Tag der Wahl

Ort: Münster | Datum: So, 24.09.2017 | Wetter: diesig bis sonnig, 13°C

Es ist Sonntag. Um kurz vor 7:30 Uhr brennt im Foyer der Grundschule Licht. „Herzlich Willkommen“. Die Tür ist geöffnet. Hier treffen heute drei Wahlbezirke Münsters aufeinander. In meinem Wahlbezirk sind wir sechs WahlhelferInnen. Drei für die erste, drei für die zweite Schicht. Wir begrüßen uns, stellen uns kurz vor, werden auf einer Liste abgehakt. Alle da. Wir werden belehrt. Keine Parteinahme während der Ausübung des Ehrenamts. Keine Parteisymbole auf der Kleidung. Ich schaue an mir herunter: grauer Pullover, blaue Jeans. In Ordnung.

Wir bereiten das Foyer für die Wahl vor, kleben eine Karte der 334 Wahllokale Münsters an die Backsteinwand, neben die Klassenfotos der GrundschülerInnen. Stadtbezirke, Wahlbezirke, Standorte der Wahllokale. Die grauen Straßen werden von blauen Linien durchschnitten, die sie in gerade und ungerade Hausnummern, stadtein- und stadtauswärts teilen. Je näher der Blick zur Kartenmitte, zur Altstadt, wandert, desto mehr blaue Cuts, desto mehr rote Punkte. Überwiegend sind Schulen die Orte der Wahl.

Außerdem hängt aus: ein Muster des Stimmzettels „für die Wahl zum deutschen Bundestag im Wahlkreis 129 Münster am 24. September 2017“. 13 Wahlmöglichkeiten für die Erststimme. In Schwarz. 23 Wahlmöglichkeiten für die Zweitstimme. In Blau. Auf Recycling-Papier. Hinter der kleinen Holzbühne an der Wand des Foyers hängen papierne Schuhe an einer Leine, alle gleichförmig. Aber jeder anders bunt bemalt. Davor stehen heute die Wahlkabinen. Auch in ihnen aufgehängte Zettel. Sie fordern dazu auf, keine Selfies mit ausgefüllten Stimmzetteln zu machen.

Um Punkt 8:00 Uhr betreten die ersten Wahlberechtigten das Foyer. Eine junge Frau und ein älteres Paar. Auch ich gebe meine Stimmen ab und mache mich dann vorerst auf den Heimweg. Über 40% meines Wahlkreises haben in den letzten Wochen bereits per Briefwahl gewählt. Viel Andrang wird demnach nicht mehr erwartet. Als ich zu der Nachmittagsschicht zu 13 Uhr zurückkehre, drängen sich bereits über drei Zeilen auf der Strichliste – die Anzahl der abgegebenen Stimmzettel. Noch weitere fünf Stunden sind die Wahllokale geöffnet.

Die älteste Wählerin an diesem Nachmittag ist 94, sagt mir ihre Begleitung. Außerdem eine Erstwählerin, wie mir deren Begleitung ebenso stolz verkündet. Ganze Familien gehen wählen (bis zum Alter von sechs Jahren darf man mit in die Wahlkabine), dazu Kinderwagen, Laufräder und Kick-Boards. Einige Kinder ziehen ihren Anhang hinter sich her, zeigen auf Gebasteltes. „Das hab ich gemacht!“ Eine ältere Dame glaubt, in der Gummibärenmischung auf unserem Tisch zeichne sich bereits „rot-grün“ ab. Ich sitze an der Urne und zähle die Stimmabgaben. Bedanke mich für jeden eingeworfenen Wahlschein. Ein paar bedanken sich auch bei mir.

Wie das für uns ist, fragt ein älterer Herr, bei einer Wahl zu helfen, bei der man die AfD wählen könne. „Wir sind unparteiisch“, entgegne ich.

Als ich gegen 18:00 Uhr den letzten Strich auf meiner Liste mache, waren es 528 Wählende. In Anzug, Abendkleid, Fahrraddress oder Jogginghose. Eine Wahlbeteiligung von über 80%. Ein gutes Gefühl. Je mehr, desto besser, desto demokratischer, denke ich. Die Auszählung findet öffentlich statt. Die Tür zum Foyer bleibt die ganze Zeit geöffnet. Die Öffentlichkeit scheint die Ergebnisse allerdings von zuhause aus zu verfolgen. 528 Stimmzettel. Das Auseinanderfalten der Stimmzettel erinnert mich an das Auseinanderfalten von Losen auf der Kirmes.

Fast zwei Stunden sortieren und zählen wir aus. Erst die übereinstimmenden Erst- und Zweitstimmen, dann die Zweitstimmen, dann die Erststimmen. Jede Zahl wird gegengeprüft. Wird in eine Liste eingetragen. Gestapelt, in Umschläge gepackt und versiegelt. Per Telefon werden die Ergebnisse durchgegeben, bevor alle Dokumente direkt zur Stadt gebracht werden. Die leeren Urnen werden später abgeholt. Stühle und Tische werden zusammengeräumt. Als die Auszählung beendet ist, lese ich die ersten Nachrichten von Freunden. Als ich gegen 20 Uhr zuhause bin, schalte auch ich die Nachrichten ein.

Mehr von Claudia Ehlert

Fehlerjäger

„Mein Deutsch ist perfekt, außer meinen Fehler…“- Gino Chiellino

In der Aachener Buslinie 46, die zum Hauptbahnhof fährt, belausche ich das Gespräch zweier dunkelhäutiger Männer. Sie sind jung, dünn, tragen abgewetzte Jeans. Sie sprechen über einen Film in Youtube, der ihre Flucht über die Balkanroute detailgetreu beschreibt. „Früher uns Leute gut verstehen…“, sagt einer. Der andere nickt: „Ja, jetzt alle denken, wir kriminell…“

Ihre Augen glühen, ihr rudimentäres Deutsch stockt, doch die Sprache ihres Gastlandes scheint sie zusammen mit ihren ähnlichen Schicksalen jetzt zu verbinden, wo auch immer sie herstammen, und was auch immer sie früher gewesen sind.

Wie damals vor 20 Jahren in Augsburg.

„Ich fühle mich wie ein Behinderter, wie ein Sprachbehinderter“, beschwerte sich mein frustrierter Kommilitone aus Helsinki, mit dem ich Mitte der 90er Jahre an der Augsburger philosophischen Fakultät Deutsch als Fremdsprache zu studieren begann. Ich lachte über seiner Ehrlichkeit, auch weil er mir treffend aus der Seele sprach. Ich litt an den gleichen Unbeholfenheiten, den Sprachkrämpfen und Geburtswehen, sich und seine Gefühle und Gedanken nie klar, nie reif in der neuen, schweren deutschen Sprache auszudrücken zu können. Wie ein Erwachsener in Kinderschuhen, versuchte ich die Schritte von sieben Meilen und fiel immer wieder auf die Nase. Ein neugieriges Kind das alles sehen, hören, riechen und erleben will, aber noch nicht einen einzigen perfekte Schritt gemacht hat. Hundertmal fällt das Kind auf den Boden, seine Nase blutet, seine Knie schmerzen, alles schmerzt bis es endlich mal auf dem Beinen steht und läuft und spricht und lacht. Das Kind lernt aus seinen Fehler. Dank seiner Fehlerjäger, die hinter ihm rennen und eifrig, protokollarisch, mit der roten Tinte seine Makel, Mankos und Unvollkommenheit korrigieren. Das Sprachnasenbluten, an dem das Kind, ich, noch leide, sind der Beweis, dass uns die Fehlerjäger wie unser eigener Schatten, noch nicht aufgegeben haben.

 Akzente, konserviert

Meinen Akzent werde ich aber, selbst wenn ich noch so viel versuche, nicht mehr los. Den habe ich Ende der 90er, als ich in Berlin für ein frisch gebackenes Multikulti-Radioprojekt ausgewählt wurde, konserviert. Mein Akzent wurde zu meinem Markenzeichnen. Die deutschen Radiochefs machten sich damals auf die Suche nach mehr „Farbe in den Medien“. Authentizität und Akzente wurden als Chance entdeckt, die deutsche Gesellschaft wollte nach dem Vorbild von Schweden, Holland und England in uns Fremde mehr investieren und von uns und unseren Kulturen lernen. Uns, den Quotenausländerinnen, wurden die Türen in die neuen, offenen deutschen Radioprogramme für einen Augenblick weit geöffnet. Mein brüchiger Lebenslauf passte perfekt in mein neues Glück.

Die Aufträge der deutschen Rundfunkstationen in Berlin, Köln und Bremen flossen mir zu. Mit meinem konservierten Akzent erzählte ich jahrelang meine und tausend Geschichten anderer Aliens aus fernen Welten.

Ich hatte Boden unter den Füßen: Viele Ideen, Begegnungen, Formen, einige Preise, ein Gefühl der Sicherheit, wie früher zu Hause in Sarajevo vor dem Krieg.

Doch eines Tages sah ich einen Schwarzen Schwan. Das Haltbarkeitsdatum meines Glücks war abgelaufen. Die Zeit der sorgfältig erzählten Geschichten sei um, es müsse alles schneller, direkter, billiger gehen, beschließen die neuen Radiobosse. „Wie im Internet!“

Billiges Radio mit luftigen Live-Gesprächen. Möglichst akzentfrei.

Die authentischen Akzente der 90er verkrochen sich wieder unter die Erde, in die U-Bahnen, in Hinterhöfe, in die Busse auf dem Weg zu Bahnhöfen. Sie klangen wie Comedy.

Akzente wurden in den Medien zu komischen Nummern.

Ich konnte nicht lachen, als ein Türke, der in Deutschland aufwuchs, einen „Doofen aus Brasilien“ gab mit seinem unendlich gedehnten „schwaaaouuuuuu.“ Weder ihn noch einen Deutschen, der einen französischen Kochphilosophen nachmachte, konnte ich verstehen und ich fühlte mich nackt und ausgelacht.

Wieder war ich eine Behinderte, eine Sprachbehinderte. Von dem Sender, dem ich als seine Vorzeigepionierin treu wie sein Schatten blieb, bekam ich nur noch selten Aufträge. Meine deutschen Kolleginnen, die auch unter Auftragsverlusten litten, trösteten mich, es sei nicht wegen meines Akzents, sondern wegen meines Alters. Wie wunderbar! Das auch noch!

Welche Chance hat ein älter gewordener Alien im Wunderland, fragt mich jeden Morgen im Spiegel ein hübsches, ein wenig besorgtes Gesicht mit einem  konservierten Akzent aus den 90ern.  Ich ziehe die Augenbrauen hoch, öffne die neue Packung der neuen Collagen-Creme mit Bio-Stempel und fange an, eifrig wie ein Fehlerjäger,  mit beiden Zeigefingerspitzen, um meinen Augenrändern zu kreisen.

„Wer weiß, wozu das gut sein kann“, wiederhole ich  dieses Mantra meiner Mutter, mit der sie uns Kinder mitten im Krieg in die Welt entlassen hat.

„Mein Deutsch ist perfekt, außer meinen Fehler“

Vor dem Spiegel höre ich den frechen Satz meines italienischen Dozenten aus Augsburg, dem Pionier der Emigranten-Literatur, ein Begriff, den er hasst.  Als erster ausländischer Poet und Essayist erhielt er eine Professur an einer deutschen Universität, obwohl er nie gelernt hat akzentfrei zu sprechen und grammatikalisch perfekt zu schreiben.

Ich habe bei ihm studiert und von ihm gelernt: Deutsch als Herausforderung, als Liebhaber, leidenschaftlich, neugierig, offen, mit Charme, Witz und vor allem auf Augenhöhe zu erobern. Von ihm habe ich gelernt „…sich die Fremde nehmen“ – so der Titel seines Gedichtbands…

Er wirkte auf mich wie ein Steppenwolf, ungezähmt, arrogant, empfindsam. Sein Deutsch klang exotisch wie vergessene Lieder aus Kalabrien. Ich verpasste keine seiner Vorlesungen. Als ich zu studieren begann, lehrte Gino Chiellino interkulturelle Literatur an der Universität Augsburg. Er schreibt Gedichte und wissenschaftliche Bücher auf Deutsch. Seine Strategie mit der deutschen Sprache umzugehen, imponiert mir:

„
Es gibt kein größeres Glück, das kann ich sagen, nachdem ich seit 40 Jahren in der deutschen Sprache schreibe, als Glück sagen zu können, ich bin der Schriftsteller in einer Sprache, die ich mir ausgesucht habe und nicht in der Sprache in der ich hineingeboren bin. Es ist ein großes Risiko, man kann scheitern, aber man kann scheitern auch in seiner Muttersprache….“

Um Gedichte oder Literatur schreiben zu können, braucht man eine ästhetische und eine ethische Instanz. Die ästhetische Instanz kann man sich in der Sprache holen in dem man schreibt, es gibt Muster, Modele, gibt es Beispiele. Die ethische Instanz kann man nur aus der Treue zu sich selbst holen. Wenn man zu sich selbst treu ist, riskiert man das, und wenn man etwas riskiert, passt man auf, dass das, was man produziert, in sich stimmig ist. Die Inhalte bitte nicht verraten!“

Seine Einstellung zur Integration bestätigte mich im Gefühl, sich selbst treu zu bleiben:

„Nie auf das Eigene verzichten…Weil…es integriert sich nicht, wenn das Eigene unterdrückt oder aufgegeben wird, sondern wenn man das als eine Möglichkeit der Andersartigkeit auslebt.“

Exotik und Erotik  der Fremde seien die zwei Seiten der gleichen Medaille:

„Exotik hat eine Anziehungskraft, die uns vergessen lässt, was Mühe ist, diese Wiederholung, immer wieder die Wiederholung.  Der Fehler besteht darin, diese kostbare Begegnung billig auszuleben, als ein Abenteuer.“

„Sich die Fremde nehmen“- diese Metapher, ein erotisches Bild, eine Begegnung mit einer unvertrauten Sprache, habe eine erotische Komponente:

„Sie besteht darin, dass sie uns befreit, die eigene Sexualität in einer anderen Sprache auszuleben. In dem man eine zweite, dritte Sprache annimmt, ergibt sich eine Möglichkeit eigene Erotik anders zu erleben. Und wir wissen, dass Erotik in den anderen europäischen Sprachen anders kodifiziert ist. Natürlich kann man mir  als  Italiener, sobald  ich diese Worte: Exotik und Erotik ausspreche, was-weiß- der- Gott- was-alles-nicht unterstellen, aber dann wären wir in einem ganz anderem Klischeebereich…“

Mehr von Slavica Vlahovic

03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

Mehr von Melanie Huber

Vergangenheit oder Zukunft?

Ich stehe vor einer Familie, der besonderen Art. Eine Mutter, ein Vater und ein Kind. Sie tragen alle moderne Kleidung und haben dabei ideale Maße. Die drei haben sehr markante, schöne Gesichter, die Frisuren sitzen. Schaut man zu lange hin, möchte man etwas kaufen. Doch es fällt auf, keine der Schaufensterpuppen lächelt, nur ein müder Blick und dann spricht der Konsum in ernsten Worten zu uns.

«Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?»

«Ja, lassen Sie mich in Ruhe!»

Nicht nur in den Ladengeschäften wird man mit dieser Modellwelt konfrontiert, alle paar Meter finden sich auf den Gängen der heiligen Hallen des Allee Centers kleine Inseln, hier wie da, das gleiche Bild.

Diesem Bild entspringt jedoch ein Kontrast, denn wir befinden uns nicht in irgendeiner Parallelwelt, sondern im von den Remscheidern liebevoll als Rollator-City getauften Einkaufszentrum. Und während dort einerseits die Zukunft zu uns spricht, in Form der nächste Winterjacke und des trendigen Kaschmirschals aus dem indischen Himalaja, da spricht auch die Vergangenheit zu uns und schiebt vierrädrige Stützgestelle vor sich her.

Übersee dachten sich die windigen Amerikaner in den 1950er Jahren das Konzept der Mall aus: Mit dem Auto von der eigenen Haustüre bis zur Pforte des Einkaufszentrums und unter einem Dach den ganzen Konsumrausch durch die Adern jagen.

Und der Amerikaner sah, dass es gut war. Er exportierte das Modell „Mall“ in alle Ecken dieser Welt, einmal stand ich in einer in Thailand, eine klimatisierte Oase im Großstadtjungle Bangkoks. In Remscheid sprang der Funke sofort über, der Himmel ist undicht, man geht seine Runden also nun unter Dach und die stummen Vorbildsfamilien schauen einem dabei zu.

Ich treffe Maria, sie ist schon 99 Jahre alt, sie sitzt fast täglich hier und sieht für ihr Alter unheimlich vital aus, hat rosige Backen und trägt ein ordentliches Kostüm. Maria wurde im Kaiserreich geboren. Eine Frau mit grünem Haar läuft an uns vorbei, Maria geht das Herz auf. Damals, erzählt sie, wäre das nicht möglich gewesen, da war es Frauen nicht einmal erlaubt zu rauchen. Vielleicht ist das ihr Geheimnis für ein langes Leben. Viel Bewegung gehöre aber auch dazu. Dafür eignet sich das Allee-Center vortrefflich, bei Wind und Wetter, hier trifft man sich und kann beobachten. Einkaufszentren, der lang gesuchte Jungbrunnen?

Das ginge nun zu weit, aber eine Symbiose bilden sie schon, die älteren Menschen und das Einkaufszentrum. Sind wir jetzt in der Zukunft oder in der Vergangenheit?

Doch ich möchte natürlich mehr von Remscheid sehen und die Parallelwelt Einkaufszentrum schaut ja doch überall gleich aus. Also hole ich mir ein Bier im Real und folge den Infoschildern zum Ausgang.

Die Allee Straße liegt zu Füßen des Einkaufszentrums und strotzt weniger vor Leben. Über den wenigen Menschen, die sich hier tummeln, hängen Regenschirme, der Anblick ist nett. Zu beiden Flanken der Allee stehen die Bäume häufig vor verschlossener Türe. In der Spiegelung der Scheibe steht der Baum ein zweites Mal, hinter der Scheibe nichts. Ein Dönerladen dreht kein Fleisch mehr im Kreis und auch die Händchenrotation hat ein Ende gefunden. Die übrig gebliebenen Geschäfte, es ist ein trauriges Fazit, sind ebenfalls allerorts die gleichen. Darunter jene Läden, die ihr Glück nur für einen Euro in die Welt tragen, außerdem Banken, Mobilfunkexperten, Wettbüros, Friseure und nicht zu vergessen, ein wenig individueller: Eiscafés.

Bei mir hat das Konzept von Eiscafés bereits als Kind nicht so recht eingeschlagen, also lange bevor ich Kaffee zu schätzen wusste und noch gerne Eis aß. Plastikstühle, Plastiktischdecke und ein viel zu langer Löffel, der nach Metall schmeckte. Das ist meine erste Erinnerung an Eiscafé Riviera. Was ich immer gut fand, waren die italienischen Ladenbesitzer und deren überzeugende, wie übertriebene Herzlichkeit; als sei eben alles Spaghettieis. Und außerdem, was zählt schon meine Meinung? Denn spaziert man die Alleestraße zum Markt, stellt man fest, dass diese Eiscafés quasi the last man standing sind. Während überall Ladenlokale und Geschäfte jeder Art schließen, floriert das Geschäft mit der Kaltspeise und die Leute essen fleißig weiter aus der Waffel und lassen sich das Dolce Vita eintrichtern.

Das Schicksal Leerstand teilen viele Städte, der Einzelhandel unterliegt, wie viele andere Aspekte unseres Lebens, einem enormen Wandel. Den neuseeländischen Apfel kauft man beim Discounter. Die neuste Jeans bei Maria im Einkaufszentrum. Die mit dem Mobilfunktelefon gesteuerte Flug Drohne im Online-Buchhandel. Und als sei das nicht schon schlimm genug, kommt noch dieser demographische Wandel dazu: Die Gesellschaft wird älter und die Jungen ziehen weg. Die gute alte Einkaufsstraße schreit verzweifelt um Hilfe. Was kann man tun?

Das fragt sich auch StadtBauKultur NRW, ein gemeinnütziger Verein und eine Initiative des Landes in Zusammenarbeit mit Berufsverbänden. Also tauche ich ein, nehme an einer Führung der aktuellen Ausstellung in der Alleestraße teil und verliere mich schnell in wohlklingenden Sätzen. Als eine gute Stunde vorbei ist, stehe ich mit einigen Visitenkarten in der Hand und nachhallenden Abkürzungen und Fachjargon im Kopf alleine auf der Allee Straße; es ist kalt. Auf dem kleinen Prospekt, das man mir gab, steht in weißen Lettern auf blauem Grund der Slogan: Gute Geschäfte. Was kommt nach dem Einzelhandel? Die Frage bleibt unbeantwortet. Nicht, das sie einfach zu beantworten sei, geht es jedoch um einen Wandel und die dazu benötigte Flexibilität, ist die Politik vielleicht nicht der beste Ansprechpartner.

Und der Wandel ist nicht zu leugnen: Die Abwanderung, vor allem jener wichtigen 25-45 Jährigen, nahm stetig zu und hätte Remscheid bald unter die Grenze einer Großstadt mit 100.000 Einwohner zurückgeworfen. Wäre da nicht die Migration. Sie haben richtig verstanden! Einwanderung – Positiv. Man muss es heut zutage wohl so klar sagen.

Denn seit dem Jahr 2012 federn Menschen mit Migrationshintergrund, die nach Remscheid ziehen diesen Einwohnerschwund ab und führten 2014 erstmals wieder zu einem positiven Wandersaldo, also mehr Ein- als Auswanderung.

Nun ja, ich stehe also auf der Alleestraße, habe alle das im Kopf und eine Familie läuft an mir vorbei, sie sprechen türkisch, die zwei Kindern sind aufgeweckt. Auf dem Rückweg zum Auto gehe ich in Richtung des Allee Centers und komme noch einmal an den Leerständen vorbei. Auf halber Strecke fühle ich mich, als sei ich zwischen die Vergangenheit und die Zukunft geraten, die beiden ziehen an mir und die Gegenwart schaut hilflos dabei zu.

Mehr von Dimitri Manuel Wäsch

Schreiben in Bewegung

Ort: quer durch NRW | Datum: Do, 31.08. 2017– Fr, 08.09.2017 | Wetter: Herbstanfang

Sie wischen am Fenster vorbei, halten stellenweise kurz inne, warten einen Moment, bevor sie weiterziehen: Münsterland, Ostwestfalen, Hellweg, Ruhrgebiet, Bergisches Land, Rheinschiene, Region Aachen. Städte und Stadtteile, Weiß auf dunkelblauem Grund. Daneben beschriebene und beklebte Bänke. Plakatwände auf Backstein und Beton. Aufgemalte gelbe Vierecke am Boden, von denen sich Rauchfäden gen Überdachung spinnen. Am Schotterrand des Bahndamms, unweit der Schienen, blüht der Schmetterlingsflieder. Vor Bahnhofsgebäuden, Industriebrachen und Fabrikskeletten dicke lilafarbene Blütentrauben.

Erstmals seit Beginn des Projekts lasse ich den Bulli eine Woche lang zurück. Eine Woche in fremden Betten. Fremde Vorhänge. Fremder Kaffee. Eine Woche voller Fahrpläne, Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Bus, S-Bahn, Straßenbahn. Taxis und Mitfahrgelegenheiten. Eine Woche lang quer durch NRW. Das Steuer nicht mehr in der Hand. Dafür Hände, Augen und Ohren offen für das, was ich sonst umfahren habe. Das Umsteigen. Das Warten. Fester Streckenverlauf. Kilometerlange Schienennetze und S-Bahn-Linien.

Tausche Mittelstreifen auf Asphalt gegen Betonsprossen auf Schotter.

Aachens Norden: das Depot. Noch ist es den TaxifahrerInnen nicht geläufig – in seiner heutigen Funktion. Ein Ort der Begegnung, des Austausches. Steigt man ins Untergeschoss, kreuzt man noch den Weg der Schienen. Einst trafen hier Busse und Straßenbahnen ein. Instandhaltung, Reparatur, Neujustierung. Heute sind es Interessierte, Autorinnen und Autoren sowie ProjektkoordinatorInnen, die Bergfest feiern. Zwischenfazit ziehen. Stadt, Land und Text präsentieren, begutachten, justieren. Und dann wieder raus, auf die Schienen, die Straßen, die Regionen.

Köln: Hauptbahnhof. Über den Rhein und die Hohenzollernbrücke, die mit jeder Liebesbekundung schwerer wird, fährt man auf ihn zu. Den Dombau. „Wennse vorne fertig sind, fangense hinten wieder an.“ Einfahrt in den Bahnhof. Der Verkehrsknotenpunkt zurrt sich zusammen. Am hinteren Ausgang die Bahnhofsbuchhandlung Ludwig, noch immer. Eine Lesung mit Koffertreiben im Augenwinkel. Nicht nur mittwochs schweift der Blick über Anzeigentafel, Bahnschalterschlange, Fahrpläne hinter Plexiglas, während das Ohr der Spur der Bücher folgt.

Am Rande Ostwestfalens: St. Vit. Ein ganzes Dorf in Bewegung: von Bobbycar-Rennen über Bambini- und Schülerlauf bis zu 4,8- sowie 10-km. START – Kreisfeuerwehrschule, Kirche, Kindergarten, Fichtenbusch, Friedhof, Flüchtendenunterkünfte – ZIEL. Fahnen schmücken die Straßen ringsum. Wer nicht mit seinem Laufen Gutes tut, feuert die rund 1000 LäuferInnen an. Musikgruppen, Cheerleader, Wasserstationen. Oder sitzt mit Nachbarn und Freunden an der Strecke. Auf der Bierbank vor der Garage. Bei Start- und Zielgeraden gibt‘s Kuchen, Kaffee, was Warmes.

Für die Sieger ein großes Weizenbier. Von der Brauerei um die Ecke. Ich bin fast zurück.

Über Land blickt man nachts durch Panoramascheiben ins Dunkel. Der Außenraum verwehrt ein Durchdringen, der Innenraum hell erleuchtet. Dazwischen die Funklöcher. Gegen Mitternacht nur noch wenige Blicke, die man treffen könnte. Während der Fahrt also erstmals wieder der Griff zu Tinte und Papier. Schreiben in Bewegung. Kugel und Räder rollen gleichmäßig. (Ge-)Schichten überlagern sich. Orte im Wandel. Momentaufnahmen. Zwischendrin Innehalten, erleuchteter Bahnsteig, Schotter und Schienen. Irgendwo im Dunkeln der Flieder.

Mehr von Claudia Ehlert

19:03 Uhr, lit.ruhr VA29

Das Gefühl ist groß, Bewegungen bleiben eingeschränkt, verzweifelt quillt die Emphase aus den Augen der Gedrängten. Noch im Rausch der Überhitzung wird Zorn gekauft, wie viel, wie viel, jetzt sagen Sie doch mal: wie viel? Aufregung sticht in den Fingern – da! Einband gerissen, ach, ärgerlich. In solchen Momenten gehen Leben zu Grunde. Schieben, warten, halten. Sitzt da Baselitz? Wo ist Kluge? Ich hab hier ’nen Kunstdruck, schon lange, den müssen Sie mir signieren!

Base
litz

Auster
litz

Die Litze. Geht es auch um Helden, Tyrannen, Übermenschen? Um die „Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht“?* Ach nein, um Schmutzseiten, vielleicht.

Heute fühlt es sich anders an. Papier, Geduld und das Buch nah am Herzen. Kluge?
Alte Körper drücken weich, das Stehen im Pulk ist ein unabweislicher Kommentar auf die Menscheitsgeschichte.
Etwas fällt, Köpfe senken sich. Nach unten.
Von unten.
„Strategie von unten“?**

Unten ist der Boden so nah, da ist der Boden Boden aus sich heraus.

„Ich wusste immer, dass es Sie gibt“, hat er zu ihm gesagt, die Hände gedrückt, dann den Zeigefinger gehoben: jetzt Puccini, jetzt Seite 96, jetzt. Aber jetzt steht er in der Tür, will nach links, wird nach rechts geschoben, sanft. Der Blick wirkt verwaschen, in Gedanken an das gerade Gewesene. Geräuschlos setzt er sich neben den routiniert signierenden Künstler. Ein Automatismus, dem Kluge noch nicht beigekommen ist. Kurz wird hier unterschrieben, dort. Eigentlich gehört er nicht an diesen, er gehört an einen Schreibtisch, einen Arbeitstisch. Umgeben von Büchern, Zeichnungen, Notizen, Musik. „Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.“

Wir schauen uns an,
wir sind uns nicht sicher.

Momente, die vergehen. Momente, die bleiben. Ich nehme einen Namen mit. 19:07 Uhr

 


*Kluge, Alexander: Die Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht. In: Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2009. S. 23f.

**Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2008.

„Das Problem ist, daß uns eines von Fontane trennt, neben dem vielen, was uns von ihm überhaupt nicht trennt: und das ist eine Radikalisierung aller Zeitverhältnisse. Fontane hat z.B. Bombenangriffe, die manchen Berlinern ja noch wohl in den Knochen liegen, nicht gekannt. Es gibt da, wenn man es bildlich ausdrückt immer zwei Strategien. Eine Strategie von oben und eine Strategie von unten. Über die Strategie von oben hat Clausewitz einiges geschrieben. Das ist die Strategie, die das Bomberkommando hat; und das hat ja auch die Mittel dazu. Was eine Frau mit zwei Kindern unten im Keller als Gegenwehr dagegenzusetzen vermag, das wäre Strategie von unten.“

>> Link zum Zitat
>>> Ein weiterer Link zum Thema „Strategie von unten„, wahllos gewählt.


>Alexander Kluge und Georg Baselitz auf der lit.ruhr<

Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Die Veranstaltung 29 (VA29) mit dem sperrigen Titel „Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern. Alexander Kluge trifft auf Georg Baselitz“ des in erster Auflage ausgeführten internationalen Literaturfests lit.ruhr war einigermaßen gut besucht, was in Anbetracht der Tatsache, dass sich auf der Bühne im Museum Folkwang in Essen Urgesteine der jüngsten Kunst- und Kulturgeschichte befanden, für mich nicht ganz nachvollziehbar war. Einmal Alexander Kluge live erleben, das sollte man nämlich. Und Georg Baselitz ist auch ganz interessant. Ihr gemeinsames Buch heißt im Übrigen genauso wie die Veranstaltung und ist bei Suhrkamp erschienen. Und bis 7. Januar 2018 gibt die Ausstellung „Pluriversum“ Einblicke in die Arbeit von Kluge.

 

Mehr von Melanie Huber