04:27 Uhr, Großmarkt Dortmund

Nachts sind alle Städte schön. Nur nachts möchte ich sein, durch Straßen streifen, Fahrtwind spüren und keinen Gegenverkehr. Kälte in Zuneigung verwandeln und in ein Ich, das schaut, sammelt und sich lässt. Alles mit sich machen lässt – und die Welt annimmt, wie sie ist.

Auf dem Großmarkt in Dortmund muss man die Welt annehmen, wie sie ist. Diese Welt aus Fischen und Früchten, aus Hubwagen und Kisten. Aus Männern hinter Pulten und Männern unterm Scheffel. Stilisierte Frauen werben still für Äpfel, Physalis und Bananen. Das Eigentliche findet in den Hinterzimmern statt. Geschäftiges Misstrauen in den Blicken, wer sind die, was wollen die, Großkunden sehen anders aus. Anekdoten über Händler, die sich mit Kunden streiten. Ich habe dich beim Nachbarn gesehen, zu mir musst du nicht mehr kommen. Streng reglementierte Besitzverhältnisse und ein Verständnis von Jovialität, das dem Jetzt nicht mehr entspricht. Jede Halle ist einem eigenen Regiment unterworfen, das Obst ist träge. Es wird in Kulturen unterschieden, gedacht und gehandelt – eine vertane Chance; auch Suppe ist eine Option, um fünf Uhr morgens. Gegen die Entwicklungen in der Branche fühlt sich niemand mehr gewappnet. Allein sitzt der Mann in seinem Häuschen im Containerverschlag, der für die Wertstoff-Sortieranlage genutzt wird. Er sitzt schon lange da, und wird es noch eine Weile tun. Hinter den Hallen erinnern Gleise an einst genutzte Transportwege. Verkehrsschilder hängen schief. Und dann ist da der Wendekreis.

Am Wendekreis endet die Welt, und sie beginnt. Jemand hat sein Fahrrad dort abgestellt, ein anderer Paletten. Danach geht es zurück, immer wieder. Der Gedanke daran ist das schönste Bild. 04:58 Uhr



>Großmarkt Dortmund<

Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Vielleicht muss man bald von einem Relikt sprechen, denn die (inter-)nationalen Marktstrukturen sprechen mittlerweile eine andere Sprache: Wie ein Großmarkt im wörtlichen Sinn fühlt sich der Großmarkt Dortmund nicht mehr an. In eine andere Welt taucht man trotzdem ein.
So, wie der Großmarkt heute ist, gibt es ihn seit 1951/1952 auf dem Bundesgelände am Bahnhof Dortmund Süd. 1976 gründete sich die Großmarkt Dortmund Genossenschaft, seither betreiben ansässige Unternehmen den Markt selbstständig. Der Dortmunder Großmarkt ist einer der zehn größten Märkte in Deutschland (es gibt insgesamt 25), aktuell sind 23 Händler dort tätig. Bei dem Großmarkt handelt es sich um einen Frischemarkt. Es werden Obst und Gemüse, Frischfisch, Fischwaren, verpackte Lebensmittel, Frischfleisch, Kartoffeln und Zwiebeln verkauft. Daneben gibt es eine Bananen-Reiferei, Kühlhäuser und Lager. Der Großmarkt versorgt nach eigenen Angaben in einem Radius von 200 Kilometer etwa 3 Millionen Einwohner.

 

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Die Stadt der Utopisten

Utopist, der
Wortart: Substantiv, Maskulin
Bedeutungsübersicht: Jemand, der utopische Pläne und Vorstellungen hat;

Synonyme: Anarchist, Revolutionär, Schwärmer, Träumer, Fantast

Man muss schon sagen, ginge es nach dem Duden, spricht nicht allzu viel für das Dasein eines Utopisten. Er oder sie, werden dem Fantasten gleichgesetzt, einem Menschen, der zwischen Wirklichkeit und Wunschvorstellung nicht unterscheiden kann. Die Anzahl eben dieser sollte man möglichst klein halten, zum Beispiel mit der Schultüte. Ach, die Schultüte, wie könnte es passender sein, ein Trichter. Erst kommen noch ein paar Süßigkeiten, doch schon bald wird der Geist mit der Realität zwangsernährt.
Davon lassen sich die Wuppertaler nicht beeindrucken, sie beweisen, dass aus dem Spagat zwischen Wunschvorstellung und Realität erst eine Utopie und dann Tatsachen werden können.

Beweisstück A: Bahnhof Wuppertal-Mirke. 1882 erbaut und auch heute noch schön wie eh und je. Selbstverständlich mit typisch Bergischer Schieferfassade. Das der Bahnhof in diesen Tagen genutzt wird, ist jedoch nicht selbstverständlich, gut 20 Jahre stand er leer.
Wir betreten die Eingangshalle und stoßen auf den Charme jener Industriellen Revolutionsjahre, doch kein Mensch wartet hier auf einen Zug, höchstens auf den Kaffee. Gehen wir einmal quer durch den Raum und raus auf den Bahnsteig.

Beweisstück B: Die stählernen Dampfkolosse wurden längst durch zweizylindrige Drahtesel ersetzt. Die Nordbahntrasse, ehemals Verbindungsglied zwischen Düsseldorf und Dortmund, lag ebenfalls lange brach. Solange bis die Wuppertaler das Zepter in die Hand nahmen. Aus einem 23 Kilometer langen Abschnitt der stillgelegten Bahnstrecke wurde in Wuppertal ein Radweg, Mensch und Natur sind hoch erfreut. Hefeweizen und Schweiß statt Kohle und Wasserdampf.

Wuppertal mit Volldampf in die Zukunft? Es scheint fast so, die Utopisten sind los und machen ihrem, in Verruf geratenem Namen, alle Ehre.

Zunächst jedoch ein kleiner Rückblick in die Vergangenheit: Ein jeder weiß über die Textilindustrie Wuppertals bescheid, die es zum „Manchester Deutschlands“ machte. Hervorzuheben ist dabei vor allem der Wuppertaler Johann Gottfried Brügelmann, jener Herr, der bereits im 18. Jahrhundert das Potenzial maschineller Produktion erkannte und einen Freund zum Spionieren nach England schickte. Der Rest ist Geschichte, in Ratingen erfolgte das Copy-Paste-Verfahren, die erste Webmaschine auf europäischem Festland und ein Grundstein für die Industrielle Revolution war gesetzt.
Als diese gut fünf Jahrzehnte später in vollem Gange war, kam ein anderer Wuppertaler mit einer ganz anderen Sicht der Dinge. Kein Geringerer als Friedrich Engels sah die Schattenseiten einer auf Effizienz und Wachstum basierenden Produktion der Maschinen und schrieb mit seinem Kumpel Karl Marx eine der berühmtesten Utopien: jene zur klassenlosen Gesellschaft. (kurz gesagt wollten die beiden Fischen, Jagen und Viehzucht betreiben, ohne überhaupt etwas davon gelernt zu haben.)

Und jetzt spannen wir einen Bogen von Brügelmann und Engels zum Mirker Bahnhof? So ist es! Denn dieser wurde durch den 2011 gegründeten Verein «Utopiastadt» mittels Spenden, wie Fördergeldern revitalisiert und zum Treffpunkt für kreative und kulturelle Stadtentwicklung gemacht. Die Mitglieder beschreiben den Ort nun als ein «Stadtlabor für Utopien», ebenfalls mit dem Namen «Utopiastadt».
Ähnliches geschah mit der bereits erwähnte Nordbahntrasse durch den Verein «Wuppertal Bewegung».

Bevor sich diese Bürgerinitiativen dem Mirker Bahnhof und der Trasse angenommen hatten, stand das Gebäude brüchig und leer in der Gegend herum und die Gleise nicht zu gebrauchen. Die Industrialisierung hat sich selbst den Schwanz abgebissen, Europa hat bezüglich Textilindustrie gewissermaßen den roten Faden verloren.
Die Zeit war also mehr als reif für Utopisten und diese haben allerhand innovative Ideen für die Zukunft:
Hier gibt es Atelier- und Agenturräume, eine Gemeinschaftswerkstadt, Fahrradreparatur und kostenloser Verleih, ein Stadtgarten statt Betonwüste und flexibles Co-Working statt nine-to-five in der Großraumbürozelle. Man schreibt sich Nachhaltigkeit, Ökologie und Ökonomie auf die Fahne, legt Wert auf bürgerliches Engagement und nicht zuletzt: kulturelle und politische Mitgestaltung. Ein Stadtlabor für Utopien eben.

Stadtgarten des Vereins Utopiastadt ©DMW

Der dringenden Bedarf an Menschen, die sich ehrenamtlich für unsere Zukunft engagieren, wird insbesondere dann sehr deutlich, wenn wir uns die vermeintlichen Utopien der heutigen Zeit anschauen: beispielsweise jene der Wirtschaft, des kalifornischen Silicon Valley, das drauf und dran ist, die Industrielle Revolution in den fünften Akt zu befördern, wobei noch nicht ganz entschieden ist, ob es sich um ein Drama oder eine Komödie handelt. Oder den ganz offensichtlichen Mangel an Utopien in der Politik, die vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht und eben diesen kurzerhand abholzt.

Und während wir, als Folge der rasenden Geschwindigkeit, mit der die Erde in diesen Tagen rotiert, in eine eigenartige Schockstarre fallen, packen die Wuppertaler es an. Bemerkenswert. Utopien sind vielleicht wichtiger denn je, denn nehmen wir das Träumen nicht in die Hand, geben andere die Richtung vor, und im Nachhinein beschweren nicht nur zwecklos, sondern fahrlässig.
Also los geht’s: Suchen Sie sich gefälligst Ihre eigene Utopie!


*Brügelmann und Engels stammen aus verschiedenen Stadtvierteln Wuppertals, die damals noch nicht zueinander gehörten und, worauf  ich aufmerksam gemacht wurde, einander nicht sehr nahe standen. Stadtviertelgrenzensprengung: Meine Utopie.
Die beiden bleiben Wuppertaler für mich. Genauere Angaben finden Sie auf Wikipedia und co.. 🙂

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21:51 Uhr, Essen PACT Zollverein

In den Mulden liegen Seifenreste, fein trapiert für Staunende. Sauberkeit als sinnliches Moment, weißkachelige Emotionen – ein Ort für Menschen ohne Makel, weiche Haut und fließenden Bewegungen. Im Aufführungssaal wird Kontrast gewollt: absolute Dunkelheit, bizarre Schreie, Reenactement am fremden Leib. Eine Verausnahmung des Körpers, des Frauseins, der Witz damit und Brüste, die, schmerzhaft rotierend, Bezüge aushebeln wollen – aber so ganz gelingt es nicht; selbst darin sind die Menschen schön.

Der Weg nach draußen wird fast zur Flucht, eine Flucht aus dem ästhetisch Perfekten, aus der weißfarbigstrahlenden Reinheit. Einkacheln könnte man sich hier, der Wille ist stark, die Umgebung natürlich – aber man selbst? Schweiß, Schmutz, schwarze Gedanken. Was auf der Bühne heraufbeschworen werden wollte, wird nie wirklich ankommen in dieser Welt, nur noch namentlich bekannt als Waschkaue. Die Reinkarnation ist bereits vollzogen, egal, wie oft Canaille gerufen wird.

Wie traurig das Aufatmen nach dem Verlassen des schönsten Ortes, die unbedingte Suche nach dem alltäglichen Kontrast. Der auch eintritt, unmittelbar: In einem matt-grauen BMW vor dem Eingang sitzt ein Mann, der bei heruntergelassenem Fenster Clubmusik hört, dabei nervös mit dem Kopf wippt, während – filmisch perfekt – weitere sechs Männer um die Ecke kommen, Bauarbeiterhelme und Sicherheitswesten tragen, und an dem fein gekleideten Premierenpublikum vorbeigehen. Niemand schaut, jeder ist für sich in seiner Gruppe und doch berühren sie einander. Das ist Schönheit. 21:58 Uhr


Waschkaue

Umkleide- und Waschraum auf einer Zeche. In der Regel besteht eine Waschkaue aus zwei etwa gleich großen Räumen, der Weißkaue und der Schwarzkaue. In der Weißkaue kam die Straßenkleidung der Bergleute unter, in der Schwarzkaue die Arbeitskleidung. Entsprechend kann man sich den Sauberkeitsgrad der Körper der Bergleute (vor der Schicht, nach der Schicht) vorstellen.


>PACT Zollverein<

Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue von Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue der Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Seit Anfang der 1990er Jahre wird die ehemalige Waschkaue der Zeche Zollverein als Aufführungsort für zeitgenössischen Tanz genutzt. Es ist das choreographische Zentrum NRWs, und das merkt man auch. Toller Ort, tolle Atmosphäre – und gute Stücke. Bei meinem Besuch habe ich die Uraufführung aus der Monument-Reihe von Eszter Salamon gesehen: „Monument 0.5: The Valeska Gert Monument„, eine historisch-empirische Aufarbeitung des Lebens der avantgardistischen Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert (1892-1978). Foto Titelbild: Ursula Kaufmann

 

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Wie Kiezgrößen entstehen – Eine Gebrauchsanweisung

Nimm ein Viertel, nicht groß. Ein Viertel kann schon eine Straße sein. Das ist legitim, ist mir mehrfach untergekommen. Wer das Ziel hat, schnell Bekanntheit zu erlangen, der suche sich am besten ein Ein-Straßen-Viertel. In der Straße sollte man aber nicht wohnen. Man hat ja nicht immer Muße, erkannt zu werden. Eine Wohnung in einer Nebenstraße ist oft günstiger und verstärkt das Mysterium um einen selbst (wo wohnt er/sie bloß?) und damit – natürlich – den Bekanntheitsgrad.

Wichtig ist es, so schnell wie möglich andere Kiezgrößen ausfindig zu machen. Den Kontakt sollte man nicht scheuen, es geht um alles. Und dann geht es auch erst mal so: Andocken, integrieren, absorbieren lassen. Dabei sein, also oft. Sich aber auch rar machen. Nicht zu oft, aber oft. Empfehlenswert ist es, sich in zeitlichen Schüben zu zeigen: Mal eine Woche täglich, dann wieder Tage nicht mehr. Zu Veranstaltungen oder Kneipeneinladungen erst auftauchen, wenn die anderen bereits angeheitert, aber noch nicht allzu betrunken sind. So entstehen Freundschaften, das hat etwas mit Spatien zu tun. Das ist lateinisch und bedeutet Zwischenräume. Kommt nicht von mir, hab ich mir von einem Freund geliehen. Was den Sympathiewert erhöht: Wortschatz des anderen annehmen. Aber: nicht alles. Gerne auch mal ironisch brechen, aber nicht übertreiben. Gleiches gilt für das Angehen gemeinsamer Projekte: Entgegenkommen, zum Teil. Dann klar formulieren, was man will. Dann machen.

Für den Nervenkitzel und vor allem für den eigenen Spaß: Improvisationsmomente zulassen. Nicht alles durchdenken, nicht alles verplanen. Dinge passieren lassen. Vom Hörensagen leben, das kommt dann schon.

Die anderen Kiezgrößen nicht verdrängen. Man lebt in friedlicher Koexistenz, eine Unterscheidung in den Künsten ist zu empfehlen. Nicht das gleiche machen wie die etablierte Größe. Was auch immer die jeweilige Kiezgröße so Besonderes kann, das kann nämlich alles sein. Von der Marke „verkannter Musiker“ über „verkannter Kunstlehrerkünstler“ bis hin zum Viertel-Juristen, der aussieht wie ein französischer Schauspieler und auch so guckt und der auch noch genauso leger über die Straße läuft in seiner ockerfarbenen Bluson-Jacke und diesem melancholisch-kecken Ausdruck in den Augen und seinen Haaren und … Nun gut.

Man sollte in jedem Fall genau beobachten und dann: was zusammen machen. Funktioniert nicht immer mit dem Wunschkandidaten, aber man sollte am Anfang nicht wählerisch sein. Das gleiche gilt für Straßen-Bekanntschaften: Alle Menschen grüßen, die man kennt und an einem im Viertel vorbeilaufen. Kurz quatschen. Drei Minuten aber maximal, dann weiter.

Das alles durchziehen für eine x Zeit, dann aber auch wissen, dass man gehen muss. Auch, wenn es schwer fällt. Sehr schwer. Zum Heulen schwer.

Je Viertel schaffen es immer nur ein bis zwei Kiezgrößen auf Dauer. Man kann davon ausgehen: Man selbst ist es nicht. Deswegen: fluktuieren, andere Viertel finden. Noch mal von vorne anfangen.

Bis dahin, eigene Erfolge wie folgt feiern:

den Kleidungsstil ändern, leicht aber nur. Bloß nicht zu viel. Das gleiche bei Bewegungsabläufen, Mimik und Gestik. Menschen in die Augen schauen. Scham ablegen. Draußen essen. Alleine unterwegs sein. Promenieren, im wörtlichen Sinn. Lesen. Schweigen.

Und: sich in Ruhe anschauen lassen.

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03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

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Vergangenheit oder Zukunft?

Ich stehe vor einer Familie, der besonderen Art. Eine Mutter, ein Vater und ein Kind. Sie tragen alle moderne Kleidung und haben dabei ideale Maße. Die drei haben sehr markante, schöne Gesichter, die Frisuren sitzen. Schaut man zu lange hin, möchte man etwas kaufen. Doch es fällt auf, keine der Schaufensterpuppen lächelt, nur ein müder Blick und dann spricht der Konsum in ernsten Worten zu uns.

«Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?»

«Ja, lassen Sie mich in Ruhe!»

Nicht nur in den Ladengeschäften wird man mit dieser Modellwelt konfrontiert, alle paar Meter finden sich auf den Gängen der heiligen Hallen des Allee Centers kleine Inseln, hier wie da, das gleiche Bild.

Diesem Bild entspringt jedoch ein Kontrast, denn wir befinden uns nicht in irgendeiner Parallelwelt, sondern im von den Remscheidern liebevoll als Rollator-City getauften Einkaufszentrum. Und während dort einerseits die Zukunft zu uns spricht, in Form der nächste Winterjacke und des trendigen Kaschmirschals aus dem indischen Himalaja, da spricht auch die Vergangenheit zu uns und schiebt vierrädrige Stützgestelle vor sich her.

Übersee dachten sich die windigen Amerikaner in den 1950er Jahren das Konzept der Mall aus: Mit dem Auto von der eigenen Haustüre bis zur Pforte des Einkaufszentrums und unter einem Dach den ganzen Konsumrausch durch die Adern jagen.

Und der Amerikaner sah, dass es gut war. Er exportierte das Modell „Mall“ in alle Ecken dieser Welt, einmal stand ich in einer in Thailand, eine klimatisierte Oase im Großstadtjungle Bangkoks. In Remscheid sprang der Funke sofort über, der Himmel ist undicht, man geht seine Runden also nun unter Dach und die stummen Vorbildsfamilien schauen einem dabei zu.

Ich treffe Maria, sie ist schon 99 Jahre alt, sie sitzt fast täglich hier und sieht für ihr Alter unheimlich vital aus, hat rosige Backen und trägt ein ordentliches Kostüm. Maria wurde im Kaiserreich geboren. Eine Frau mit grünem Haar läuft an uns vorbei, Maria geht das Herz auf. Damals, erzählt sie, wäre das nicht möglich gewesen, da war es Frauen nicht einmal erlaubt zu rauchen. Vielleicht ist das ihr Geheimnis für ein langes Leben. Viel Bewegung gehöre aber auch dazu. Dafür eignet sich das Allee-Center vortrefflich, bei Wind und Wetter, hier trifft man sich und kann beobachten. Einkaufszentren, der lang gesuchte Jungbrunnen?

Das ginge nun zu weit, aber eine Symbiose bilden sie schon, die älteren Menschen und das Einkaufszentrum. Sind wir jetzt in der Zukunft oder in der Vergangenheit?

Doch ich möchte natürlich mehr von Remscheid sehen und die Parallelwelt Einkaufszentrum schaut ja doch überall gleich aus. Also hole ich mir ein Bier im Real und folge den Infoschildern zum Ausgang.

Die Allee Straße liegt zu Füßen des Einkaufszentrums und strotzt weniger vor Leben. Über den wenigen Menschen, die sich hier tummeln, hängen Regenschirme, der Anblick ist nett. Zu beiden Flanken der Allee stehen die Bäume häufig vor verschlossener Türe. In der Spiegelung der Scheibe steht der Baum ein zweites Mal, hinter der Scheibe nichts. Ein Dönerladen dreht kein Fleisch mehr im Kreis und auch die Händchenrotation hat ein Ende gefunden. Die übrig gebliebenen Geschäfte, es ist ein trauriges Fazit, sind ebenfalls allerorts die gleichen. Darunter jene Läden, die ihr Glück nur für einen Euro in die Welt tragen, außerdem Banken, Mobilfunkexperten, Wettbüros, Friseure und nicht zu vergessen, ein wenig individueller: Eiscafés.

Bei mir hat das Konzept von Eiscafés bereits als Kind nicht so recht eingeschlagen, also lange bevor ich Kaffee zu schätzen wusste und noch gerne Eis aß. Plastikstühle, Plastiktischdecke und ein viel zu langer Löffel, der nach Metall schmeckte. Das ist meine erste Erinnerung an Eiscafé Riviera. Was ich immer gut fand, waren die italienischen Ladenbesitzer und deren überzeugende, wie übertriebene Herzlichkeit; als sei eben alles Spaghettieis. Und außerdem, was zählt schon meine Meinung? Denn spaziert man die Alleestraße zum Markt, stellt man fest, dass diese Eiscafés quasi the last man standing sind. Während überall Ladenlokale und Geschäfte jeder Art schließen, floriert das Geschäft mit der Kaltspeise und die Leute essen fleißig weiter aus der Waffel und lassen sich das Dolce Vita eintrichtern.

Das Schicksal Leerstand teilen viele Städte, der Einzelhandel unterliegt, wie viele andere Aspekte unseres Lebens, einem enormen Wandel. Den neuseeländischen Apfel kauft man beim Discounter. Die neuste Jeans bei Maria im Einkaufszentrum. Die mit dem Mobilfunktelefon gesteuerte Flug Drohne im Online-Buchhandel. Und als sei das nicht schon schlimm genug, kommt noch dieser demographische Wandel dazu: Die Gesellschaft wird älter und die Jungen ziehen weg. Die gute alte Einkaufsstraße schreit verzweifelt um Hilfe. Was kann man tun?

Das fragt sich auch StadtBauKultur NRW, ein gemeinnütziger Verein und eine Initiative des Landes in Zusammenarbeit mit Berufsverbänden. Also tauche ich ein, nehme an einer Führung der aktuellen Ausstellung in der Alleestraße teil und verliere mich schnell in wohlklingenden Sätzen. Als eine gute Stunde vorbei ist, stehe ich mit einigen Visitenkarten in der Hand und nachhallenden Abkürzungen und Fachjargon im Kopf alleine auf der Allee Straße; es ist kalt. Auf dem kleinen Prospekt, das man mir gab, steht in weißen Lettern auf blauem Grund der Slogan: Gute Geschäfte. Was kommt nach dem Einzelhandel? Die Frage bleibt unbeantwortet. Nicht, das sie einfach zu beantworten sei, geht es jedoch um einen Wandel und die dazu benötigte Flexibilität, ist die Politik vielleicht nicht der beste Ansprechpartner.

Und der Wandel ist nicht zu leugnen: Die Abwanderung, vor allem jener wichtigen 25-45 Jährigen, nahm stetig zu und hätte Remscheid bald unter die Grenze einer Großstadt mit 100.000 Einwohner zurückgeworfen. Wäre da nicht die Migration. Sie haben richtig verstanden! Einwanderung – Positiv. Man muss es heut zutage wohl so klar sagen.

Denn seit dem Jahr 2012 federn Menschen mit Migrationshintergrund, die nach Remscheid ziehen diesen Einwohnerschwund ab und führten 2014 erstmals wieder zu einem positiven Wandersaldo, also mehr Ein- als Auswanderung.

Nun ja, ich stehe also auf der Alleestraße, habe alle das im Kopf und eine Familie läuft an mir vorbei, sie sprechen türkisch, die zwei Kindern sind aufgeweckt. Auf dem Rückweg zum Auto gehe ich in Richtung des Allee Centers und komme noch einmal an den Leerständen vorbei. Auf halber Strecke fühle ich mich, als sei ich zwischen die Vergangenheit und die Zukunft geraten, die beiden ziehen an mir und die Gegenwart schaut hilflos dabei zu.

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