Die Stadt der Utopisten

Utopist, der
Wortart: Substantiv, Maskulin
Bedeutungsübersicht: Jemand, der utopische Pläne und Vorstellungen hat;

Synonyme: Anarchist, Revolutionär, Schwärmer, Träumer, Fantast

Man muss schon sagen, ginge es nach dem Duden, spricht nicht allzu viel für das Dasein eines Utopisten. Er oder sie, werden dem Fantasten gleichgesetzt, einem Menschen, der zwischen Wirklichkeit und Wunschvorstellung nicht unterscheiden kann. Die Anzahl eben dieser sollte man möglichst klein halten, zum Beispiel mit der Schultüte. Ach, die Schultüte, wie könnte es passender sein, ein Trichter. Erst kommen noch ein paar Süßigkeiten, doch schon bald wird der Geist mit der Realität zwangsernährt.
Davon lassen sich die Wuppertaler nicht beeindrucken, sie beweisen, dass aus dem Spagat zwischen Wunschvorstellung und Realität erst eine Utopie und dann Tatsachen werden können.

Beweisstück A: Bahnhof Wuppertal-Mirke. 1882 erbaut und auch heute noch schön wie eh und je. Selbstverständlich mit typisch Bergischer Schieferfassade. Das der Bahnhof in diesen Tagen genutzt wird, ist jedoch nicht selbstverständlich, gut 20 Jahre stand er leer.
Wir betreten die Eingangshalle und stoßen auf den Charme jener Industriellen Revolutionsjahre, doch kein Mensch wartet hier auf einen Zug, höchstens auf den Kaffee. Gehen wir einmal quer durch den Raum und raus auf den Bahnsteig.

Beweisstück B: Die stählernen Dampfkolosse wurden längst durch zweizylindrige Drahtesel ersetzt. Die Nordbahntrasse, ehemals Verbindungsglied zwischen Düsseldorf und Dortmund, lag ebenfalls lange brach. Solange bis die Wuppertaler das Zepter in die Hand nahmen. Aus einem 23 Kilometer langen Abschnitt der stillgelegten Bahnstrecke wurde in Wuppertal ein Radweg, Mensch und Natur sind hoch erfreut. Hefeweizen und Schweiß statt Kohle und Wasserdampf.

Wuppertal mit Volldampf in die Zukunft? Es scheint fast so, die Utopisten sind los und machen ihrem, in Verruf geratenem Namen, alle Ehre.

Zunächst jedoch ein kleiner Rückblick in die Vergangenheit: Ein jeder weiß über die Textilindustrie Wuppertals bescheid, die es zum „Manchester Deutschlands“ machte. Hervorzuheben ist dabei vor allem der Wuppertaler Johann Gottfried Brügelmann, jener Herr, der bereits im 18. Jahrhundert das Potenzial maschineller Produktion erkannte und einen Freund zum Spionieren nach England schickte. Der Rest ist Geschichte, in Ratingen erfolgte das Copy-Paste-Verfahren, die erste Webmaschine auf europäischem Festland und ein Grundstein für die Industrielle Revolution war gesetzt.
Als diese gut fünf Jahrzehnte später in vollem Gange war, kam ein anderer Wuppertaler mit einer ganz anderen Sicht der Dinge. Kein Geringerer als Friedrich Engels sah die Schattenseiten einer auf Effizienz und Wachstum basierenden Produktion der Maschinen und schrieb mit seinem Kumpel Karl Marx eine der berühmtesten Utopien: jene zur klassenlosen Gesellschaft. (kurz gesagt wollten die beiden Fischen, Jagen und Viehzucht betreiben, ohne überhaupt etwas davon gelernt zu haben.)

Und jetzt spannen wir einen Bogen von Brügelmann und Engels zum Mirker Bahnhof? So ist es! Denn dieser wurde durch den 2011 gegründeten Verein «Utopiastadt» mittels Spenden, wie Fördergeldern revitalisiert und zum Treffpunkt für kreative und kulturelle Stadtentwicklung gemacht. Die Mitglieder beschreiben den Ort nun als ein «Stadtlabor für Utopien», ebenfalls mit dem Namen «Utopiastadt».
Ähnliches geschah mit der bereits erwähnte Nordbahntrasse durch den Verein «Wuppertal Bewegung».

Bevor sich diese Bürgerinitiativen dem Mirker Bahnhof und der Trasse angenommen hatten, stand das Gebäude brüchig und leer in der Gegend herum und die Gleise nicht zu gebrauchen. Die Industrialisierung hat sich selbst den Schwanz abgebissen, Europa hat bezüglich Textilindustrie gewissermaßen den roten Faden verloren.
Die Zeit war also mehr als reif für Utopisten und diese haben allerhand innovative Ideen für die Zukunft:
Hier gibt es Atelier- und Agenturräume, eine Gemeinschaftswerkstadt, Fahrradreparatur und kostenloser Verleih, ein Stadtgarten statt Betonwüste und flexibles Co-Working statt nine-to-five in der Großraumbürozelle. Man schreibt sich Nachhaltigkeit, Ökologie und Ökonomie auf die Fahne, legt Wert auf bürgerliches Engagement und nicht zuletzt: kulturelle und politische Mitgestaltung. Ein Stadtlabor für Utopien eben.

Stadtgarten des Vereins Utopiastadt ©DMW

Der dringenden Bedarf an Menschen, die sich ehrenamtlich für unsere Zukunft engagieren, wird insbesondere dann sehr deutlich, wenn wir uns die vermeintlichen Utopien der heutigen Zeit anschauen: beispielsweise jene der Wirtschaft, des kalifornischen Silicon Valley, das drauf und dran ist, die Industrielle Revolution in den fünften Akt zu befördern, wobei noch nicht ganz entschieden ist, ob es sich um ein Drama oder eine Komödie handelt. Oder den ganz offensichtlichen Mangel an Utopien in der Politik, die vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht und eben diesen kurzerhand abholzt.

Und während wir, als Folge der rasenden Geschwindigkeit, mit der die Erde in diesen Tagen rotiert, in eine eigenartige Schockstarre fallen, packen die Wuppertaler es an. Bemerkenswert. Utopien sind vielleicht wichtiger denn je, denn nehmen wir das Träumen nicht in die Hand, geben andere die Richtung vor, und im Nachhinein beschweren nicht nur zwecklos, sondern fahrlässig.
Also los geht’s: Suchen Sie sich gefälligst Ihre eigene Utopie!


*Brügelmann und Engels stammen aus verschiedenen Stadtvierteln Wuppertals, die damals noch nicht zueinander gehörten und, worauf  ich aufmerksam gemacht wurde, einander nicht sehr nahe standen. Stadtviertelgrenzensprengung: Meine Utopie.
Die beiden bleiben Wuppertaler für mich. Genauere Angaben finden Sie auf Wikipedia und co.. 🙂

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Wie Kiezgrößen entstehen – Eine Gebrauchsanweisung

Nimm ein Viertel, nicht groß. Ein Viertel kann schon eine Straße sein. Das ist legitim, ist mir mehrfach untergekommen. Wer das Ziel hat, schnell Bekanntheit zu erlangen, der suche sich am besten ein Ein-Straßen-Viertel. In der Straße sollte man aber nicht wohnen. Man hat ja nicht immer Muße, erkannt zu werden. Eine Wohnung in einer Nebenstraße ist oft günstiger und verstärkt das Mysterium um einen selbst (wo wohnt er/sie bloß?) und damit – natürlich – den Bekanntheitsgrad.

Wichtig ist es, so schnell wie möglich andere Kiezgrößen ausfindig zu machen. Den Kontakt sollte man nicht scheuen, es geht um alles. Und dann geht es auch erst mal so: Andocken, integrieren, absorbieren lassen. Dabei sein, also oft. Sich aber auch rar machen. Nicht zu oft, aber oft. Empfehlenswert ist es, sich in zeitlichen Schüben zu zeigen: Mal eine Woche täglich, dann wieder Tage nicht mehr. Zu Veranstaltungen oder Kneipeneinladungen erst auftauchen, wenn die anderen bereits angeheitert, aber noch nicht allzu betrunken sind. So entstehen Freundschaften, das hat etwas mit Spatien zu tun. Das ist lateinisch und bedeutet Zwischenräume. Kommt nicht von mir, hab ich mir von einem Freund geliehen. Was den Sympathiewert erhöht: Wortschatz des anderen annehmen. Aber: nicht alles. Gerne auch mal ironisch brechen, aber nicht übertreiben. Gleiches gilt für das Angehen gemeinsamer Projekte: Entgegenkommen, zum Teil. Dann klar formulieren, was man will. Dann machen.

Für den Nervenkitzel und vor allem für den eigenen Spaß: Improvisationsmomente zulassen. Nicht alles durchdenken, nicht alles verplanen. Dinge passieren lassen. Vom Hörensagen leben, das kommt dann schon.

Die anderen Kiezgrößen nicht verdrängen. Man lebt in friedlicher Koexistenz, eine Unterscheidung in den Künsten ist zu empfehlen. Nicht das gleiche machen wie die etablierte Größe. Was auch immer die jeweilige Kiezgröße so Besonderes kann, das kann nämlich alles sein. Von der Marke „verkannter Musiker“ über „verkannter Kunstlehrerkünstler“ bis hin zum Viertel-Juristen, der aussieht wie ein französischer Schauspieler und auch so guckt und der auch noch genauso leger über die Straße läuft in seiner ockerfarbenen Bluson-Jacke und diesem melancholisch-kecken Ausdruck in den Augen und seinen Haaren und … Nun gut.

Man sollte in jedem Fall genau beobachten und dann: was zusammen machen. Funktioniert nicht immer mit dem Wunschkandidaten, aber man sollte am Anfang nicht wählerisch sein. Das gleiche gilt für Straßen-Bekanntschaften: Alle Menschen grüßen, die man kennt und an einem im Viertel vorbeilaufen. Kurz quatschen. Drei Minuten aber maximal, dann weiter.

Das alles durchziehen für eine x Zeit, dann aber auch wissen, dass man gehen muss. Auch, wenn es schwer fällt. Sehr schwer. Zum Heulen schwer.

Je Viertel schaffen es immer nur ein bis zwei Kiezgrößen auf Dauer. Man kann davon ausgehen: Man selbst ist es nicht. Deswegen: fluktuieren, andere Viertel finden. Noch mal von vorne anfangen.

Bis dahin, eigene Erfolge wie folgt feiern:

den Kleidungsstil ändern, leicht aber nur. Bloß nicht zu viel. Das gleiche bei Bewegungsabläufen, Mimik und Gestik. Menschen in die Augen schauen. Scham ablegen. Draußen essen. Alleine unterwegs sein. Promenieren, im wörtlichen Sinn. Lesen. Schweigen.

Und: sich in Ruhe anschauen lassen.

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03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

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Vergangenheit oder Zukunft?

Ich stehe vor einer Familie, der besonderen Art. Eine Mutter, ein Vater und ein Kind. Sie tragen alle moderne Kleidung und haben dabei ideale Maße. Die drei haben sehr markante, schöne Gesichter, die Frisuren sitzen. Schaut man zu lange hin, möchte man etwas kaufen. Doch es fällt auf, keine der Schaufensterpuppen lächelt, nur ein müder Blick und dann spricht der Konsum in ernsten Worten zu uns.

«Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?»

«Ja, lassen Sie mich in Ruhe!»

Nicht nur in den Ladengeschäften wird man mit dieser Modellwelt konfrontiert, alle paar Meter finden sich auf den Gängen der heiligen Hallen des Allee Centers kleine Inseln, hier wie da, das gleiche Bild.

Diesem Bild entspringt jedoch ein Kontrast, denn wir befinden uns nicht in irgendeiner Parallelwelt, sondern im von den Remscheidern liebevoll als Rollator-City getauften Einkaufszentrum. Und während dort einerseits die Zukunft zu uns spricht, in Form der nächste Winterjacke und des trendigen Kaschmirschals aus dem indischen Himalaja, da spricht auch die Vergangenheit zu uns und schiebt vierrädrige Stützgestelle vor sich her.

Übersee dachten sich die windigen Amerikaner in den 1950er Jahren das Konzept der Mall aus: Mit dem Auto von der eigenen Haustüre bis zur Pforte des Einkaufszentrums und unter einem Dach den ganzen Konsumrausch durch die Adern jagen.

Und der Amerikaner sah, dass es gut war. Er exportierte das Modell „Mall“ in alle Ecken dieser Welt, einmal stand ich in einer in Thailand, eine klimatisierte Oase im Großstadtjungle Bangkoks. In Remscheid sprang der Funke sofort über, der Himmel ist undicht, man geht seine Runden also nun unter Dach und die stummen Vorbildsfamilien schauen einem dabei zu.

Ich treffe Maria, sie ist schon 99 Jahre alt, sie sitzt fast täglich hier und sieht für ihr Alter unheimlich vital aus, hat rosige Backen und trägt ein ordentliches Kostüm. Maria wurde im Kaiserreich geboren. Eine Frau mit grünem Haar läuft an uns vorbei, Maria geht das Herz auf. Damals, erzählt sie, wäre das nicht möglich gewesen, da war es Frauen nicht einmal erlaubt zu rauchen. Vielleicht ist das ihr Geheimnis für ein langes Leben. Viel Bewegung gehöre aber auch dazu. Dafür eignet sich das Allee-Center vortrefflich, bei Wind und Wetter, hier trifft man sich und kann beobachten. Einkaufszentren, der lang gesuchte Jungbrunnen?

Das ginge nun zu weit, aber eine Symbiose bilden sie schon, die älteren Menschen und das Einkaufszentrum. Sind wir jetzt in der Zukunft oder in der Vergangenheit?

Doch ich möchte natürlich mehr von Remscheid sehen und die Parallelwelt Einkaufszentrum schaut ja doch überall gleich aus. Also hole ich mir ein Bier im Real und folge den Infoschildern zum Ausgang.

Die Allee Straße liegt zu Füßen des Einkaufszentrums und strotzt weniger vor Leben. Über den wenigen Menschen, die sich hier tummeln, hängen Regenschirme, der Anblick ist nett. Zu beiden Flanken der Allee stehen die Bäume häufig vor verschlossener Türe. In der Spiegelung der Scheibe steht der Baum ein zweites Mal, hinter der Scheibe nichts. Ein Dönerladen dreht kein Fleisch mehr im Kreis und auch die Händchenrotation hat ein Ende gefunden. Die übrig gebliebenen Geschäfte, es ist ein trauriges Fazit, sind ebenfalls allerorts die gleichen. Darunter jene Läden, die ihr Glück nur für einen Euro in die Welt tragen, außerdem Banken, Mobilfunkexperten, Wettbüros, Friseure und nicht zu vergessen, ein wenig individueller: Eiscafés.

Bei mir hat das Konzept von Eiscafés bereits als Kind nicht so recht eingeschlagen, also lange bevor ich Kaffee zu schätzen wusste und noch gerne Eis aß. Plastikstühle, Plastiktischdecke und ein viel zu langer Löffel, der nach Metall schmeckte. Das ist meine erste Erinnerung an Eiscafé Riviera. Was ich immer gut fand, waren die italienischen Ladenbesitzer und deren überzeugende, wie übertriebene Herzlichkeit; als sei eben alles Spaghettieis. Und außerdem, was zählt schon meine Meinung? Denn spaziert man die Alleestraße zum Markt, stellt man fest, dass diese Eiscafés quasi the last man standing sind. Während überall Ladenlokale und Geschäfte jeder Art schließen, floriert das Geschäft mit der Kaltspeise und die Leute essen fleißig weiter aus der Waffel und lassen sich das Dolce Vita eintrichtern.

Das Schicksal Leerstand teilen viele Städte, der Einzelhandel unterliegt, wie viele andere Aspekte unseres Lebens, einem enormen Wandel. Den neuseeländischen Apfel kauft man beim Discounter. Die neuste Jeans bei Maria im Einkaufszentrum. Die mit dem Mobilfunktelefon gesteuerte Flug Drohne im Online-Buchhandel. Und als sei das nicht schon schlimm genug, kommt noch dieser demographische Wandel dazu: Die Gesellschaft wird älter und die Jungen ziehen weg. Die gute alte Einkaufsstraße schreit verzweifelt um Hilfe. Was kann man tun?

Das fragt sich auch StadtBauKultur NRW, ein gemeinnütziger Verein und eine Initiative des Landes in Zusammenarbeit mit Berufsverbänden. Also tauche ich ein, nehme an einer Führung der aktuellen Ausstellung in der Alleestraße teil und verliere mich schnell in wohlklingenden Sätzen. Als eine gute Stunde vorbei ist, stehe ich mit einigen Visitenkarten in der Hand und nachhallenden Abkürzungen und Fachjargon im Kopf alleine auf der Allee Straße; es ist kalt. Auf dem kleinen Prospekt, das man mir gab, steht in weißen Lettern auf blauem Grund der Slogan: Gute Geschäfte. Was kommt nach dem Einzelhandel? Die Frage bleibt unbeantwortet. Nicht, das sie einfach zu beantworten sei, geht es jedoch um einen Wandel und die dazu benötigte Flexibilität, ist die Politik vielleicht nicht der beste Ansprechpartner.

Und der Wandel ist nicht zu leugnen: Die Abwanderung, vor allem jener wichtigen 25-45 Jährigen, nahm stetig zu und hätte Remscheid bald unter die Grenze einer Großstadt mit 100.000 Einwohner zurückgeworfen. Wäre da nicht die Migration. Sie haben richtig verstanden! Einwanderung – Positiv. Man muss es heut zutage wohl so klar sagen.

Denn seit dem Jahr 2012 federn Menschen mit Migrationshintergrund, die nach Remscheid ziehen diesen Einwohnerschwund ab und führten 2014 erstmals wieder zu einem positiven Wandersaldo, also mehr Ein- als Auswanderung.

Nun ja, ich stehe also auf der Alleestraße, habe alle das im Kopf und eine Familie läuft an mir vorbei, sie sprechen türkisch, die zwei Kindern sind aufgeweckt. Auf dem Rückweg zum Auto gehe ich in Richtung des Allee Centers und komme noch einmal an den Leerständen vorbei. Auf halber Strecke fühle ich mich, als sei ich zwischen die Vergangenheit und die Zukunft geraten, die beiden ziehen an mir und die Gegenwart schaut hilflos dabei zu.

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19:03 Uhr, lit.ruhr VA29

Das Gefühl ist groß, Bewegungen bleiben eingeschränkt, verzweifelt quillt die Emphase aus den Augen der Gedrängten. Noch im Rausch der Überhitzung wird Zorn gekauft, wie viel, wie viel, jetzt sagen Sie doch mal: wie viel? Aufregung sticht in den Fingern – da! Einband gerissen, ach, ärgerlich. In solchen Momenten gehen Leben zu Grunde. Schieben, warten, halten. Sitzt da Baselitz? Wo ist Kluge? Ich hab hier ’nen Kunstdruck, schon lange, den müssen Sie mir signieren!

Base
litz

Auster
litz

Die Litze. Geht es auch um Helden, Tyrannen, Übermenschen? Um die „Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht“?* Ach nein, um Schmutzseiten, vielleicht.

Heute fühlt es sich anders an. Papier, Geduld und das Buch nah am Herzen. Kluge?
Alte Körper drücken weich, das Stehen im Pulk ist ein unabweislicher Kommentar auf die Menscheitsgeschichte.
Etwas fällt, Köpfe senken sich. Nach unten.
Von unten.
„Strategie von unten“?**

Unten ist der Boden so nah, da ist der Boden Boden aus sich heraus.

„Ich wusste immer, dass es Sie gibt“, hat er zu ihm gesagt, die Hände gedrückt, dann den Zeigefinger gehoben: jetzt Puccini, jetzt Seite 96, jetzt. Aber jetzt steht er in der Tür, will nach links, wird nach rechts geschoben, sanft. Der Blick wirkt verwaschen, in Gedanken an das gerade Gewesene. Geräuschlos setzt er sich neben den routiniert signierenden Künstler. Ein Automatismus, dem Kluge noch nicht beigekommen ist. Kurz wird hier unterschrieben, dort. Eigentlich gehört er nicht an diesen, er gehört an einen Schreibtisch, einen Arbeitstisch. Umgeben von Büchern, Zeichnungen, Notizen, Musik. „Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.“

Wir schauen uns an,
wir sind uns nicht sicher.

Momente, die vergehen. Momente, die bleiben. Ich nehme einen Namen mit. 19:07 Uhr

 


*Kluge, Alexander: Die Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht. In: Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2009. S. 23f.

**Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2008.

„Das Problem ist, daß uns eines von Fontane trennt, neben dem vielen, was uns von ihm überhaupt nicht trennt: und das ist eine Radikalisierung aller Zeitverhältnisse. Fontane hat z.B. Bombenangriffe, die manchen Berlinern ja noch wohl in den Knochen liegen, nicht gekannt. Es gibt da, wenn man es bildlich ausdrückt immer zwei Strategien. Eine Strategie von oben und eine Strategie von unten. Über die Strategie von oben hat Clausewitz einiges geschrieben. Das ist die Strategie, die das Bomberkommando hat; und das hat ja auch die Mittel dazu. Was eine Frau mit zwei Kindern unten im Keller als Gegenwehr dagegenzusetzen vermag, das wäre Strategie von unten.“

>> Link zum Zitat
>>> Ein weiterer Link zum Thema „Strategie von unten„, wahllos gewählt.


>Alexander Kluge und Georg Baselitz auf der lit.ruhr<

Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Die Veranstaltung 29 (VA29) mit dem sperrigen Titel „Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern. Alexander Kluge trifft auf Georg Baselitz“ des in erster Auflage ausgeführten internationalen Literaturfests lit.ruhr war einigermaßen gut besucht, was in Anbetracht der Tatsache, dass sich auf der Bühne im Museum Folkwang in Essen Urgesteine der jüngsten Kunst- und Kulturgeschichte befanden, für mich nicht ganz nachvollziehbar war. Einmal Alexander Kluge live erleben, das sollte man nämlich. Und Georg Baselitz ist auch ganz interessant. Ihr gemeinsames Buch heißt im Übrigen genauso wie die Veranstaltung und ist bei Suhrkamp erschienen. Und bis 7. Januar 2018 gibt die Ausstellung „Pluriversum“ Einblicke in die Arbeit von Kluge.

 

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17:11 Uhr, Gasometer Oberhausen

Drei Mal rufen sie den Namen, drei Mal rufen sie „L’Osteria“, laut, schnell, überspitzt, und es klingt, wie eine Beschwörung, ein Zauberspruch, dessen gewünschte Wirkung unmittelbar nach dem Gesagten eintritt. Allein: Sie tritt nicht ein. In Oberhausen gibt es kein L’Osteria – sagt die Mutter. Google sagt etwas anderes, die Jüngste unter den vier Geschwistern wird von ihrem Smartphone kalt angestrahlt, ihr Gesicht wirkt ätherisch, aber gegen die Mutter ist kein Ankommen. Entweder man müsse nach Bochum oder Herne oder eben nach Hause. Am besten nach Hause, zu Hause gäbe es noch Eintopf. Aber erst einmal soll es da rauf.

Bis 17:45 Uhr sei das noch möglich, ist auf einem Schild zu lesen, die Warteschlange vor dem Panorama-Aufzug sieht länger aus. 15 Personen passen in den Glaslift, weil man die meisten Kinder aber anscheinend nicht als ganze Personen wertet, werden es bei jeder Fahrt mehr. Platt drücken sich die Kleinen die Nase an der Aufzugsscheibe. Unter ihnen liegt die Welt, Eiskappen schmelzen und Blitze kündigen die nächste Matrix an. Ein Erdzeitalter dauert zehn oder 15 Minuten, in jedem Fall wird der Globus, der die dritte Ebene der Ausstellungshalle dominiert, in regelmäßigen Abständen grau, dann bilden sich Raster und die Erde entsteht neu. 120 Meter ist der Gasometer hoch, der Panoramalift steigt und mit ihm das mulmig-erhabene Gefühl des gleichzeitigen Klein- und Großseins.

Dieses atmosphärische Heraustreten aus der Welt: Sie ist intendiert. Es ist der Abschluss einer Zufriedenheit, die einen befällt, sobald man den Gasometer betritt und sich einreiht in den Rundgang, der wirklich rund ist, der zentrisch durchschritten werden muss, wie ein abgehbares Mandala, im Halbdunkel Menschen, Tiere, Bäume und Organismen mit den Augen sammelt und den Sinnen. Und irgendwann auch gar nicht mehr weiß: War ich schon hier? Oder dort? Alles geht auf Eindruck, auf Welthaltigkeit und auf ein Verständnis von Schönheit, das durch Vollkommenheit besticht –  und gleichzeitig nichts in Frage stellt.

Gut, dass es dann noch ein Oben, ein Außen gibt. Auf dem Dach des Gasometers haben Tränen eine andere Bedeutung, und der Blick auf das Freizeitareal, das die Stadt „Neue Mitte“ genannt hat und das selbst an Sonn- und Feiertagen Flaniermeile für die Oberhausener*innen ist, holt einen wieder runter – in den Kommerz und den dazugehörigen Freizeitgestaltungsgedanken.

„Gibt es den Benjamin-Blümchen-Park eigentlich noch?“, fragt ein Junge. „Ich glaube, der wird gerade umgebaut“, antwortet der Vater. Sein Kopf steckt zwischen Gittern, sein Blick geht über das Centro, das Legoland, über die König-Pilsener-Arena. Im November wird es dort eine Schlagerparty geben. Beim Hinabsteigen ist es also ratsam, in Mandalas zu denken. 17:48 Uhr

 



>Gasometer Oberhausen<

Hinter Bahngleisen, die auch als Busstrecke genutzt wird: der Gasometer. ©mhu
Hinter Bahngleisen, die auch als Busstrecke genutzt wird: der Gasometer. ©mhu
Der einst größte Gasbehälter Europas mit der bis November andauernden Ausstellung „Wunder der Natur“ steht im ehemaligen Industriegebiet von Oberhausen – die „Neue Mitte„. Kommt man am Hauptbahnhof in Oberhausen an, ist der Weg dorthin ein einfacher: Alle Busse und Straßenbahnen Richtung „Neue Mitte“ halten an Bussteig 1. Wenn man den Bus nimmt, geht es über Gleise ratternd zum 2,5 Kilometer entfernten Gelände, auf dem man gefühlt wirklich alles machen kann: Flanieren, einkaufen, Tiere sehen, andere Länder bereisen, (Industrie-)Kultur erfahren, Musicals besuchen, ins Kino gehen, zu viert auf Parkbänken sitzen und über das Leben sinieren, erste Dates haben oder schon das dritte und rutschen. So viele Rutschen. Und genau so habe ich mir Oberhausen auch vorgestellt, liegt aber wahrscheinlich auch an dem gleichnamigen Song der Missfits. Und daran, dass der „Strukturwandel“ hier so konsequent umgesetzt wurde, dass man sich wirklich ein bisschen wie im Freizeitpark vorkommt.

 

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