Tod in Euskirchen

In seinem Euskirchener Atelier in der Kölner Straße – hoch, chaotisch und kalt wie eine Kfz-Werkstadt – sitzt Rüdiger, graues, dichtes Haar, Bart, prägnante Wampe, an einem langen mit Katalogen und Zeitschriften voll beladenem Tisch und denkt nach. Vor ihm ein dampfender Blumenkohl, er beißt in ein Röschen und sein Gesicht verwandelt sich in ein gefrorenes Lächeln, das am liebsten weinen will.

Rüdiger A. Westphal Foto: Anton M. Holzhammer

Vierzig seiner Freunde aus der ganzen Welt, die bei ihm in dem Ausstellungsraum hinter dem Atelier im perfekt aufgeräumten Dreieckparadies aus Glas, eine Art Bühne für zeitgenössische Kunst, in den letzten 35 Jahren ausgestellt haben, seien inzwischen „weg“, sagt er.

„Wie weg? Wohin weg?“, frage ich, sein Gast, dem er sein Leben in den nächsten drei Tagen wie auf einem Teller serviert.

„Einfach weg! Nicht mehr unter uns… Alle tot!“

Tatorte: Amok im Gerichtsaal, Schüsse in der Kirche

„Alle tot“ seien auch die Opfer im Gerichtsaal um die Ecke gewesen, als ein Bus-Fahrer sein Urteil ’schuldig’ nicht annehmen konnte und eine Bombe gezündet hatte.

„Ein Ehedrama mit fatalen Folgen…“, meint Rüdiger, und zeigt mir als Erstes den „Tatort“, ein unscheinbares Gebäude aus Ziegel mit unebenen Fugen, ein paar Meter entfernt vor seinem Atelier.

Der Attentäter habe „auf einen Schlag“ seine Partnerin, den Richter, zwei Anwälte und drei weitere Opfer mit in den Todgerissen. Das habe damals ganz Deutschland erschüttert, erzählt Rüdiger.

Und dann noch der Anschlag in der Kirche ganz nah an seinem Atelier. Am hellichten Tag habe eine „verrückte, an Wahnvorstellungen leidende Polizistin“ eine „fromme unschuldige Frau“ vor dem Altar erschossen.

Die Schüsse klängen noch immer in seinen Ohren. Die Kirche musste neu geweiht werden.

Foto: Rüdiger A. Westphal

„Oh, Gott…“, höre ich mich flüstern. Ich hoffe, aus Euskirchen heil zurück nach Hause zu kommen…

Kurdischer Hundertmeter

Ich verkrieche mich in mein Zimmer. Warum hängen in diesem Zimmer, das Rüdiger an Gäste wie mich vermietet, die Fotos seiner toten Eltern? Der Vater in Uniform, jung, dünn, selbstbewusstes Lächeln, blickt von einem großen Schwarzweißfoto neugierig auf mich und auf ein kleines verblasstes Foto mit einer pummeligen Frau in weißer Schürze hinab. Wohl Rüdigers Mutter.

Ich schreibe gegen die Angst bis ich Hunger bekomme.

 Als es dunkelt, laufe ich die Fußgängerzone entlang, höre meine Schritte. Totenstille. Ich blicke auf die Uhr: 20.55. Von Weitem ertönen Männerstimmen. Junge Männer mit dunklem Haar und engen Jeans sprechen laut, lachen, gehen an mir vorbei. Ich schiebe die Hände noch tiefer in die Tasche. Ich will zurück in mein Zimmer, vielleicht noch schnell etwas in einem Supermarkt besorgen, schaue links, rechts, keine Ahnung, wo und ob irgendwas hier in der Provinzstadt noch offen hat. Noch ein Mann springt aus dem Haus, einer um die 40, er scheint nett zu sein. Ich frage ihn, ob er wisse, ob ein Supermarkt in der Nähe noch offen habe. Er überlegt kurz, „Ja, Netto“, meint er, 100 Meter von hier, er gehe auch in die Richtung, könne ihn mir zeigen.

Wo ich her komme, will er nach drei Schritten wissen. „Köln“, sage ich.

„Und original?“

„Sarajevo!!“

„Sarajevo? Bosnien?“, fragt er. „Ja“, sage ich.

Er aus der Türkei, Kurde, zwanzig Jahre Euskirchen.

Ich nicke.

„Gute Stadt!“ sagt er. „Euskirchen, seine Heimat!“ Ihn kenne jeder hier!

„Ja, aber ich sehe keinen ‚Netto’, keinen ‚Penny’ oder ‚Rewe’“.

„Gleich da“, meint mein Begleiter.

Wir laufen jetzt über den Marktplatz. Er will mit mir in eine Gasse abbiegen. Ich bleibe stehen.

„Penny? Netto? Rewe? Wo ist hier der Supermarkt?“, frage ich.

„Hundert Meter sind schon längst um! Oder haben sie vielleicht tausend Meter gemeint?“

„Hundert Meter, ja hundert“, sagt er.

Er rechne aber „ein bisschen anders…“

     

„Sehr nett… aber sie müssen mich wirklich nicht weiter begleiten…“, versuche ich ihn höflich los zu werden.

„Kein Problem“, sagt er, er gehe auch in die Richtung, mache abends ein paar Runden, damit er besser schlafen könne. Wenn ich etwas bräuchte, könne er mir gerne helfen, sein Kühlschrank sei voll.

„Nein, ich brauche nichts, Danke…“ sage ich und bleibe vor einer türkischen Imbissbude stehen, die noch geöffnet ist.

Lahmacun tropft

Der Kurde steht neben mir. Ich bestelle ein Lahmacun und drehe ihm demonstrativ den Rücken zu. Er entfernt sich zwei Schritte und fängt an, zu telefonieren. Ich ziehe auch mein Mobilephone aus der Tasche, tippe, checke meine Klicks im Internet, lächle sie an, sie steigen.

Ich scrolle über meinen kleinen Monitor, auf Youtube spielt ein Akkordeonspieler zwischen tanzenden Menschen. Vor mir steht mein Lahmacun in Alufolie gerollt. Mein Kurde ist weg.

„Gott sei Dank!“, denke ich mir und setze mich auf den Stuhl vor dem Imbiss und kaue das zähe Stück ganz langsam. Aus der Folie tropft es. Mein Nachbar, ein deutscher Mann mit einem rundem Bauch und Glatze, vor dem ein großer Teller Kebab mit Pommes steht und direkt daneben ein Tablett mit tanzenden, bunten Streifen liegt, gibt mir wortlos seine Serviette und isst weiter, mit der Gabel in der rechten Hand bohrt er im Kebab, mit der anderen tippt er auf das Tablet.

„Suppen Kirche“

Am nächsten Morgen schaut mich im Spiegel mein von Albträumen zerknittertes Gesicht an, die Sonne scheint; Rüdiger, mein freundlicher Gastgeber, will mir noch ein paar „verborgene Schätze“ seiner Stadt zeigen. Als Erstes bringt er mich in die „Suppenkirche“ der Evangelischen Gemeinde.  Als ehrenamtlicher Mitarbeiter unterrichte er hier arabische Flüchtlinge in Deutsch. Er esse jeden Donnerstag hier in der Kirchenküche mit seinen Kollegen und den Hilfsbedürftigen der Stadt.

„Suppen Kirche“, jeden Donnerstag

Die „Suppenkirche“ sei nicht nur für arme Leute gedacht, auch die einsamen Menschen, egal ob alt, jung, arm, krank, gesund, Frau oder Mann – alle seien willkommen, sagt Corinna Raitz von Freutz, eine höfliche Frau in den 40ern, die sich als Koordinatorin von drei weiteren Kirchenprojekten vorstellt, mich zum Essen einlädt und mir erzählt, dass sie sich gerade von ihrem adligen Mann trenne.

  

Im „Raum der Stille“, ein Stockwerk höher, fängt mein Magen an, die Suppe mit Wienerwurst zu schleudern, bevor ich versuche, in eine Meditation zu versinken. Plötzlich erscheint vor meinen Augen die verrückte Polizistin, die Amok in der Kirche wegen abgesetzten Tabletten für ihre Schilddrüse lief. Ich renne auf die Straße.

Straßenkunst

 Mit dem blauen Golf von Rüdiger kurven wir um Figuren aus verwittertem Holz, die mitten im Kreisverkehr aufgestellt sind. Kunstwerke in verblassten Farben, ernste Gesichter, in Gedanken versunkene Passanten, apathische Blicke, eine Frau auf dem Fahrrad, vielleicht eine Kurierin mit schlechten Nachrichten?

   

Auf der Wiese gegenüber ein Windspiel, ein Kunststück aus tausend und einem fliegenden Auge mit dem Titel: „Augenblicke“ von einer gewissen „Frau Krieg“, die wie Rüdiger mir erklärt, ihren Namen abgegeben habe für einen „besseren“. „Frau Frieden“ heiße sie nun.

    

Diese Werke und auch ein großer runder Stein, das Kunstrück eines französischen Paares vor dem Euskirchener Gerichtssaal, dem Tatort, sei auch ein bisschen ihm zu verdanken und seinem Förderverein, der dieses Jahr 35-jähriges Jubiläum feiere, erzählt Rüdiger.

Vereinigt in den Tod

Wir fahren an der Zuckerfabrik mit dem penetranten Zuckerüben-Geruch vorbei und biegen auf eine Wiese ein. Rüdiger schaltet seinen Motor aus. Wir stehen vor einem Zaun, hinter dem sich ein kleiner, privater Friedhof versteckt, den angeblich nur Rüdiger und noch jemand anderes kenne. Ein paar Grabsteine mit verblasster jüdischen Schrift, am Boden ein paar frisch aufgestellte rote Plastikkerzenständer mit halb abgebrannten Kerzen.

„Die werden fast jeden Tag erneuert“, flüstert Rüdiger, obwohl das keine „jüdische Sitte“ sei.

Als junger Mann habe Rüdiger sich einen Juden als Freund oder Nachbar gewünscht. Er sei dabei immer traurig gewesen. Er müsse jeden Tag daran denken, was die Deutschen mit den Juden in Euskirchen gemacht haben. Ich schweige und fotografiere. Er fährt mich danach weiter durch die Siedlung. 800 Meter weiter erreichen wir den Hauptfriedhof; da müsse er mir „noch etwas sehr Spannendes unbedingt“ zeigen: Zwei Denkmäler, eines mit Wörtern in polnischer Sprache, das andere mit russischen, kyrillischen Buchstaben und einem großen roten Stern: eine Art Massengrab und Gedenkstätte für die gefallenen Soldaten und Zwangsarbeiter zwischen 1939 und 1945, erfahre ich.

  

Die Gedenkstätte habe er erst gestern entdeckt, als er seinen Schüler Mohammed dem einzigen, der zum Deutschunterricht gekommen sei, zu einem Spaziergang eingeladen habe, um die Stadt mit den „Augen eines Fremden“ neu zu entdecken.

Vor mir liegt ein weites Feld mit kleinen Kreuzen, auf dem grüne Rasen sprießen in regelmäßigen Abständen Mini-Denkmäler aus Beton. Auf jedem Kreuz stehen zwei Namen von gefallenen deutschen Soldaten aus den beiden Weltkriegen. Die Namen aller gefallenen Euskirchener Soldaten sind in die schwarzen Wänden der weißen Kapelle eingraviert.

     Alle sind hier unter der Erde vereinigt: die Täter und die Opfer. Die Deutschen, Russen, Polen und Juden. Der Tod, ihr Erlöser, Versöhner, Friedensengel, Ruhegeber.

Tod, unsere immer-wieder-wiederholte-sarkastische-Geschichte- unseres-Daseins-unserer-Vergänglichkeit- unsers Versagens-des-ewige-Suche- nach-Sinn- Frieden-Ruhe.

Vereinigt in den Tod

Rüdiger möchte nicht auf diesem Friedhof unter einem riesen Stein liegen, so wie er sich früher das einmal überlegt hatte. „Lieber unter einem Baum, namenlos“.

 Mit Mohammed bei Juden

Mit Mohammed sei er gestern zu dem „eigentlichen“, offiziellen, zentralen jüdischen Friedhof auch gegangen, der, wie alle jüdischen Friedhöfe in Deutschland, außerhalb der Stadtgrenze liege. Dorthin gehe ich auch jetzt mit Rüdiger, meinem freundlichen, vom Tod besessenen Gastgeber.

 

Ein frisches Grab mit einem Davidstern überrascht ihn. Gestern sei das Grab noch nicht da gewesen, sagt er, sein Gesicht ist blass, er schaut in die Weite, er verstehe das nicht, er werde es nie verstehen können, sagt er.

„Was haben sie damals nur gemacht? Es gibt noch so viel Platz hier…“.

Synagoge, ein leerer Platz

 Wieder in der Stadt. Ich bin inzwischen todmüde, mein Gastgeber bleibt zwischen zwei Häusern vor einer großen Lücke stehen. Ich verlangsame den Schritt:

Ob ich wisse, wo wir gerade ständen? fragt er. Ich sehe eine Tafel mit der Schrift:

 

„Auf diesem Platz stand die Synagoge unserer jüdischen Mitbürger…“.

Ich nicke, schweige, fotografiere und denke an Dragica, meine Tante aus Sarajevo, die mir die einzigen großen Puppen meines Kinderlebens geschenkt hatte.

Bevor sie meinen Onkel heiratete, hieß sie Greta Sternberg. Ihr Vater war ein reicher, jüdischer Industrieller aus Wien, der nach Sarajevo wegen seiner großen Liebe, ihrer Mutter, gekommen war.

Kurz vor der Besetzung Sarajevos durch die Nazis hat sie meinen Onkel geheiratet und den Namen gewechselt. Unter dem neuen Namen, dem Namen meiner Familie, haben sie und ihre zwei Neffen, die eine kroatische Familie in Dalmatien versteckt hatte, überlebt. Der Rest ihrer Familie ist in Jasenovac, dem kroatischen Konzentrationslager, ermordet worden.

Ihr Sohn, mein Lieblingsonkel, ist als Einziger während des Jugoslawienkrieges in Sarajevo geblieben und hat die belagerte Stadt mit seinem Sohn bis zum letzten Tag verteidigt.

Rüdiger versucht die  Schriftzeichen mit meiner Hilfe zu entziffern. Als Elfjähriger sei er nach einer Vorführung des Films „Die Befreiung von Dachau“ mit Tränen aus der Schule nach Hause gerannt und habe seine Eltern angeschrien:

„Was habt ihr im Krieg gemacht? Wo seid ihr gewesen? Warum habt ihr das ganze zugelassen? Was genau war mit den KZ?“

Sein Vater sei rot im Gesicht geworden und die Mutter ganz still:

„Wir haben es nicht gewusst!“, haben sie zu ihm gesagt.

Ihm sei ihre Antwort peinlich gewesen, sagt er, er habe sich für sie geschämt, danach habe er ihnen kein Wort mehr geglaubt.

Rumänischer Tango

 Am nächsten Tag wecken mich die Kinderstimmen aus der benachbarten Schule, in der Rüdiger als Kunstpädagoge bis zu seiner Pensionierung gearbeitet hat. Der penetrante Geruch der Zuckerrüben treibt mich aus dem Bett. In der Fußgängerzone suche ich ein nettes Café und stoße auf einen Akkordeonspieler mit einem grauen Hütchen und fröhlichen Lächeln.

Tango in Euskirchen – mit Konstantin aus Düren

Er spielt leicht, leidenschaftlich, humorvoll. Balkanblues, Balladen, Tango… Er tanzt, ich knipse. Er lächelt, ich suche nach kleinem Geld in der Tasche. Er steht auf, beugt sich vor, sagt, Musik sei sein Hobby, er spiele aus Spaß, auch ohne Geld. Er trifft jede Note, macht den Passanten Laune, sie belohnen ihn sofort. Einer in einem schmalen Anzug schmeißt einen Schein in die kleine Dose in Herzform. 20 Euro. Und verschwindet in der Masse.

Mein Akkordeonspieler zieht die Augenbrauen hoch. Sein Name sei Konstantin, sagt er und spielt weiter, jetzt seine eigene Improvisation. Er komme aus Bukarest, „sieben Jahre Deutschland“, erzählt er und spielt weiter. Er arbeite in Düren am Bahnhof, „helfe armen Leuten“. Es sei nur ein Ein-Euro-Job. Die Improvisation ist schön, leicht, rhythmisch.

Nach noch zwei weiteren improvisierten Melodien schaut der fröhliche Rumäne auf die Uhr, packt sein Akkordeon ein, klappt den Sitz mit den drei Beinen zusammen und steckt die Dose in Herzform in die Jackentasche und geht.

„Ordnungsamtsvorschriften!“, sagt er zwinkernd und verschwindet um die Ecke. Und spielt dort sofort weiter.

Video-Kunst der Inklusion

 Ich marschiere in Richtung des neuen Stadtmuseums von Euskirchen. Das hochsubventionierte Kulturhaus, in dem nur etablierte Künstler ausstellen dürfen – modern, grau, kalt – wirkt zwischen den älteren Gebäuden aus der Gründerzeit wie ein einsamer im Hinterhof versteckter Stern. Wenige Exponate der Basis-Ausstellung erzählen auf drei Etagen in weniger Strichen die lange Geschichte der Stadt Euskirchen: die große Stadt-Mauer, von der ein Teil in das Museum eingebaut ist, die Industrialisierung, Weberei und die beiden Weltkriege.

Die Stadtmauer, das Museumsexponat

Die Videoinstallationen im Museum klemmen noch wie die automatische Eingangstür, die sich nach meinem Klingeln nicht öffnen will. Heike Lützenkirchen, die neue Direktorin muss höchstpersönlich aus der 2. Etage hinabsteigen und die Metalltür eigenhändig öffnen.

Ich habe das Gefühl, in einem ungünstigen Moment gekommen zu sein. Der Videokünstler Rolf A. Kluenter steckt noch mitten in der Arbeit. Er bastelt an seiner neuen Ausstellung “Puls-Stadt-da-pocht-ein-Herz“. Die Direktorin erzählt mir leise im Stehen am offenen Fenster, dass der Künstler, „Beuys-Schüler und in der Eifel geboren“, am Euskirchener Bahnhof ein Jahr lang mit Autisten, Down-Syndrom-Kindern und anderen Bewohnern des betreuten Wohnens in Euskirchen eine „Art Inklusionsprojekt“ gemacht habe.

Flüchtlingsbaby & Mutterbrüste

Kurz vor meiner Abreise aus Euskirchen, klingele ich wieder bei Rüdiger an der Ateliertür. Ich will mehr von ihm und seinem Kunstsalon erfahren.

     

Warum wohnt er in der kalten, überdimensionierten Werkstatt mit vielen übereinander gestapelten Teppichen? In einem Atelier, wie er das nennt, das er als sein Büro, als seine Küche, sein Esszimmer, seine Bibliothek, sein Archiv und manchmal, wenn die Gäste kommen, auch als sein Schlafzimmer benutzt?

Geboren wurde Rüdiger A. Westphal  1944 in Ostpreußen. Zwischen Posen und Danzig habe er als Flüchtlingsbaby, alle „Strapazen des Krieges“, Kälte, Hunger, Bomben, Flucht überlebt.

„Halbtot!“.

Nur „dank dem Mut und Klugheit seiner Mutter“ sei er überhaupt hier. Sie habe ihn – „damals ein hungriger Wurm“ – zwischen ihren Brüsten versteckt. Eine nette niedersächsischen Familie, die seine verzweifelte Mutter in einer eisigen Nacht aufgenommen habe, habe ihn, das „blaue Stück Eis“, sofort in warmes Wasser eingetaucht und so zurück ins Leben geholt.

         

Seine Familie habe nach dem Krieg eine neue Bleibe in Wilhelmshaven zugewiesen bekommen, aber da habe er sich immer als Flüchtling gefühlt.

„Nie dazugehörig“.

Das sei heute noch so.

„Schmutzige Wäsche“

Rüdiger sei froh, wieder alleine zu leben, sagt er. Er kümmere sich ein bisschen um die Enkelin seiner Ex, einer Russin aus Petersburg, die vor 13 Jahren zu ihm mit ihrer siebenjährigen Tochter gezogen sei. Das Kind, das ohne Vater aufwuchs, sei nicht schuldig und solle nicht das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Mutter, seine Ex.

Seine russische Stieftochter habe nun auch ein Kind bekommen, das sie ohne Vater auf die Welt gebracht habe.

„Das Leben ist ein unendliches Wiederholen, eine sehr schlechte Kopie der Kopie“.


Ihn, „den Überlebenden aller Krisen“, interessiere heute nur noch die Kunst. Die Originale. Auf seinem Tisch im Atelier liegt ein dickes Din-A-4 Buch mit beigen, groben Blättern, voll gefüllt mit Danksagungen und Widmungen, Zeichnungen und Farben, eine Installation an sich. Auch an den Wänden seiner Wohnung, sogar im Badezimmer und auf der Toilette hängen die Kunstwerke seiner Künstlerfreunde aus der ganzen Welt. Die meisten von ihnen seien jetzt „unter der Erde“, wiederholt er mit gedämpfter Stimme.

Nun sei auch er müde. Als er mit seinen Künstlerfreunden aus der Eifel 1982 sein FzKKE , den „Förderkreis zeitgenössischer Kunst Kreis Euskirchen, e.V“, eröffnet habe – „eine Art Kunstsalon“, wollte er nicht nur Künstler aus der ganzen Welt zum Spielen, Experimentieren, Fantasieren verführen, sondern auch die Euskirchener und die Ämter begeistern. Leider sei sein Verein „das Stiefkind der Stadt“ geworden, habe viele Neider und wenige Unterstützer. Alle diese Jahre habe er alleine das „zarte Kind“ gefüttert und Künstler von „überall her einfliegen lassen“. Sie konnten bei ihm wohnen, essen und Kunst machen.

Gerade stellt bei ihm ein Franzose aus. Die Ausstellung heißt: „ Schmutzige Wäsche“ . Die Presse sei dieses Mal erst gar nicht gekommen und nehme das wohl nicht ernst. Darüber müsse man sich nicht wundern, sagt er resigniert. Jeder habe zu Hause genug eigene schmutzige Wäsche…

Mehr von Slavica Vlahovic

17:11 Uhr, Gasometer Oberhausen

Drei Mal rufen sie den Namen, drei Mal rufen sie „L’Osteria“, laut, schnell, überspitzt, und es klingt, wie eine Beschwörung, ein Zauberspruch, dessen gewünschte Wirkung unmittelbar nach dem Gesagten eintritt. Allein: Sie tritt nicht ein. In Oberhausen gibt es kein L’Osteria – sagt die Mutter. Google sagt etwas anderes, die Jüngste unter den vier Geschwistern wird von ihrem Smartphone kalt angestrahlt, ihr Gesicht wirkt ätherisch, aber gegen die Mutter ist kein Ankommen. Entweder man müsse nach Bochum oder Herne oder eben nach Hause. Am besten nach Hause, zu Hause gäbe es noch Eintopf. Aber erst einmal soll es da rauf.

Bis 17:45 Uhr sei das noch möglich, ist auf einem Schild zu lesen, die Warteschlange vor dem Panorama-Aufzug sieht länger aus. 15 Personen passen in den Glaslift, weil man die meisten Kinder aber anscheinend nicht als ganze Personen wertet, werden es bei jeder Fahrt mehr. Platt drücken sich die Kleinen die Nase an der Aufzugsscheibe. Unter ihnen liegt die Welt, Eiskappen schmelzen und Blitze kündigen die nächste Matrix an. Ein Erdzeitalter dauert zehn oder 15 Minuten, in jedem Fall wird der Globus, der die dritte Ebene der Ausstellungshalle dominiert, in regelmäßigen Abständen grau, dann bilden sich Raster und die Erde entsteht neu. 120 Meter ist der Gasometer hoch, der Panoramalift steigt und mit ihm das mulmig-erhabene Gefühl des gleichzeitigen Klein- und Großseins.

Dieses atmosphärische Heraustreten aus der Welt: Sie ist intendiert. Es ist der Abschluss einer Zufriedenheit, die einen befällt, sobald man den Gasometer betritt und sich einreiht in den Rundgang, der wirklich rund ist, der zentrisch durchschritten werden muss, wie ein abgehbares Mandala, im Halbdunkel Menschen, Tiere, Bäume und Organismen mit den Augen sammelt und den Sinnen. Und irgendwann auch gar nicht mehr weiß: War ich schon hier? Oder dort? Alles geht auf Eindruck, auf Welthaltigkeit und auf ein Verständnis von Schönheit, das durch Vollkommenheit besticht –  und gleichzeitig nichts in Frage stellt.

Gut, dass es dann noch ein Oben, ein Außen gibt. Auf dem Dach des Gasometers haben Tränen eine andere Bedeutung, und der Blick auf das Freizeitareal, das die Stadt „Neue Mitte“ genannt hat und das selbst an Sonn- und Feiertagen Flaniermeile für die Oberhausener*innen ist, holt einen wieder runter – in den Kommerz und den dazugehörigen Freizeitgestaltungsgedanken.

„Gibt es den Benjamin-Blümchen-Park eigentlich noch?“, fragt ein Junge. „Ich glaube, der wird gerade umgebaut“, antwortet der Vater. Sein Kopf steckt zwischen Gittern, sein Blick geht über das Centro, das Legoland, über die König-Pilsener-Arena. Im November wird es dort eine Schlagerparty geben. Beim Hinabsteigen ist es also ratsam, in Mandalas zu denken. 17:48 Uhr

 



>Gasometer Oberhausen<

Hinter Bahngleisen, die auch als Busstrecke genutzt wird: der Gasometer. ©mhu
Hinter Bahngleisen, die auch als Busstrecke genutzt wird: der Gasometer. ©mhu
Der einst größte Gasbehälter Europas mit der bis November andauernden Ausstellung „Wunder der Natur“ steht im ehemaligen Industriegebiet von Oberhausen – die „Neue Mitte„. Kommt man am Hauptbahnhof in Oberhausen an, ist der Weg dorthin ein einfacher: Alle Busse und Straßenbahnen Richtung „Neue Mitte“ halten an Bussteig 1. Wenn man den Bus nimmt, geht es über Gleise ratternd zum 2,5 Kilometer entfernten Gelände, auf dem man gefühlt wirklich alles machen kann: Flanieren, einkaufen, Tiere sehen, andere Länder bereisen, (Industrie-)Kultur erfahren, Musicals besuchen, ins Kino gehen, zu viert auf Parkbänken sitzen und über das Leben sinieren, erste Dates haben oder schon das dritte und rutschen. So viele Rutschen. Und genau so habe ich mir Oberhausen auch vorgestellt, liegt aber wahrscheinlich auch an dem gleichnamigen Song der Missfits. Und daran, dass der „Strukturwandel“ hier so konsequent umgesetzt wurde, dass man sich wirklich ein bisschen wie im Freizeitpark vorkommt.

 

Mehr von Melanie Huber

Von schönen toten Räumen (Stadt Kirche Raum)

Der Weg zu meinem Ziel fast idyllisch. Den Shoppingwahnsinn im Rücken. Links ein Park. Auf den zweiten Blick erst Menschen, denen Räume verschlossen blieben oder wurden, die mein privilegierter Alltag sind. Kontrast von ordentlichem Park und ordnungslosem Alltag drogenabhängiger Menschen. Viel öffentliche Sorge um Schein. Und was ist mit dem Sein?

In der Nachbarschaft aber auch: aufgeräumte Häuser, öffentlich und kirchlich getragen. Suchtberatung, Franziskusküche, Seniorenheim, Kita. Räume für ein besseres Sein. In einem dieser Häuser, Tiefparterre, das Büro Frau Frankenbergs. Gemeindereferentin des Pastoralverbunds Hamm, beauftragt, unter anderem, Räume zu öffnen.

Die Nachbarschaft geprägt von den genannten Einrichtungen. Von Menschen unterschiedlicher Hintergründe. Gegensätze, Widersprüche, Konflikte. Was kann da Kirche?
Kirche ’neu denken‘ ist leicht gesagt. ‚Neu denken‘ ist en vogue. ‚Neue Konzepte‘ gewinnen möglicherweise Ausschreibungen. Neue und nachhaltige Strukturen sind diffiziler. Wie der Kirchenraum der Kirche St. Agnes vor sechs Jahren neu gestaltet wurde, ist da immerhin überraschend.

Kirchenraum ohne Altar, mit mobiler Bestuhlung und mit Becken für Ganzkörpertaufe ©mj

Vor der Kirche St. Agnes ein großer Vorplatz. Geeignet zum skaten und Ball spielen. Ist verboten. Aber auch geeignet für: die Nachbarschaft. Die Gemeinschaft. Für Begegnung, außerhalb eines vorbelasteten Raums. So die Grundidee für das Projekt ‚Kirche im Quartier‘, passiert im vergangenen Juli. Grundidee: Ein Raum für die Nachbarschaft, unterschiedliche Möglichkeiten zur Begegnung.

Junge Menschen, aus Kitas, Schulen und Berufsschulen sind tatsächlich gekommen. Tatsächlich entstanden Begegnungen, die sonst wohl kaum stattfänden. Und tatsächlich: viele trauten sich doch nicht. Die drei Stufen auf den Vorplatz als unüberwindbare Hürde. Fragen und Skepsis. Wird hier missioniert?
Respekt, immerhin steht Kirche drauf.

Kein Glaube mehr an uneigennütziges Handeln, an selbstloses Handeln. Heute, 2017.

Im Gespräch mit Heike Frankenberg die Erkenntnis: kein Mangel an Räumen, immerhin in Hamm. Aber doch, das ist nicht Hamm-spezifisch, ein großer Mangel: Mut, Räume und Verantwortung über solche abzugeben, einerseits. Mut zur Übernahme von Verantwortung für einen Raum, andererseits.

Die Stadtzentren von Verbünden und Vereinen verwaist. Die nur in den Vororten. Räume der öffentlichen Begegnungen dominiert von elitären Vorahnungen. Theater und Kirche, zum Beispiel.

Immer weniger Räume in Stadtzentren, die unvorbelastet sind. Ein Mangel. Belastet mit einer Vorahnung davon, dass nichts mehr ohne Eigennutz funktioniert. Belastet mit Geschmäckle. Von Elite, von Deutungshoheit, von Hoheit der Narration. Das Angebot ‚Wir sind für alle da‘ kann zur Drohung werden. Oder zur Worthülse.

Wer sind wir? Wer sind alle? Was ist ein Raum?

Wie sind die analogen Räume gestaltet, die ernsthaft mit den digitalen konkurrieren können? Muss von der Tendenz zu schnellem Chatten, das reale Gespräch ersetzend, gelernt werden? Kann das adaptiert werden? Wer weiß, was andere Menschen brauchen? Expert*innen aller Professionen sind gefragt. Synergien. Transdisziplinarität. Architektur, Soziologie, Informatik, Pädagogik. Usw. You name it. Die große Gefahr: Entscheidungen von oben für unten. Top-Down. Hierarchien. Für, aber ohne die Zielgruppe.

Gut intendierte Räume gebe es viele. Aber es mangele an Konzepten, die Räume zu füllen. Und da das titelgebende Zitat: Es gibt viele schöne, aber eben auch tote Räume.

Gut gemeint ist noch lange nicht gut.

Mehr von Matthias Jochmann

05:36 Uhr, Nacht, die nicht zu Ende geht

Der Schlaf ist gegangen, vor Tagen schon. Er ist gegangen, und mit ihm die Kalauer, Revierwitze, Oberflächenkontakte und das konzeptionell bedingte Gefühl der Stärke. Zwischen den Lidern krabbeln enttäuschte Erwartungen. Ihre Lederhäute tragen Dornen, fortwährend gebären sie abgenutzte Metaphern, gewagte Traumräume. Ein verschämter Blick durch die Tür: Die Statik stimmt nicht, es würde schmerzen, zu sehr.

Bleiben, wo man ist?
Kastanienschutz.
Die Stadt wird gelbrotbraun – grau, saisonbedingt. Und weil es dazu gehört, ist es schon da, dieses Gefühl des Bereuens: falsche Entscheidung, falsche Form.

Schon kommt die Krähe, Vorbote eines inneren Krieges.

Mächtig fliegt sie durch die Straßen, im Schnabel: altes Glück. Sie lässt es fallen, hebt es auf, steigt höher. Die Kastanie knallt hart, auf Autodächer und Gestein, so oft, bis die Fruchthülle bricht und die Krähe spitz in das Weiche hackt.

Und hackt.
Und.

Nacht, die nicht zu Ende geht. Stadt, die keine andre wird.
Verletzte Augen und plötzlicher Trotz. Statik hin oder her, rein da! Jetzt.

Und dann: Sonne.
Sonne, die durch einfach verglaste Fenster dringt.
Warm und offen. Körper, die beieinander liegen, und von draußen herbei gewehte Akkordeonmusik, Kaffeegerüche, Halbsätze, zart.

Ein Versprechen, aber auch:
eine nicht ganz durchdachte Metapher, verkitscht, romantisiert.
Und überhaupt: Fenster als Sehnsuchtsmotiv, jedes Mal, so ermüdend. Man müsste erblinden, um diese Schwelle noch übertreten zu können.

Oder endlich einmal den Mut aufbringen, ich zu schreiben. 06:05 Uhr


>Stendhal-Syndrom<

„Als Stendhal-Syndrom werden gewisse psychosomatische Störungen bezeichnet, wenn diese im zeitlichen Zusammenhang mit einer kulturellen Reizüberflutung auftreten. Zu den Symptomen zählen Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen.“
Bekannteste Städte-Syndrome: Paris-Syndrom, Jerusalem-Syndrom. Und jetzt neu: Pott-Syndrom.

Mehr von Melanie Huber

Hier und Nichthier

Ort: Burg Hülshoff | Datum: Sa, 26.08.2017 | Wetter: bewölkt, 19°C

Der Parkplatz füllt sich schnell. Die Leute strömen. Um das hier! zu sehen. Die Sehnsucht in die Ferne. Und das NICHTHIER. Ich bin gerade – in der Mitte. Zwei Monate mit dem Bulli unterwegs durch das Münsterland. Immer ein Stück zuhause dabei: mein Bett, meine Bücherkiste, mein Draht zur Welt. Durch die Windschutzscheibe jeden Tag ein neuer Ausblick. Vor der Tür jeden Tag ein neuer Vorgarten. Bin ich hier oder nichthier, in der Fremde oder doch noch im Eigenen? Vielleicht ist auch die Grenze dazwischen bewohnbar. Die Bewegung. Für kurze Zeit. Wenn die Unruhe nicht wäre.

„Rastlos treibts mich um“

Ein Fünftel ihres Lebens verbrachte die Droste auf Reisen. Zehn Jahre bewegte sie sich auf familiären Routen. Ostwestfalen, der Bodensee, die Schweiz und die Niederlande. Etwa die Hälfte ihres Werks entstand auf Reisen. „The World as Raw Material.“ Ohne das Unterwegs-Sein, in Gedanken wie auf der Straße, hätte auch ich den Großteil meiner Texte so nicht schreiben können. Begegnungen. Menschen in Bewegung. Abgelegene Orte. Ich habe einige gesehen und werde noch einige aufsuchen. Von manchen hatte ich zuvor gehört. Über andere bin ich gestolpert, habe sie auf meinem Weg für mich entdeckt. Einige habe ich beschrieben und geteilt.

„Sehnsucht in die Ferne“ ist der Titel der Ausstellung. So nennt die Droste ihren ganz persönlichen „Plagedämon“. Immer dort sein zu wollen, wo sie nicht ist. Die Sehnsucht in die Ferne immer auch eine Sehnsucht nach dem (anderen) Hier? Nach weiblicher Selbstbestimmung, nach Handlungsmacht? Eine erträumte Freiheit im Schreiben, im heimlichen Lösen des gebundenen Haars. Eine Frau. Unverheiratet. Betritt man die Ausstellung, tritt man zunächst wie selbstverständlich den Reisegefährten entgegen. Auf Augenhöhe. Manchmal begegne ich ihnen auf meinem Road Trip. Dann erntet meine Antwort – „Ja, genau, ich bin allein unterwegs, mit dem Bulli“ – Stirnrunzeln und hochgezogene Augenbrauen.

Daneben dann das Reisegefährt. Die Postkutsche, die Eisenbahn, das Dampfschiff. Technische Entwicklungen ihrer Zeit veränderten das Wie und das Wohin der Reise. Mein Gefährte und Gefährt wäre vielleicht auch etwas für die Droste gewesen: Der Bulli als ein Stück Eigenes in der Fremde. Und statt mobiler Münzsammlung die Bücherkiste. Statt Erpernburger Butterbröde der Filterkaffee im Thermobecher. Und die Rastlosigkeit. Die Unruhe. Sirenengesang der Ferne oder „klingts wie Heymathslieder“? Sehnsucht – in beide Richtungen? Flucht. Suche. Traum. Ziel. Rückkehr.

„Mein Indien liegt in – “

Sehnsucht treibt die Schreibenden um. Nach Räumen. Vermeintlich fern, vermeintlich nah. Die musikalische Performance „NICHTHIER“ lässt die Droste ebenso zu Wort kommen wie westfälische KünstlerInnen der Gegenwart. Ersehnen von Orten. Von Aufbrechen und Ankommen. Nach globaler Entgrenzung und lokaler Verortung. Stimmen sprechen von Westfalen und der Welt. Das Eigene braucht immer auch das Fremde. Zur Abgrenzung. Zur Selbstvergewisserung. Zur Verortung. Wobei beides zum Sehnsuchtsort werden kann: Heimat und Fremde. Heimweh und Fernweh. Im Sehnen scheint die Unmöglichkeit schon verankert – ein künstlerischer Motor?

Wo entsteht Kunst? Was ist der richtige Ort des Schaffens? Der DichterInnen-Ort. Der Ich-Ort der Poesie. Braucht es Sesshaftigkeit oder Bewegung? Verwurzelung oder Ungebundenheit? Den Rückzug ins Ich oder das Mitten-in-der-Welt-Sein? Um Inspiration zu finden. Um kreativ sein zu können. Annettes Ort kann man in der Ausstellung aufsuchen. Die virtuelle Realität ist vor allem – schwer. Im Schaukelstuhl sitzend halte ich die Brille mit beiden Händen. Bin hier, bei mir, das Kissen im Rücken. Das Schaukeln. Bin nichthier, wo sich das Licht im Wassertropfen am Rocksaum bricht, im Grase. Bewege mich. Stetig vor und zurück.

Was sind meine Souvenirs? Was nehme ich mit von meiner bisherigen Reise durch das Münsterland? In meinem „Schatzkästlein“ liegen: ein Stück Sandstein, eine rosafarbene Feder, ein Festivalbändchen, eine venezianische Maske. Mein Atlas des Münsterlandes, der mit jedem besuchten Ort dicker wird. Mehr Zettel ansammelt. Und verschiedenste Texte, die ihren Weg hinein und hinaus finden. Hier dann die Postkarten meines Road Trips. Von: Mir. An: Alle, die mögen. Briefmarke: Sehnsucht in die nahegelegene Ferne, ins Fremde im Eigenen.

Mehr von Claudia Ehlert

Von Minus zu Plus in Alt-Breinig

Auch der Sturz ist ein Flug. In den Schmerz. Bevor der Phönix aus der Asche, aus dem verbrannten Nichts aufersteht und ins All schießt…

Richard hat seine Reisen nach Ägypten, Iran und Jordanien abgesagt. Nicht wegen Moldawien, „dem falschen Ort“, aus dem er, „als falscher Mann“, im diesem Frühjahr schneller zurück als hin geflogen sei. Nun ist Herbst und Richard denkt an Kairo und die Schneeberge im Iran. Dort habe ihm vor 40 Jahre „das Fernweh gepackt“,  das ihn nun wieder „heimsuche“.

Der Breiniger „Phönix“

SES

Er, der Breiniger Bäckermeister und Konditor, fliegt seit fünf Jahren um die halbe Welt dank des SES – Senioren Experten Service aus Bonn, mit dem er „die Kunst des deutschen Brotbackens“ und „die guten deutschen Rezepte für Gebäck, Kekse und Konfitüre“ den „befreundeten Völkern weltweit“ beibringe.

Vier Mal im Jahr steigt der Breiniger in Flugzeuge und fliegt für drei Wochen nach China, Ukraine, Usbekistan, Tadschikistan, Azerbeidjan, Bulgarien, Mazedonien, Chile, Brasilien, Moldawien oder Madagaskar. Überall warte auf ihn ein Auto, eine Dolmetscherin, eine Wohnung. Er arbeite 4-5 Stunden am Tag und genieße die Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft seiner Gastgeber. „Ein Leben wie im Urlaub“, strahlt Richard.

Richard Vinken, Breiniger Bäcker, unterwegs für „SES“ in der Welt

Sein Auftragsgeber hatte ihn in diesem Frühjahr nach Kischinau, in die moldawische Hauptstadt, geschickt. Wie immer habe er auch hier sein Wissen und seine Erfahrung, „herzlich“ wie er sei, ausgepackt. Doch die Erwartungen der dortigen Schokoladenfabrik-Bosse seien höher gewesen. Mit Breiniger Pralinenrezepten konnten die moldawischen Chefs in der Hauptstadt wenig anfangen. So sei Richard zum ersten Mal ohne den Auftrag zu erfüllen, vorzeitig nach Hause entlassen worden. Das schmerze ihn, natürlich. Ausgerechnet in so einem armen Land, habe er, der deutsche Konditor, „einstecken“ müssen.

Viel lieber denkt Richard an China, die vorletzte Reise mit dem „SES“. In dem größten Land der Welt sei er nie alleine gewesen, habe sich nie alleine fühlen müssen. Die zwei Dolmetscherin haben für ihn, den deutschen Bäckermeister, alles organisiert, auf ihn am Flughafen gewartet, ihn täglich mit dem Taxi vom Hotel zur Arbeit und zurück gefahren, übersetzt, und sogar seine Freizeit durchgeplant. Auch in anderen Länder habe er schöne Erfahrungen gesammelt, in Baku sei er zwei Mal gewesen, die Dolmetscherinnen aus Aserbaidschan und der Ukraine habe er als seine Gäste in Breinig empfangen. Doch Madagaskar gehöre zu seinem „Spitzenorten“.

Madagaskar via Paris

„Waaas? Auf Madaaagaskar warst Du auch schon??“ staunt Sebastian, der junge Steinmetz aus Mosbach, der im „Hennecken Naturstein Meisterbetrieb“, bei Richards ersten Nachbarn, arbeitet. Wenn er Richard mit seinem Fahrrad an der Kreuzung kurven sehe, mache er immer eine kleine Pause. Er liebe seine schrägen Geschichten aus allen Herren Ländern.

Richard & Sebastian

Stolz wie Oskar erklärt der Steinmetz die geheimen Zeichen auf einem Stein vor dem Betrieb: „Breinig liege an der weltbekannten Pilgerroute, auf dem Jakobsweg. Pilger aus der ganzen Welt kommen nach Alt-Breinig!“

Und tatsächlich, auf den vier Steinplatten auf dem Boden steht: „Santiago de Compostela -Breinig 2516 km“.

Doch Richard sei ein Glückspilz, beneidet ihn der Steinmetz zwinkernd. Ständig sei er unterwegs: China, Brasilien, Madagaskar… Er selber wisse nicht einmal wo Madagaskar  liege, gibt der Junge zu.

Ich spitze meine Ohren, richte die Antennen, ich weiß es nur ungefähr. Wiki weißt es genau, ich schalte mein Smartphone an:

Madagaskar, die viertgrößte Insel der Welt, genannt auch „achter Kontinent“. Vor 150 Millionen Jahren von Afrika und vor 90 Millionen Jahren vom indischen Subkontinent getrennt. Ehemalige französische Kolonie, heute ein Entwicklungsland. 23, 6 Millionen Einwohner…“, lese ich vor.

 „Club Méditeranée

Die Menschen auf der Insel seien einfach, arm, aber sehr freundlich, sagt Richard. In Madagaskar habe er sein Französisch auffrischen können… Ohne Dolmetscher konnte er seine Gastgeber noch näher kennenlernen. Französisch habe Richard als Austauschschüler dank des Adenauer-De-Gaulle-Freundschaftsvertrags in Paris ein Jahr lang gelernt. Ein Jahr später zog er als gelernter Bäcker nach England, habe in einem Londoner Hotel ebenfalls ein Jahr lang gearbeitet.

Ein Jahr später habe er den „Club Méditeranée“, von dem ein englischer Kollege geschwärmt habe, entdeckt, sich dort vorgestellt und dank seiner guten Englisch- und Französischkenntnisse als Bäcker vier Jahre lang mit dem Spaß-Klub von Ägypten, Iran nach Karibik und Mexiko reisen können.

In Kairo habe er drei Monate in einem Hotel gelebt und die reichen Touristen mit seinen Pralinen verwöhnt. Danach sei er im Iran sechs Monate in den Bergen gewesen, habe gearbeitet und sei Ski gefahren…

„Damals war noch die Schah-Zeit, genau vor 40 Jahren!“ sagt Richard und seine Stirn rollt sich zu einer dicken Falte.

Irgendwann musste das „wahre Leben her“: Heirat, Familie, zwei Kinder. Für die weiten Reisen blieb in Breinig weder Zeit noch Geld übrig. Als selbständiger Bäckermeister habe er hart arbeiten müssen.

Krise als Chance

Doch Richard sei sich sicher gewesen, einmal werde wieder „seine Zeit“ kommen. Zeit für Reisen, fremde Länder, andere Kulturen… Das Fernweh liege in seinen Genen, sagt er. Sein Onkel lebe in Kanada und seine Oma sei auch immer auf Reisen gewesen. Nun sei er, dank SES, und seinem Pleiteladen „wieder an Bord“, sagt er und lacht breit als ob er gerade von seinen größten Erfolg erzählen würde.  Doch nach Ägypten und Iran wolle er nicht mehr, die alte Erinnerungen seien zu schön, um sie zu zerstören.

Ob Richard für seinen Laden schon einen Vermieter gefunden hätte, will der Steinmetz wissen.

„Schwer…“, meint Richard,

Jetzt habe noch einer, der letzte Bäcker im Alt-Breinig auch dicht gemacht.

„Ach, was? Er auch?“, wundert sich Sebastian.

Ja, der alte Mann habe auch keinen Nachfolger gefunden.

Nachmieter gesucht!

Richard, der Alt-Breiniger Bäckermeister, der eine Krise nach der anderen mit einem fröhlichen Gesicht steuert, sehe in jede Krise eine Chance. Er erinnere sich, sagt er, wie sein Vater in den 60er Jahren mit der Bäckerei die Existenz der ganzen Familie sichern konnte. Obwohl damals sieben Bäckereien in Ort gegeben habe, meint er. In den 80ern, als er dann mit seiner Frau den Laden von seinem Vater übernommen hatte, blieben noch drei Bäckereien übrig. Die Umsätze seien immer weiter zurückgegangen. Seine Frau und er hätten es dann mit der Konditorei versucht, hätten ihre eigene Pralinen zubereitet…

Die Bürokratie habe ihnen aber immer neue Steine in die Weg gelegt: Auflagen über Auflagen. Bei immer weniger Kunden und Umsätzen. In Januar dieses Jahres habe er kapituliert.

Nun habe er mehr Zeit für die Reisen, meint er. Für SES arbeite er zwar ehrenamtlich, aber wann hätte er sich sonst die Welt noch mal leisten können?

„Und was sagt Ihre Frau dazu?“ frage ich.

„Ach…“, schmunzelt Richard genüsslich. „Meine Frau freut sich, wenn ich fort bin… sie hat dann ihre Ruhe und freut sich, wenn ich wieder zurück bin“.

Ok, die Reise nach Moldawien, hätte er sich wirklich sparen können, aber er habe ansonsten viel Glück im Leben gehabt und ein paar kleine Steine im Schuh  könne er sportlich einstecken. Existenzielle Ängste habe er nicht.

Die Kinder seien groß, das Haus abbezahlt, seine Frau verdiene jetzt Geld in ihrem eigentlichen Beruf. Als gelernte Bankkauffrau arbeite sie in Aachen bei der Sparkasse. Und er habe auch einen Minijob…

Wartend auf einen Anruf aus Bonn fährt Richard von Breinig in alle Richtungen, ob nach Frankfurt, Köln, Düsseldorf, Amsterdam oder Brüssel. Als Minijober, eine Art Shuttle-Fahrer bringe er die VIP-Reisenden, Aachener Direktoren, Professoren und Ingenieure zu den benachbarten Flughäfen, oder wartet auf sie, wenn sie von ihrer Geschäftsreisen zurück nach Hause kommen.

Wenn Richard für SES wieder fliegt, werde auch er abgeholt. In Peking habe er staunen müssen, eine „ganze weisse Wand voller Namen, die abgeholt werden sollten“, unter ihnen war auch sein Name.

Trauer um Breiniger „Minus“

In Breinig vermisse Richard nun vor allem „Minus“, seinen Schulfreund, der mit diesem Namen früher wegen seiner Körpergroße – klein, schmal – gehänselt worden sei. „Minus“ sei eine „Breiniger Legende“, den die Welt besser als Win Braun, als deutschen Maler kenne. Seine Bilder schmücken Museen und Galerien weit über die Bundesgrenze. Win Braun sei aber „seinem“ Breinig bis zum „letzten Atemzug treu geblieben“, sagt Richard. Leider sei „Minus“ in diesem Februar, kurz bevor die ersten Schneeglöckchen aus der Erde kamen, verstorben.

„Zu früh!“ sagt Richard, wischt sich eine Träne aus den Augen, besteigt sein Rad und fährt los.

Sebastian, der Steinmetz, schaut auf die Uhr, schaltet den Rasenmäher an und rast über die grüne Fläche im Garten des Betriebs, direkt an den Kreuzung. Sein Chef komme in zwei Tagen vom Urlaub zurück, bis dahin müsse alles perfekt aussehen.

Auf der geschlossenen Tür der Bäckerei neben der angeklebten Telefonnummer steht auf einem Zettel:  „Ladenlokal zu vermieten!“

Sofort registriert mich Richards Frau hinter der Glastür. Mit ihr betrete ich ihr und Richards Pleiteladen, ein historisches Schmuckstück: original Fünfziger. Gut erhaltene Glasvitrinen mit Ecken aus Chrom, dreibeinige Tische, Geschirr mit Goldrand.

Eine Spielwiese für Nostalgiker wie mich. In zehn Tagen würde ich Richards Konditorei in eine Hipster-Tante Emma-Erzählstube umwandeln. Mit Kaffee, Pralinen, Musik und erlebten Geschichten wie die von Richard.

Oder die von Helmut, seinem Nachbar. Er sitzt vor seinem Steinhaus auf einer Bank und lässt mit seinem Hund, ein braunes und ein blaues Auge, die Welt an diesem stillen Montag vor sich hin plätschern. Er lächelt freundlich und erzählt seine „Pendler-Geschichten“.

20 Jahre Pendler

Als geborener Breiniger, habe er in Krefeld als leitender Maschinenschlossertechniker 45 Jahre bei Evonik Firma gearbeitet, „einen angesehenen Produzenten von Methacrylaten und anderen Chemiestoffe“.

Helmut, der Breiniger Pendler

Seine Eltern hatten ihm das Haus von 20 Jahren vererbt, deswegen sei er nach Breinig umgezogen und sei die nächsten 20 Jahren zwischen Breinig und Krefeld täglich 200 km gependelt.

Seine erste Ehe sei auch daran zerbrochen. Er habe aber das alte Steinhaus komplett restauriert, ein Teil hinter dem Haus noch nachgebaut und aus dem ehemaligen Kühe-Pferde- und Hühner-Stall ein prächtiges Miethaus ausgebaut. Er, Rentner inzwischen, sei nun komplett versichert und genieße mit seiner zweiten Frau das Leben in Breinig in seinem 180 m2-Traum aus „Stein und Fleiß“. Die Kinder, ihre drei und seine drei, kämen regelmäßig aus der ganzen Welt zu Besuch…

In dem  großen Hinterhof blühen in dem dornigen Busch noch ein paar zarte, letzte Rosen.

Die Straße, so schön wie ruhig, eine historische Augenweide aus Stein, schaut mich an wie ein Exponat.

       
Stein auf Stein. Blaustein. Bruchstein. Gepflegt. Verfugt. Verwittert. Im Retrolook.

Helmut lese zwischen Farben und Fugen der Steines die Geschichte Breinigs:  der graue Stein komme aus dem Steinbruch „Schomet“, der jetzt Andre Hennecken alleine gehöre, dem Chef von Sebastian, der gerne Richards Geschichten hört.

Häuser aus großen Steinstücken seien reiche Häuser gewesen, „je kleiner die Steine, desto ärmer das Haushalt“. Die Häuser aus bräunlichen Steinen, bräunlich wegen des Kupfers, kommen aus  Wahlheim, zwei Orte weiter, seien jüngeren Datums. In den 70er Jahren sei die ganze Straße unter Denkmalschutz gestellt worden, nur zwei Häuser seien neu. Nun wird Breinig wieder neu entdeckt, von den reichen Städtern, die hier ihre Urlaubdomizile sichern wollen.

„Die Preise schießen in den Himmel“, sagt Helmut und streicht sich zufrieden über seinen Bart.

Die Zeit schlägt hier gerade um. Wird umgekrempelt. Überstrichen. Mit der neuen, frischen Bio-Farbe. Die alte, vergangene, vergeht langsam. Am Stock. Wie ein altes Ehepaar, das sich aufeinander stützt, bevor es um die Ecke biegt. Ein verträumtes Gesicht mit einem Pinsel in der Hand streicht vertieft in seine Gedanken ein Fenster. Im Schneckentempo. Vor dem Haus ein kleiner Lkw mit der Aufschrift „Eugeneanny.com. – Lehm, Kalk, Biofarben, Planung, Design!“ Ein Einheimischer scheint sich auf die Restaurierungen der alten Schätze des Ortes spezialisiert zu haben. Zum richtigen Zeitpunkt.

Eugene, der  Bio-Restaurator

„Eugeeeen!“ ruft Sebastian, der Steinmetz mit dem Rasenmäher, hinter einem dunkelhäutigen Mann her, der über die Straße eilt. Der Mann in einem weißem Overall schaut verdutzt.

„Ich bin nicht Eugene! Suchen Sie vielleicht meinen Chef?“ fragt der Mann in gepflegtem Deutsch. Er habe zwar die gleiche Hautfarbe wie Eugene, leicht zu verwechseln, er sei aber Lui.

Dann holt er aus seiner Hosentasche sein Handy, tippt, spricht kurz in den Hörer, französisch, dann kommt aus dem Nachbarhaus ein anderer dunkelhäutiger Mann. Der wahre Eugen, vermute ich.

„Eugeneanny.com. – Lehm, Kalk, Biofarben, Planung, Design!“

Ihm gehöre auch der kleine LKW in Kalkfarbe mit dem Bio-Restaurierung-Aufkleber, erfahre ich. Der Afrikaner, Ende 40, Glatze, fester Händedruck, stellt sich vor:

„Eugene Anny aus Togo!“

Bei ihm scheinen jetzt die neuen, stolzen Steinhäuserbesitzer aus Alt-Breinig Schlange zu stehen. Er könne ihre Träume von Lehm-Wänden, Wand-Heizungen und Bio-Leben verwirklichen wie keiner anderer.

„Wie wird ein Togolese Experte für Alt-Breinig?“ will ich wissen.

„Ach, Liebe…“, meint Eugene schmunzelnd.

Er bringt mich in sein neuestes Werk: ein Haus „Anno 1787“, ein altes, niedriges Steinhaus, das er gerade grundsaniert:

„Biologisch“.

Der Erdgeschoss, ein offener Raum, die Wände mit Kalk geweißt, Wandheizung unter Putz, mit Lehm verkleidet. Das Bad in Betonfarben, geräumig, noch ohne Sanitäranlagen. Am Fenster steht der um zwei Köpfe größer Mann mit dem Pinsel in der Hand, das Gesicht erkenne ich sofort. Der Rumäne spreche leider kein Deutsch, dafür könne er mit perfekt mit Farben umgehen, meint sein Chef, Eugene aus Togo.

Der Afrikaner tritt auf die erste Stufe der alten Holztreppe, sie quietscht und führt in die erste Etage. Der Boden aus altem Holz ist frisch geschliffen, glänzt, die Wände mit Lehm und Kalk veredelt, riechen nach Bio.

Eugene arbeite seit einem dreiviertel Jahr an diesem Haus, sagt er. Lui, sein Assistent aus Gabun, der schönes Deutsch und perfektes Französisch spricht, und der Rumäne, der kein Wort Deutsch sagt, unterstützen ihn. Eugene beschäftige fünf Arbeiter und arbeite „bundesweit,“ auch in Holland, Belgien, Luxemburg.

Lehm & Kalk als Heilmittel

Ich will wissen, wie er dazu gekommen ist, mit Bio-Stoffen alte Häuser zu sanieren.

„Dank meiner Arthritis und dem Asthma!“ meint Eugene, schmunzelt, macht eine kleine Pause, genießt meine Verwirrung und erzählt dann sein Drama, das zu seinem Glück wurde:

Er habe jahrelang schlimmste Allergien gehabt, Arthritis, Asthma… eine „Hand voll  Tabletten täglich geschluckt, sei ein Wrack gewesen… aber seit er mit Lehm und Kalk arbeite, sei er geheilt, wieder fit und verdiene gutes Geld.

„Wie kam es dazu?“, frage ich noch mal.

Er habe seinen neuen „Bio-Beruf“ tatsächlich aus Not ergriffen. Seinen eigentlichen Beruf, Lackierer, habe er in den 90ern gelernt und als erster Schwarzer in Deutschland darin die Meisterprüfung abgelegt. Er habe damit zwar gutes Geld verdient, sei aber immer kränker geworden. Alle möglichen Krankheiten hätten ihn heimgesucht: Hautausschläge, Allergien, Arthritis, Asthma…. Ohne die „Masse an Tabletten“ hätte er keinen Tag überstehen können.

Doch wenn er einige Wochen in seiner Heimat Togo verbrachte, verschwanden alle seine Schwierigkeiten. Sobald er aber in Deutschland war und als selbständiger Lackierer einen neuen Auftrag bekam, brachen seine Krankheiten wieder aus. Er ließ sich testen und die Diagnose war deutlich: er war auf alle Stoffe, die er jahrelang in seinem Beruf verwendet hatte, allergisch. Also wurde ihm empfohlen, sein Beruf sofort an den Nagel zu hängen.

Afrika-Art

Eugen sei ratlos gewesen, und fing an, aus Verzweiflung und um sich abzulenken, sein Haus in Alt-Breinig umzubauen. Er baute mit Lehm und Kalk so wie es bei ihm zu Hause in Togo üblich ist. Seine Krankheiten beruhigten sich. Dann klickte es in seinem Kopf.

Das restaurierte Haus, Anno 1787, Eugenes Werk

Vielleicht könne er auch andere Häuser mit Lehm, Kalk und Biofarben umbauen, das zu seinem neuen Beruf machen und damit eine neue Karriere starten, überlegte er.

Der Togolese ließ sich in Luxemburg weiterbilden und spezialisierte sich auf Restaurierungen und Umbauten mit Lehm und Kalk und startete erfolgreich sein Unternehmen.

Nun sei er wieder völlig gesund, lebe ohne Tabletten und „mache viele Menschen glücklich“. Und sich selbst auch.

Neulich habe ihn die Polizei angehalten.

Erleichtert sei er gewesen, als der Polizist von ihm wissen wollte, ob er, auch dessen Haus renovieren könne, „so mit Lehm, Kalk und Co“, habe ihn der Polizist gefragt. Natürlich konnte er. Dem Polizisten sei wohl sein kleiner LKW mit dem Firmenaufkleber aufgefallen.

Eugene strahlt zufrieden. Ja, ihm gehe es gut, sagt er auf dem Dachboden, einem großzügigen, offenen, hohen Raum, der nun aus zwei Etagen besteht.

Er habe viele seiner eigenen Ideen hier umsetzen können.

Auf seiner Homepage stehe noch mehr, sagt er und drückt mir seine Visitenkarte in die Hand. In einem Monat habe er wieder Zeit. Morgen fahre er mit seiner schönen Frau, einer Deutschen, in den Urlaub nach Afrika ….

Mehr von Slavica Vlahovic