Draußen, das Lernen mit allen Sinnen, das fördert Kinder, die mit der Schulsituation nicht so gut klarkommen. Oh, da! Piuuuh! Ein Buntspecht.

Du machst dat schon

Wenn jetzt jemand aus Nicht-Heiligenhaus das schön findet. Der darf’s natürlich genauso gerne gucken! Aber es ging wirklich überhaupt nicht darum, bei YouTube jetzt eine Ego-Präsenz zu haben. Deswegen darf man auch nicht davon ausgehen, dass Förster Hannes jetzt der größte Wald-Influencer aller Zeiten wird. Wie jetzt Peter Wohlleben. Nicht, überhaupt NICHT so gedacht.
Und ist ja auch Blödsinn. Weil, ich halt da zwar mein Gesicht hin. Aber die ganzen Leute drum rum haben daran Minimum so ´nen großen Anteil. Die, die mitspielen, Rat geben, Ton machen, schneiden. Die sagen: Ich brauch noch was für Dazwischen, also geh mal dorthin und film mal das und das im Halblicht. WO? WAT? HALBLICHT? Genau. 
Oder auch die Kohle besorgen. Da wird ja kein Geld mit verdient. Null, null, null, null, null. Und ich werd auch nicht plötzlich Werbung für Rasierwasser machen. Wär auch komisch bei mir, ne? Nee, dat kostet. Und ich hab das Glück, dass der stellvertretende Vorsitzende von unserem Förderverein gesagt hat: Ich kümmer mich. Musst dir gar keinen Kopf drum machen. Geld ist da.
Ob das von Anfang an da war? Weiß ich gar nicht. Aber muss ich auch nicht. Weil der das eben gesagt hat. Und weil ich auch einen Bürgermeister und einen Dezernenten habe, die nicht meinen: Da guckste aber mal auf deine Überstunden. Oder denkste dran, Samstags nicht ohne Beschluss des Personalrats zu arbeiten. Sondern die sagen: Du machst dat schon.
Ich weiß auch nicht, ob´s so geniale Menschen gibt, die das alles alleine hinkriegen würden. Aber ich finde immer: Das Zusammenarbeiten im Team. Das ist so Gold wert. Sei es, dass man selber auf bestimmte Ideen kommt, sei es, dass der andere eine bestimmte Idee überhaupt erst HAT. Die hat er Gottseidank, wie schön ist das denn! Und da bin ich fernab davon, zu denken, ich bin jetzt der tolle Käse hier.

Corona-Milde

Ich stelle fest, dass man jetzt mehr Leute im Wald sieht. Und das erfreut mich. Ich entwickle sogar so etwas wie eine Corona-Milde. Denn eigentlich bin ich ja auch Polizist im Wald. Und wenn ich dann sehe, da haben jetzt so ein paar Kids eine coole Bike-Strecke gebaut, ne? Da müsste ich eigentlich sagen: Leute, habt ihr sie noch alle? Der erste, der mir da entgegenkam, war auch gleich mal noch mein Neffe.
Aber mal ehrlich. Ob die Kinder ein halbes Jahr mehr oder weniger in der Schule waren. Das merken die mit 90 doch nicht mehr! Die werden sich dran erinnern, wie bei ihnen mit der Krise umgegangen wurde. Hat uns der Förster aus dem Wald geschmissen? Oder haben wir die tollsten Bahnen gebaut?
Ich seh´ das an so vielen Enden. Sei es beim Einkaufen! Und wenn da einer dreimal länger braucht, weil er jetzt zum fünften Mal in seinem Portemonnaie … Ach komm. Lass sie. Jeder so, wie er et grade kann. Das würde ich allen Menschen wünschen.
Und der Förster versucht das, indem er sagt: Diese Bike-Strecke? Da muss ich ja jetzt nicht hingucken. Ich fahr da jetzt heute mal oben rum. Und die Natur wird sich auch davon erholen. Ganz bestimmt. Amen.

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