Qual der Wahl

Müsste, pardon, dürfte ich in Deutschland wählen, müsste ich am kommenden Sonntag tapfer sein. Verkatert aus dem Bett kriechen, mich im Spiegel gar nicht anschauen, ohne mir Wasser ins Gesicht zu spritzen, ohne Frühstück, ohne Gewissensbisse, einfach geradeaus, ohne Umwege zur Wahlurne marschieren und meine Stimme dem kleinsten Übel abgeben. Fertig.

Mitgefühl wählen? Why not?

Von kleinen und großen Übeln

Eine Woche vor dem Tag D. fliegt die flache grüne deutsche Landschaft vor meinen Augen in Zuggeschwindigkeit an mir vorbei. Ich sitze in der ersten Klasse der Regiobahn (dank der Großzügigkeit des „AVV„), fahre aus dem Heinsberger Land nach Aachen und studiere die frisch aufgenommenen Fotos in meinem Smartphone: Wahlplakate mit vielen Sprüchen unter dem bleigrauen Himmel von Übach-Palenberg, der Stadt mit dem „spröden Charme“, wie sie mein ortskundiger Begleiter nennt. Diese muss eine Qual für meine deutschen Freunde sein, die jetzt wählen müssen, pardon, dürfen:

Ins Neuland, mit Kai, dem Piraten?

Das schöne an den Wahlen sind die kleineren Übel. Sie sagen: „Freu Dich aufs Neuland! Für Freiheit! Für Sicherheit! Für Dich!“ – wie mich ein Babyface von Piraten anlächelt: „Barrierefreies Netz überall!“

Klingt tausend Mal besser als „Grenzen sichern“! Fast so gut wie: „Mitgefühl kennt keine Obergrenze! Wählt Menschlichkeit!“, ein schöner Spruch, den ich am Tag davor in der westlichsten Stadt Deutschland, in „Übach-Palenberg“, an der Eingangstür der örtlichen Caritas registriere.

„Mieten, die bezahlt sein müssen“, „Die Linken“ scheinen zu wissen, was ihre Wähler am meisten kratzt. Wie sie aber den Mieten-Wahn in den Großstädten stoppen wollen, sagen sie nicht.

Netze überall! Mieten zahlen überall!

Drei Meter über die Erde hängen die AfD-Sprüche auf den düster blauen Plakaten, die in das Bleigrau des Himmels über Übach-Palenberg  übergehen: „Deutsche Grenzen sichern!“, „Schuldenunion stoppen!“,  „Asylchaos stoppen!“

   

Oh, Gott! Grenzen! Stoppen! Deutschland! Deutschland! Fast überall! Wo ist da die Alternative? Mut für Deutschland? Was ist mit dem Rest der Welt? Die deutsche Grenzen sichern? Wo? Gleich hier in Übach-Palenberg beginnen? Am ungeschützten Grenzübergang zu den Niederlanden? Wie stoppen? Mit Waffen?

Wer ist der kleine „man“, der alles kann?

„Kinderarmut kann man klein reden. Oder groß bekämpfen!“, darum Grün! Schöne grüne Sprachspiele mit dem Modalverb „kann“, das weder verspricht noch verpflichtet. „Oder“? Darum weiter!

„Damit die Rente nicht klein ist, wenn die Kinder groß sind“. Die Sozialdemokraten haben ihre Gerechtigkeitsthemen gefunden.

Mehr Gerechtigkeit, weiter mit Angela?

Damit sie mit Angela, sie strahlt mit einem unwiderstehlichen Lächeln von den riesigen Plakaten „ Erfolgreich für Deutschland!“ in den nächsten vier Jahren regieren können? Pardon, wollen, sollen, dürfen…?

***

Stammtisch-Probe-Sitzen im Wunderland

Wen werden die beiden deutschen Männer, die nicht unterschiedlicher sein können, wählen, die an meinem ersten „Stammtisch im Wunderland“ , einer Art wandernder Installation, mir zu Probe saßen? Es ist drei Monate her, die Nacht als ich meine Koffer nach Aachen gepackt habe.

Mein Gatte, ein frisch getaufter Genosse, der von seiner ersten Parteisitzung zurückkommt und mit mir bei einem Bier aufgeregt „The Wind of Change“ besprechen will, hat gar keinen Bock auf die beiden wildfremden Männer, die sich zu uns setzen. Ich habe sie angelächelt, aus Versehen, sie mit zwei Witzfiguren aus meiner Heimat verwechselt. Einer, groß, gebückt, unglückliche Augen, leidend unter Trennungsschmerz, wie ich nach exakt einem Bier von ihm persönlich erfahre. Seine peruanische Frau habe ihn, den Pendler zwischen Köln und Aachen, verlassen, weil sie auf ihn nicht mehr alleine zuhause in Köln warten wollte. Sein alter Kumpel aus der Schulzeit, der früher den Balkan als Freiheitsraum und Fluchtort für sich entdeckt hatte, hat die Ehre mit seinem untröstlichen Freund von einer Kneipe zu anderen zu ziehen. „Dat Bier hilft immer!“, meint der Tröster, „Hanni“, wie er sich vorstellt. Er, der ewige Single im 35. Semester Griechisch, Bulgarisch und Rumänisch. Zur Zeit stemple er beim „Onkel Harz 4“, bestellt uns alle eine Runde des dunklen wilden „Exoten“ aus Tschechien, original Prager Bier.

Sex und Religion

Der Tscheche aus der Flasche macht aus uns Experten für alle wichtigen politischen Fragen der Zeit. Hanni stürzt sich auf Angela, „den Mafiaboss mit mädchenhaftem Lächeln, die ihre Feinde meisterhaft verschwinden lässt“. Mein deutscher Mann lobt Martin, den Messias, mit dem er nicht nur die Partei, sondern auch die Gerechtigkeit in Deutschland retten will. Merkel könne mit Kritik umgehen, meint er, weil „sie die Kritik umgeht“.

„Vergiss es!“ sagt der kleine dicke Hannes abwertend.

„Gerechtigkeit ist mit DER Partei nicht mehr zu holen.“

Hannes ganze Familie habe traditionell seit Jahrzehnten Rot gewählt, jetzt seien sie aus Protest und Wut alle ausgestiegen.

Wohin seien sie übergelaufen, will ich fragen, beiße mir aber auf die Zunge. Wählen ist eine zu private Sache, erinnere ich mich. So wie Sex und Religion…

Der traurige Manni will sich irgendwie auch an der Diskussion beteiligen und entlarvt Erdogans Wirtschaftswunder. Ohne Deutschland hätte der „Sultan“ gar keine Chance am Bosporus gehabt, sagt er.

„Dank den anatolischen Türken in Deutschland, die hier von Harz IV leben, kann Erdogan jetzt sogar die Todesstrafe einführen“, fügt Manni hinzu: „Ja, das schaffen wir auch noch!“ sagt Hanni. „Ganz alleine… ohne Putin und Donald“.

Die bosnische Lösung

Ich will die ernsthaften Männergespräche ein wenig dämpfen und erzähle einen Witz von Mujo und Haso, die beiden Bosnier, an die ich gerade dachte als Manni und Hanni hereinkamen und ich sie anlächelte.

Die Lage in Bosnien – Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption – Mujo und Haso zerbrechen sich gerade den Kopf, wie sie ihr Bosnien retten könnten: Haso dreht den Kopf besorgt: „ …zuerst gab es den blöden Krieg, dann kam die Privatisierung, nun müssen wir mit dem brutalen Kapitalismus klar kommen..!“ Mujo streicht sich mit dem Zeigefinger über die Lippen:

„Ach, vielleicht gibt es eine Lösung…“ sagte er.

„Welche?“

„Ein Krieg könnte uns retten! Einer gegen Amerika.“

„Was? Bis Du irre? Ein Krieg gegen die Supermacht der Welt??“ protestiert Haso.

„Genau! Deswegen!“ sagt Mujo. „Gewinnen wir den Krieg gegen diese Supermacht, werden wir Amerika! Verlieren wir ihn, werden wir es auch!“

Die drei deutschen Männer lachen zögerlich über die seltsame Logik der beiden Bosnier und ich glaube, ich muss einen besseren Witz erzählen und bin schon bei dem Cheffe und seiner Muse, Donald und Melania, dem Schreckenspaar aus dem weißen Haus, meinem neuen Albtraum und dichte einen alten Mujo-Haso-Fata-Witz um.

Diagnose: Love, Donald 

„Melania leidet, isst kaum noch, wird immer dünner, schaut traurig, geht von Arzt zu Arzt, doch alle Befunde scheinen in Ordnung zu sein. Als sie von einem Frauenarzt untersucht wurde, will der Arzt unbedingt Donald, ihren Ehemann sprechen:

‚Donald, Ihre Frau ist, wissen Sie, eigentlich gesund’. Pause. Langer Blick. Einfühlsame Stimme. Die Diagnose: Melania braucht Love, ein bisschen Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit, Sex!’

Donald verkrampft sich, schaut mürrisch, sagt nichts, geht raus. Im Wartezimmer sitzt die traurige Melania, knetet ihre langen Finger nervös und fragt: ‚Donald, was hat der Arzt gesagt?’ ‚Nix Gutes!’ meint der mächtigste Mann der Welt. ‚Dir ist, Melania, nicht mehr zu helfen…!“

Ich lache alleine. Die deutschen Männer an meinem Stammtisch sagen „ha-ha-ha“. Meinen bosnischen Humor verstehen sie nicht. Es ist spät, aber sie geben noch einmal alles und setzten ihre ernsthafte, deutsche Analyse fort:

„Schuld an Donald sei das System“, sagt mein deutscher Mann. Das Wahlsystem sei in Deutschland besser als in den USA. „Hillary hatte mehr Stimmen. Eine Millionen mehr…“

„…aber was macht den Unterschied…“, sagt Hannes. „Donald oder Hillary ?… Alles gleich..!“

„Alles gleich???“, regt sich mein deutscher Mann auf. „Wie meinst du das?“

Verschwörungstheorie 

Donald sei eine Witzfigur in den Händen der Weltwirtschaftsmafia. Amerika stecke in den Händen gefährlicher, dunkler Mächte. Donald sei wie Hillary. Ohnmächtig dagegen. Auch er werde von „den dunklen Mächten“ regiert. „Den Drahtziehern!“, so Hannes Theorie.

Manni, der Wirtschaftsexperte, sagt nichts. Er nickt brav vor sich hin. Ob er genau hört, was sein Freund sagt, oder noch in Peru nach seiner Liebsten sucht, die auf ihn nicht jeden Tag warten wollte und in ihre Heimat floh, ist nicht klar.

„Unsinn!“, höre ich meinen deutschen Mann protestieren. „Verschwörungstheorien!“ sagt er. „Wer sind die dunklen, geheimen Mächte?“ fragt er völlig aufgeregt. „Wer???“

„Das kann ich Dir, mein lieber Freund, nicht einfach so sagen. Es ist zu gefährlich!“ flüstert Hannes und kippt den letzten Tropfen des fünften Bieres hinunter.

„Ach, gefährlich? Für wen gefährlich? Was sind das für geheime Mächte! Wer? Sag!“

Hannes dreht feierlich den Kopf.

„Das kann ich leider nicht sagen…“, wiederholt er

Hahn & Hase

In meinem Kopf dreht sich alles vom Bier, lauten Männerstimmen und Stammtischverschwörungen. Ich will nach Hause gehen. Ich will die ganze Bierphilosophie beenden und höre mich sagen:

„… Nicht Juden etwa…oder meinst Du es vielleicht doch?“

Hannes schaut mich verblüfft an, wendet sich zu Manni:

„Siehst Du…?“

Meine Antwort scheint ein Volltreffer zu sein.

„Ach, die Juden und die Weltwirtschaftskrise? Das hatten wir schon mal! Damals in…“, höre ich meinen deutschen Mann protestieren.

„Ja, auch heute in Deutschland regieren sie im Hintergrund!“ sagt Hannes.

„Blödsinn!“ explodiert mein deutscher Mann.

In Deutschland erkenne man sie heute noch an ihrem Namen. „Sie heißen Hase, Fuchs oder Hahn“.

Ich muss laut lachen. Die mütterliche Seite der Familie meines deutschen Mannes heißt tatsächlich Hahn. Und er isst am liebsten bei einem „Hasen“ in Köln.

„Also, so wie wir…! Mein deutscher Mann kommt von einem Hahn… Und ich bin ein Hase“, höre ich mich rufen.

Hannes bekommt große Augen. Mein deutscher Mann springt vom Stuhl und geht. Ohne sich zu verabschieden. Ohne auf mich zu warten.

Besser er geht als dem kleinen, dicken Hannes mit den dünnen Löckchen eine zu knallen, denke ich mir, trinke mein Bier aus, winke den beiden Männern noch einmal zu und folge brav meinem deutschen Mann.

Deutschland ist dran

Ich solle lieber besser aufpassen… warnt mich mein Mann, als er am nächsten Tag den Löffel in die Hand nimmt und mein liebevoll zubereitetes Müsli mit Mango dann doch noch berührt. Wenn ich so weitermache, dem oder dem einfach so zuwinke…, ziehe ich noch das ganze Unglück Deutschlands auf mich, meint er.

„Jetzt ist es sowieso zu spät!“, kontere ich.

„Hätte ich immer aufgepasst, wäre ich gar nicht bei Dir gelandet…“, lächle ich und zwinkere ihm, meinem deutschen Mann, zu.

„Du bist mein Schicksal! Ohne Dich bin ich verloren…“, sagt er.

„Nun ist Deutschland dran!“ sage ich und gehe in mein Zimmer, meinen Koffer nach Aachen zu packen…

***

Kleiner Kim, große Bombe 

In der Aachener Fußgängerzone in der Pontstraße im Café Kittel, hinter dessen großen Scheiben ich den letzten Schluck meines Café au lait koste, wimmelt es von Studenten, Hipstern und Zukunft. Wen werden sie wählen? Müssen? Dürfen? Können? Wie gucken sie auf die Welt? Auf ihre Zukunft?

Meine Zukunft übt in Aachen seit drei Monaten die Welt zu entziffern. Inzwischen ist die Welt dreimal auf die Stirn gefallen. Der kleine Kim aus Nordkorea scheint unseren bosnischen Witz buchstäblich zu verstehen, will den Amerikanern den Krieg erklären und lässt ständig Atombomben über Japan fliegen. Donald scheint überfordert zu sein. Auf der einen Seite dieses irre Babyface mit der Atombombe, auf der anderen Hurrikans und Tornados, die Amerika verwüsten. Er rennt nur mit seiner Melania in Gummistiefeln umher und verteilt viele große Sprüche. Und Martin, der Genosse aus Würselen, der im Frühjahr wie ein Messias durch die Bundesrepublik zog und jeden, inklusive meines deutschen Mannes, mit dem „Wind of Change“ ansteckte, wirkt nun neben Angela wie eine ermüdete Witzfigur.

Natürlich ist weder das Rentensystem noch der Pflegedienst in Deutschland ohne uns Einwanderer zu retten, brüste ich mich bei den Genossen, deren Wahlbroschüre über Rentenprobleme ich in der Hand halte und zwischen vielen Worten und Statistiken zu verstehen versuche. Ich falte die Zeitung zusammen, stehe auf, gehe zur Theke. Plötzlich spüre ich einen stechenden Blick im Nacken. Ich drehe mich um und erkenne ihn sofort, den gebückten Riesen mit großen Augen, umrandet mit tiefen Schatten:

Manni! Die unselige Bekanntschaft aus der Kölner Kneipe meiner Probe-Stammtisch-Phase, der Pendler zwischen Köln und Aachen, meiner alten und der neuen Welt.

Genosse oder Spion

Er wirkt gelassener, als ob er ein paar Steine aus seinem schweren Rucksack inzwischen entleert hätte, und er trägt eine rote Krawatte.

„Genosse oder Spion?“, will ich in meiner direkten Sarajevo-Art raushauen, doch dann beiße ich mir wieder einmal auf die Zunge. Ja, Politik ist zu privat, so wie Sex und Religion.

„Manfred? Du siehst gut aus. Hast Du gute Nachrichten aus Peru?“

„Ja, das habe ich…“ sagt er und seine Augen fangen an zu leuchten.

„Meine Frau hat sich gemeldet!“

Sie haben sich versöhnt. Nach zwei Monaten dürfe er sie abholen. Er wolle sie nicht wieder verlieren, er habe eine Wohnung in Aachen gefunden…

„Einen Tag nach den Wahlen ziehen wir um…“

„Und Hanni? Wirst Du ihn nicht vermissen?“ frage ich noch so nebenbei.

„Neeee“, zieht er leise die Vokale lang. Es ist ihm unangenehm. Sein Blick klebt am Boden.

„Es hat mich gefreut!“ sage ich. „Und vielleicht bis bald. Mit Deiner Frau in Aachen!“…

Mehr von Slavica Vlahovic

07:41 Uhr, Notaufnahme

Im Wartebereich der Notaufnahme sehen die Putzkräfte aus wie Krankenschwestern. Manch einer spricht die wischenden Frauen an, die Frauen nicken dann freundlich. Die Theke zur Anmeldung ist groß, sie dominiert den schmalen, um mehrere Ecken sich windenden Raum. Wartende sitzen mit dem Rücken zur Fensterfront und den Gedanken zur holzvertäfelten Schrankwand. Es ist noch früh, und nur die Ambulanz ist besetzt. Ab und an kommt ein Rettungssanitäter nach vorne, spricht mit der Frau an der Anmeldung.

„Schon wieder einer?“
„Wochenende halt.“
„Kann man nichts machen.“
„Isso.“
„Perso?“
„Besser: handschriftlich.“
„Kann ich nicht lesen.“
„Ja.“
„Moment. Den kenne ich. Der war schon mal da.“

Hinter einer milchigen Tür sind Rollen zu hören, dann eine laute Stimme: „Wir schneiden Ihnen jetzt die Hose auf, in Ordnung?“ Eine Stunde später heißt es: „Ziehen Sie bitte Ihre Hose wieder an“ und: „Ja, wie’s halt geht.“

Im Wartesaal sitzt man stoisch, ein Ehepaar weiß, wie. Sie hat eine Wasserflasche dabei, Kekse, die aktuelle Tageszeitung. Er wird im 20-minütigen Takt versorgt. Sie reden nicht, alles geschieht ruhig, wie selbstverständlich. Er trägt eine Steppjacke, darunter lugt auf der linken Seite ein Beutel hervor. Das Blut bildet lange, flüssige Fäden. Nach einer Weile schwabt es im Beutel, es wird die Toilette aufgesucht.

Ein Mann, Ende 30, stützt ein Mädchen. Sie hat Puschen an, sie sitzen nicht richtig. Der Mann sagt etwas von Klassenfahrt, Wasserkocher, verbrannt. Nachdem sie sich in die Wartereihe eingegliedert haben, holen beide ihre Smartphones raus, dann hebt er die rechte Hand nach oben, sie stecken die Köpfe zusammen, schauen auf zum Smartphone, formen Münder zu Schnuten.

Es kommen und gehen: verbundene Hand, gebrochenes Bein, ein Bänderriss und verbrannte Füße. Das Ehepaar isst Kekse. Eine Stimme im Radio liest immer wieder die gleichen Nachrichten vor. Die Putzkräfte sind weg. Eine der Arzthelferinnen gähnt. Auf dem Toilettenboden schwimmt das Blut.

Gegen 10 Uhr knallt es. Die Tür. Eine kleine, gedrungene Frau stapft in die Notaufnahme. Sie trägt einen schwarzen Rock, gepunktete Socken und schwarze Ballerinas. Vor sich hält sie einen Weidenkorb. Sie kann kaum über die Theke schauen.

Sie sagt: „Ich hab ne Erkältung, ich brauch Tabletten.“
Die Arzthelferin: „Bei einer Erkältung müssen Sie aber zum Hausarzt oder zum ärztlichen Notdienst.“
„Ich hab einen Termin bei der Kosmetikerin. Ich brauch Tabletten. Und Husten.“ Sie hustet leicht.
Die Arzthelferin will ihre Personalien aufnehmen: „Wo wohnen Sie denn?“
„Ja, da.“
„Wohnen Sie mit jemandem zusammen?“
„Mit Jesus.“

Die Frau will Flyer verteilen. Die Arzthelferin wehrt ab, von den Wartenden hebt keiner den Kopf. Die kleine Frau geht, wie sie gekommen ist: mit einem Knall.

Fünf Minuten später werden das Ehepaar und weitere Menschen durchnummeriert und in die Urologie geschickt. Das Wartezimmer hier ist kalt, hinter der Tür steht ein Reitgestell mit Sattel. „Ist ja auch irgendwie ein Witz“, sagt eine Frau und nickt zusätzlich in Richtung der Fotos, die an den Wänden hängen. Darauf zu sehen: fließende Bäche, gefüllte Flaschen. Eine weitere Frau stößt permanent auf, atmet laut und schwer, ruft entweder Yalla oder Allah oder beides.

Die Zeit vergeht minütlich, denn der Uhrzeiger klackt hier hörbar. Es riecht nach Urin und nicht geputzten Zähnen. Später wird es einen Bruch geben: Markttag in der Innenstadt, Herbstsonne, strahlende Gesichter, und Apotheker, die schwarze Sakkos tragen. Aber soweit ist der Zeiger noch nicht. 11:07 Uhr


>Warten<

Reiten in der Urologie – seltsamer Witz. ©mhu
Reiten in der Urologie – seltsamer Witz. ©mhu
Nichtstun. Eine Kulturanalyse des Ereignislosen und Flüchtigen“ (2012) heißt eine wissenschaftliche Arbeit der Ethnologen Billy Ehn und Orvar Löfgren. Im Kapitel „Warten“ steht einleitend:

„Wenn Menschen […] davon sprechen, wie sie das Warten erleben, dann klagen sie im Allgemeinen über dreierlei: erstens, dass es langweilig ist zu warten; zweitens, dass die Zeit, wenn sie gezwungenermaßen warten müssen, so viel langsamer vergeht als gewöhnlich; und drittens, dass sie das Ge­fühl haben, die Zeit vergeudet – ‚getötet‘ – zu haben.“

Mit der Angst im Nacken, etwas Gesundheitsgefährdendes zu haben, sein Leben aufs Spiel zu setzen, allein, weil man zum Stillstand gezwungen ist, ist meiner Meinung nach die schlimmste Form des Wartens. Man tötet nicht nur die Zeit, man tötet sich selbst. Aber darum geht es auch: Sich im Warten und in sich selbst nicht zu verlieren. Immer auch das Außen wahrnehmen. Selbst im Krankenhaus. Oder vielleicht gerade da.

 

Mehr von Melanie Huber

Nacht, eine;

Man kann sehr gut in Herford der Nacht lauschen und dabei etwas umherflanieren. Auf dem Weg begegnete mir diese Baumrinde und wollte Gemälde werden. Nacht eben.

 

 

Die Mondfinsternis
stimmt für mich Debussy oder Satie an,
kleine Winkel unter Laternenpfeilern.
Ein Schritt wird Melodie und Epiphanie
eines Eroberns der wehenden Bäume
der wartenden Träume;
sie loten eine Kathedrale aus,
Wolken und Zerrstellen.

Ich lausche den Schatten,
die leuchtend vorbei schleichen,
zu Geplätscher, Singsang
und Streicher erwachen.

Man spielt mit jedem Schritt Klavier,
hier ist die Nacht so still,
man braucht geflüsterte Musik
oder gebügelte Ohren,
um den Mond aufzuhalten.

Ein Scheinwerfer zerschneidet die Nachtruhe.
Manchmal vertue ich mich,
mit dem Dunkel im Halbton
liegen die Laternen
;
doch es sind nur
ungeölte Scharniere,
die uns nach Hause berufen.

Mehr von Theresa Hahl

Von Blitzlichtern, Metaphern und einem Stadtfest

Ein Sonntag in Unna, Vormittag. Westlicher Rand des Hellwegs. Um den Bahnhof die trügerische Ruhe einer Stadt dieser Größe. Wie weit ist das Zentrum?

Gut, dass Bahnhöfe hierzulande schon so lange stehen. Im Zentrum. Der Industrialisierung und Friedrich Wilhelm sei Dank. Kontrastierende Erinnerungen aus China: Das heutige die Metropolen verbindende Bahnnetz ist noch keine 30 Jahre alt. Bahnhöfe erinnern in Größe und Architektur an europäische Flughäfen. Selten zentral. Vielmehr sind Zugreisen anzugehen, wie in Westeuropa Mittelstreckenflüge. Anreise, Sicherheitskontrollen, Wartezeit, Transfer.

Transfer in Unna, von Bahnhof ins Zentrum wenige Gehminuten. Die Stadt gefüllt. Alkoholreste vom Vorabend. Musikalische Beiträge mit großem Fremdschampotenzial auf Bühnen mit ‚kecker‘ Moderation. Finanziert von lokalen Marken und Unternehmen. Banner in der Größe von Einfamilienhäusern. Wippende Familien, Junggesell*innen beim Frühschoppen. Oder Vorglühen. Oder Nachglühen. Menschen im Vorbeigehen, gleichgültig.

An den Straßenrändern sich biegende Tische. Spielzeuge, Kinderkassetten (welch Relikt!) und Kleidung. Und Schulränzen. Und Kindersitze. Auf, unter, neben den Tischen. Dazwischen kreischende Kinder, verfolgt von Eltern. Erhitzte Gemüter, rot angelaufene Gesichter.

Mein Weg führt in die Katakomben einer alten Brauerei. Das weltweit einzige Museum für Lichtkunst. Seit 15 Jahren, tatsächlich hier. In Unna. Wer hätte das gedacht. Räume und Installationen von Künstler*innen aus aller Welt. Olafur Eliasson, Mischa Kuball, Christina Kubisch, James Turrell.

Draußen umgeben von menschlichen Wirrungen, von Gerüchen. Zuckerwatte, Bratwurst, Kaffee, Waffeln, Bier. Drinnen, da unten, umgeben von Bewusstseinserweiterungen. Von Licht und Ton. Von Assoziationen, Metaphern, Fragen, Spielereien. Verzerrte Wahrnehmungen, zuckende Tropfen, abgescannte Körper.
Trigger für blitzlichtartige Erinnerungen im Kopf. Gerüche vergessen geglaubter Orte, Begegnungen, Phantasien. Orte, die ich schon bereisen durfte. Orte, die ich bereisen möchte.

Ein Kontrast von Innen- zu Außenwelt. Viele Antworten draußen, viele Fragen drinnen. Affirmation vs Kritik.
Aber auch: Da unten Hochkultur, teuer eingekauft Perfektion. Da draußen das Leben voller Widerstände. Aber auch: Lichtkunst ist niedrigschwellig. Kaum eine andere Kunst, die das schafft. Alle rein da!

In den Nachrichten die Pleite einer Airline. Auswirkungen des Klimawandels, Fluten in Indien, Stürme in Mittel- und Nordamerika. Wahlkampf. Oder etwas, das daran erinnern könnte. Gedanken und Fragen zu Strukturen, zum Wesentlichen an große Herausforderungen abstrakt. Voller Widersprüche. Wie Unna.

Im Kontrast von Lichtkunst und Straßenfest vielleicht ganz einfach erklärbar.

Mehr von Matthias Jochmann

Maria, die „gute Seele“ vom Kloster Steinfeld

Ich wollte immer wissen, was ein Mädchen dazu treibt, ins Kloster zu gehen. Wie diese Entscheidung getroffen wird? Was sie dazu motiviert, ihr Leben Tag und Nacht als „fromme Dienerin“ zu verbringen? Nun steht vor mir eine Frau im fortgeschrittenen Alter, die meine Mutter sein könnte. Sie sieht ihr ähnlich: dieselben hellen, lebendigen Augen, hohe Wangen, ein dunkler Rock, das helle Hemd, keine Uniform. Sie lächelt mich an, nicht weniger neugierig auf mich als ich auf sie. Ich fühle mich wohl bei ihr, habe keine Hemmungen, stelle ihr Fragen, die ich einer Nonne oder einer Ordensschwester schon immer stellen wollte und mich nie getraut habe.

——

Wenn Maria Goretti Augustin, 78, gütige Augen, Igelfrisur, glänzende Zähne, zurück auf ihr Leben blickt, strahlt sie Ruhe und Gelassenheit aus. Ob sie alles richtig gemacht habe, das wisse der Herr besser als sie. Sie habe ihm, dem Allmächtigen, ihr Leben geschenkt, ihre Träume anvertraut, ihre Ängste auch, sie habe ihre Gelübde abgelegt für ihn, Gott, den Schöpfer, um für die Menschen „da“ zu sein. Eine Art Eid, ein Versprechen, das sie „mit Herz und Seele“ immer gehalten habe.

„60 Jahre lang“.

St. Maria Goretti Augustin

Für Gott und die Menschheit da sein

Als Maria noch Rosa heißt, macht sich ihre Mutter große Sorgen. Das Mädchen, fünfzehn Jahre alt, gerade nicht mehr Kind, lebendig, neugierig, ganz dieser Welt zugewandt, habe nicht nur den Jungs den Kopf verdreht.

Rosa will alles sehen, hören, riechen, alles erleben. In einem Kloster will sie sogar drei Tage lang versuchen, zu schweigen. Die Ordens-Schwester, die die Einkehrtage organisiert, muss über das Mädchen laut lachen:

„Aber nicht Du, Rosa! Länger als eine Minute still zu bleiben, das schaffst Du, mein Kind, sowieso nicht!“

Diese Worte ärgern Rosa und wecken ihren Ehrgeiz. Gepackt vom Trotz und dem Willen, allen und sich zu beweisen, sie könne alles, auch drei Tage schweigen, geht sie mit der frommen Mädchengruppe in ein Schweigekloster: und sie schafft es. Tatsächlich hält sie drei Tage lang komplett ihren Mund. Sie sitzt ruhig und hört Stille. In der Stille begegnet sie einer Stimme. Rosa hört diese Stimme in sich wie eine Vision, die so „klar, so entschlossen“ gewesen sei wie nichts bis dahin:

„Ich will für Gott und die Menschheit da sein! Ich will eine Ordensschwester werden!“

Ihre Mutter habe nur den Kopf geschüttelt, als Rosa nach drei Tagen Schweigekloster nach Hause kommt mit ihrem frommen Wunsch.

„Ach, Kind, Du machst mich noch wahnsinnig. Hattest du vor dem Kloster nicht eine andere Vision? Wolltest Du nicht Mutter von 12 Kindern werden? Eine große Familie haben? Nun willst Du die Welt retten: für Gott und die Menschheit da sein!?“

Rosas Vision: Gott

Rosa schweigt zuerst und kämpft dann. Wie ein Mantra wiederholt sie, sie wolle in das Kloster gehen, sie wolle Gott und der Menschheit dienen, sie wolle in einen Orden eintreten, bis ihre Eltern schließlich ihren Widerstand aufgeben.

Diese Sätze hören sich in den Ohren von Rosas Eltern wie eine kaputte Schallplatte an, wie eine Schleife, sich unendlich wiederholend wie ein Wahn. Sie sind besorgt, wissen nicht, wie sie ihre einzige Tochter zu Vernunft bringen sollen. Der Vater, ein verschlossener, in sich gekehrter Mann, vom Krieg gezeichnet, versucht sein Kind mit Versprechungen zu lenken: er wolle Rosa, seiner Tochter jetzt schon alles geben, ihr sein ganzes Vermögen hinterlassen, jetzt schon sie glücklich sehen. Rosa schweigt. Sie sei glücklich, wenn ihre Eltern sie gehen ließen, sagt sie. In den Orden. Zu den Salvatorianerinnen.

Die Eltern weinen, segnen sie, und dann lassen sie ihre Rosa ziehen..

Mit 17 tritt Rosa in den Orden der Salvatorianer ein und nimmt einen neuen Name an. Es ist der Name eines italienischen Mädchens, das gerade im Vatikan heilig gesprochen wird. Maria Goretti, die Märtyrerin, die um ihre Unschuld gekämpft hat bis zum Tod, ist ab jetzt ihr Vorbild.

 Stimme der Stille

 Rosa kam ein Jahr bevor der Krieg ausbrach in Plattling bei Passau zur Welt als erstes, als erwünschtes, mit „Liebe und Freude umarmtes“ Kind.

Ihr Vater muß an die Front. Das Kind erinnert sich an ihn kaum. Maria erinnert sich an Wiesen, Wälder, Bäche. Das schöne grüne Bayern, ihre Heimat taucht immer wieder in ihren Träumen auf. Auch die Tränen ihrer Mutter, ihr Zittern als die Schüsse, „die Donner des Krieges“, zu ihnen nach Bayern kamen. Der Vater kam aus dem Krieg wie gebrochen. Das lebendige, aufgeweckte Kind fühlt sich manchmal sehr einsam, eingequetscht zwischen den schweigsamen Eltern, der besorgten Mutter und dem traurigen Vater, träumt Rosa manchmal von einer großen Familie. Sie will 12 Kinder haben.

Doch dann hört sie in der Stille des Schweigeklosters diese Stimme und folgt ihr. Sie verlässt ihre Eltern und  und wandert, wie von ihr verlangt, von einem Kloster des Ordens zum nächsten. Sie entdeckt die Bundesrepublik kreuz und quer. Im Allgäu, auf ihrer ersten Station, beginnt sie, in einem Kindergarten zu helfen. In Schweinfurt arbeitet sie in einem Krankenhaus als Pflegehelferin. In Horrem bei Köln wird sie Postulantin, Nonne auf Probe. Ein Jahr später legt sie in Köln ihr Gelübde ab.

Als Ordensschwester dient sie in den nächsten vier Jahren in Westfalen. In Warburg wird sie das „Mädchen für alles“. Sie hilft, wo sie gerade gebraucht wird: in der Küche, Wäscherei, im Garten, bei der Erziehung der Heimkinder.

Die Arbeit mit den Kindern habe ihr so große Freude gemacht, sagt Maria, dass daraus ihr Beruf wird. In Dortmund hat sie in den 60-er Jahren ihre Erzieherinnenausbildung absolviert und wird nach Kall in der Eifel in ein Internat versetzt. Hier findet sie ihre Berufung. Sie erzieht in den nächsten 30 Jahren 177 Kinder: schwer erziehbare Kinder, Kinder aus schwierigen, zerrütteten Familienverhältnissen, Kinder von alkohol-und drogenabhängigen Eltern, Kinder, die viel Leid und Gewalt erlebt und gesehen haben, Kinder die wenig Liebe gespürt haben, Kinder die keiner will.

Marias 177 Kinder

Marias ganze Freude, Marias ganze Sorge, Marias Leben: Die Kinder. Keine zwölf eigenen, wie sie sich das als junges Mädchen gewünscht habe. Dafür 177 Heimkinder! Jungs im Alter von 12 bis 14: verlassen, misshandelt, empfindsam, traurig, aggressiv, zart.

„Alle Geschöpfe Gottes“, sagt sie.

Sie habe sie herzlich empfangen und geduldig getröstet, unterrichtet, motiviert, ihnen geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Mit jedem einzelnen habe sie gelitten, gehofft und sich gefreut.

Am Anfang, als sie ins Internat kam, sei sie noch jung gewesen. Der Ton im Internat war streng, barsch und autoritär. Die Kinder sollten mit Regeln und Rute gerade gebogen werden und wurden „mit fester Hand“ gezüchtigt. Sie sei grundsätzlich immer dagegen gewesen. Sie sei mit den Kindern milder, freundlicher umgegangen, habe sie angelächelt, ihnen vergeben, mit ihnen geredet, an sie geglaubt.

„Laissez-faire“ kontra autoritär

In den Siebzigern sei es dann zu großen Veränderungen in den deutschen Internaten gekommen. „Über Nacht und per Gesetz“.  Der Erziehungsstil verwandelte sich in ein „Laissez-faire – lass jonn!“. Und habe die Kinder machen lassen, was sie wollen.

„Auch falsch!“ meint Maria, die erfahrene Erzieherin. Die Kinder hätten sich beschwert, niemand interessiere sich für sie, hätten sie gesagt. Überhaupt keine Regel, überhaupt keine Strenge täte den Kinder genauso wenig gut wie „zu viel Strenge, zu viel Rute, zu viele Regeln“. Kinder suchten Halt.

„Und was Kinder vor allem brauchen ist die Liebe!“ sagt Maria. „Wenn sie Liebe spüren, wenn sie sich auf jemanden verlassen können, dann können ihre schlimmsten Verletzungen geheilt werden. Dann verändern sich Kinder, werden fröhlicher, entspannter.“

Maria Gorretti wird bald Leiterin des Internates und arbeitet dort bis zur Pensionierung.

Zweifel und Pflege

Ob Sie Zweifel gehabt habe, die richtige Entscheidung damals getroffen zu haben, frage ich.

„All diese Jahre…?“

„Zweifel? Naja… wer hat keine Zweifel?!“ sagt Maria.

Die Zweifel gehörten zum Glauben. Für ihre Entscheidungsfreude sei sie sehr dankbar. Die Entscheidung sei weniger wichtig als ihre „Pflege“. Egal was man im Leben entscheidet, man müsse es „pflegen“. Wer heirate, Kinder habe, solle das pflegen. Genau wie die Entscheidung für den Orden.

„Alles braucht Pflege. Ohne Pflege geht alles kaputt.“

Maria glaubt, dass nichts verloren gehe, was man pflege. Es bleibe für immer.

„In diesem oder in einem anderen Leben.“

An das ewige Leben glaube sie selbstverständlich!

„Wir Menschen haben den Himmel auf der Erde. Unser Schöpfer hat uns die Fähigkeit gegeben, aus Himmel und Erde alles zu schaffen. Gott hat uns den freien Willen dazu gegeben! Voilà“.

Schmerztabletten

Aus dem Internat Kloster Steinfeld ist heute ein schickes, topmodernes Gästehaus geworden, in dem Geschäftsleute, Hipster und Künstler Ruhe und Inspiration suchen. Maria Goretti Augustin, 78, genießt ihre Gesellschaft.

Sie freue sich, von ihnen „frische, windige Energie“ zu bekommen und ihnen etwas von ihrer „Ruhe, Liebe und Freude“, die sie in all diesen Jahren im Dienste Gottes für die Menschheit gewonnen habe, „im Gegenzug“ zu geben. Und sie freue sich und sei Gott dankbar, dass das Kloster dank eines tüchtigen Geschäftsmannes, „einem aus der Gegend“, und seinem Manager, der als Kind im Kloster zur Schule gegangen sei, jetzt weiterhin existieren könne und sie und ihre drei Mit-Schwestern und die neun Patres da leben und beten lasse.

„Mit Geduld, Freude und Dankbarkeit“, trage Maria alle ihre Kreuze. Sie erzählt von ihrem Brustkrebs, der Operation, der Chemotherapie, den Bestrahlungen, der Prothese, einem Fahrradsturz, einem Hund, der sie gebissen habe, gerade als sie sich von den Strapazen der Krankheit erholt hatte, mit einem Lächeln. Ich traue meinen Ohren nicht und glaube etwas falsch verstanden zu haben.

„Aber das muss doch alles furchtbar wehgetan haben. Wie kommen Sie mit Schmerzen klar? “

„Ach, Schmerzen…! Es gibt so wunderbare Schmerzmittel!“, sagt Maria und lacht so herzlich, als ob sie einen guten Witz erzählt hätte.

Ich bin perplex. Alles habe ich erwartet, aber nicht so eine profane Antwort, so unpathetisch, ehrlich, eine, die dazu auch noch stimmt. Ich habe keine Fragen mehr.

Maria Rosa Goretti Augustin, „die gute Seele“ vom Steinfeld Kloster, wie alle im Kloster die Schwester nennen, habe vor 60 Jahren einen „Deal mit dem Herren“ abgemacht. Sie diene ihm und allen seinen Geschöpfen, „ohne wenn und aber“, leidenschaftlich, ehrlich, geduldig, und ER trägt dafür all ihre Ängste, beruhigt ihre Zweifel, stillt ihre Schmerzen. Mit Schmerztabletten, wenn es sein muss.

„Dank sei dem Herren dafür.“

Mehr von Slavica Vlahovic

16:35 Uhr Essen-Altenessen Kaiser-Wilhelm-Park

„Opa, spielst du bitte mit?“

Ein Mädchen in weißem Sommerkleid und bunten Tüchern an den Handgelenken legt beide Hände auf die Schultern eines älteren Mannes, der auf einer Bierbank sitzt. Hinter ihm türmt sich ein bunter Kreidehaufen, Kinder und Erwachsene malen Häuser und Mandalas auf den Asphaltboden. Andächtig und konzentriert, so scheint es, wie alle an diesem Tag im Kaiser-Wilhelm-Park. Der Mann nimmt die kleinen Hände seiner Enkeltochter und schüttelt den Kopf.

„Ach, bitte. Jeder kann das.“
Die Antwort ist schroff: „Ich nicht.“

Auf der Wiese hinter dem Mädchen stehen Kinder mit ähnlichen Tüchern an den Handgelenken, sie rufen. Das Mädchen löst sich von ihrem Großvater und rennt los. In einer Gruppe stehen sie nun zusammen, auch Erwachsene sind dabei. Sie sprechen sich kurz ab, dann laufen sie im Kreis, machen Flugbewegungen mit den Tüchern. Das Konzept bleibt unklar, aber ein Luftballon in Form eines Delfins begleitet den Wiesentanz. Das macht es dann wieder stimmig. Der Großvater starrt derweil auf den Kreidehaufen. 16:39 Uhr



>Tag im Park, Essen-Altenessen<

Alles für Alle. ©mhu
Alles für Alle. ©mhu
Das Netzwerk X ist ein Verbund aus über 50 KünstlerInnen-Gruppen. Das Netzwerk setzt sich für die Stärkung des Kunst- und Kulturbetriebs im Ruhrgebiet ein. Es gibt monatliche Netzwerktreffen, zu denen alle Interessierte eingeladen sind. Über 100 KünstlerInnen nahmen am diesjährigen „Tag im Park“ in Altenessen teil. „Tag im Park“ versteht sich als genrefreies Kunstfestival. 2016 fand die Veranstaltung zum ersten Mal statt.

 

Mehr von Melanie Huber