In der Zeitmaschine – Alt Breinig: Von den Römern zum Schimanski

Die Steine in Alt-Breinig erfinden sich  immer wieder neu. Wie Phönix aus der Asche. Ein Sprung in die Geschichte mit meiner Zeitmaschine.

Eine Straße wie eine Hollywoodkulisse des Mittelalters. Jedes Haus eine Historie aus Stein. Aus Blaustein. Dazwischen der Glanz der frischen Fugen, neuen Fenster, gutes Fachwerk. Alles riecht nach Aufbruch, Euphorie. Prestige. Fast alles.

Steine, Steine, Steine, Alt-Breinig

Alt-Breing entdecke ich ganz zufällig, nach dem Chaosprinzip. Dank meines alten Navis, das den kürzesten Weg nach Stolberg suchen soll. Das graue Gerät aus den Pionierzeiten des GPS verwirrt sich zwei Mal, führt mich zu „Dorff“, mit zwei „f“ geschrieben, weiter nach „Venwegen“, das ich mit meiner Eselbrücke als „von wegen“ registriere, nach „Zweifall“, wo ich, der Fall, langsam verzweifle, mir so aber den neuen Namen sofort merke. Ich schüttle den Kopf, tippe dass neue Kommando, „schnellster Weg, bitte“, und das Gerät verwandelt sich in eine Zeitmaschine. Bringt mich ins Mittelalter. Ich sehe ein Ensemble aus Stein, Sorgfalt und Fleiß.

Ich bremse, steige aus dem Auto, staune.

Eine ganze Straße, ein ganzer Straßenzug, alle Häuser wie Steinskulpturen. Kilometerlang… ein Denkmalschutz-Paradies!

Ich knipse, knipse, knipse. Wie im Rausch.

So eine Steinkulisse habe ich selten gesehen. In Deutschland noch nie. Grober, heller Kalkstein, viele neue Fuge, Fenster frisch gestrichen, eine Installation.

Ich, der Alien im Wunderland, ziehe meine Antenne aus, schalte mein Smartphone an, tippe „Alt-Breinig“, Google sucht, Wiki spuckt, ich scanne, kürze, interpretiere: Breinig , ein Dorf im Münsterländchen, seit 1972 ein Stadtteil von Stolberg in der Stadtregion Aachen. Es liegt im Vennvorland in der Nordeifel.  Die Einwohnerzahl = 5.875. Häuser aus „Bruchstein“ bzw. „Blaustein“ vom Steinbruch „Schomet“, inzwischen stillgelegt, heute Naturschutzgebiet im Hohen Venn in der Nordeifel. Eifel, der jüngste Nationalpark Deutschland.

Das digital auf einen Klick erworbene Wissen füllt die analogen Lücken in meinem Kopf. Analoges Staunen, digitales Erkunden, dann neues Kommando: Alt-Breinig. Ursprung. Geburtsstunde.

Meine Zeitmaschine springt sofort an, bringt mich ins Anno 1303. Ich steige auf einer weiten Wiese aus, vor mir Felsen, dahinter milde Hügel. Es wird laut, zu laut für mich, hunderte Männer um mich herum schlagen auf Steine. Die jungen, kräftigen Handwerker, Steinmetze, lange Bärte, Muskelpakete, verkleinern die großen Steinstücke. Die anderen Männer, schmächtiger, älter, mischen und rühren Erde und Wasser, bevor sie Steine aufeinander zu stapeln beginnen. Heiter rufen sie einander zu, schimpfen, lachen, ich verstehe keinen Buchstaben.

Ich frage meinen Assistenten, den Google.

Sein Archäologe aus Anno 1999 meint, Breinig sei älter, viel, vieeel älter. Ich solle weiter zurückschauen. Ich steige in meine Zeitmaschine wieder ein, starte den Motor, drehe den neunten Gang und flieeeeeeege durch die Zeit, weg in die Vergangenheit. Zu den alten Römern in Breinig. Als ich aussteige, sind sie schon fleißig am Werk. Gerade bauen ihre Hunderte Sklaven eine lange römische Straße, die von Nordfrankreich über Belgien nach Gressenich, Düren und Köln führen soll. Der Ubier-Stamm aus Kölle kann es kaum abwarten. Seit Jahren fiebern sie, dass die Römer endlich kommen, sie hätten gehört, die Römer bauen nicht nur die Straßen gut, sondern auch Wasserleitungen. Der Cesar könne persönlich kommen, um dat Colonia römisch einzuweihen. Sie warten auf ihn mit Kamelle und Strüssjer…

In Breinig, damals im Embryostadium, fangen  entlang der neu erbauten Straße kleine, tief gelegene Steinhäuser zu sprossen. Die erste keltisch-römische Siedlung wurde aus dem gleichen ortstypischen Blaustein gebaut, wie die Häuser in Breinig zweitausendzweihundert Jahre später.

Ich, im Entdeckungsrausch, fliege weiter, steige im Anno 881 aus. In Breinig marschieren Krieger, Wikinger und Normannen. Sie gucken böse, plündern, zünden Häuser an, töten Menschen. Die Menschen schreien, Steine brechen, glühen, werden schwarz.

Ich glotze, erschrecke, nehme die Beine in die Hand und fliehe aus dem Alptraum. Im siebzehnten Gang komme ich im Anno 1648 wieder nach Breinig. Keine gute Idee.

Breinig steckt mitten im 30-jährigen Krieg, wird geplündert. Die Breiniger gründen eine Art Bürgerwehr. Gut so. Ich fliege weiter, mache Stopp im Anno 1756. Es ist der 18. Februar, eisig kalt, Schnee, ein Meter hoch, Sibirien. Die Straßen glänzen in der Sonne und  im Schnee. Die Häuser aus alten und neuen Steinen auch.

Stille. Friede. Dann Krach. Der Boden bebt. Die Häuser auch. Ein starker Erdstoß. Die Steine stürzen. Menschen rennen auf die Straße, schreien.

„Oh Gott…“ Mein schlagendes Herz rutscht in die Hose, ich rette mich in die Zeitmaschine, schalte dann in den 32ten Gang…

„Krieger, Eroberer, Götter… Haben sie alle einen Knall?“,

Ich bin wütend. „Was machen Sie für dummes Zeug? Schlagen, bauen, plündern, zünden, zerstören, wieder aufbauen… immer hoch und runter… das komische Spiel verstehe ich nicht. Das will ich auch nicht verstehen. Punkt.“

Ich habe die Nase voll. Google und Wiki, die beiden Besserwisser, lasse ich hier lieber aus dem Spiel. Ich fliege weiter. Alleine. Ohne sie. Und lande im Jahr 2005.

Es ist ein schöner sonniger Tag. Hektik auf der Straße. Stimmen laut, heiter. In Alt-Breinig herrscht gerade ein gewisser Schimanski mit dickem Schnurrbart und legerem Gang. Der neue Eroberer marschiert grinsend durch die Straße. Von beiden Seiten protzen die Steinhäuser. Vier Kameras sind auf den Herrscher gerichtet. Er verfolgt einen Mann mit einer schwarzen Tasche. Die Sonne steht hoch, er schwitzt, eine Frau mit einem Pinsel und Pulver in der Hand rennt zu ihm… ““Klappe!“ schreit ein Mann hinter der Kamera.

Ich verstehe nix, rufe „Wiki“ an, sie weiß es. Besser. Besser so.

„Sünde“ war ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe „Schimanski“ der ARD. 13. Folge, mit Götz George in der Hauptrolle belehrt sie mich unkompliziert.

„Ach so…DER Schimanski…“ staune ich. Den kenne ich…

„Klappe!!! Kamera läuft…“ Der Götz, frisch gepudert, rennt, schreit. Umsonst. Die Szene wird noch zwei mal abgebrochen. Götz ist sauer, er schwitzt noch mehr, jetzt will er kein Puder, er will weiter machen, muss den Fall aufklären.

Wer ist der Mörder?

Der aus dem Gefängnis in einem belgischen Wald entflohene Ehemann, der von einem Professor entdeckt und in seiner Hütte einquartiert wurde? Oder ein neugieriger Lokaljournalist, der sich als Liebhaber der toten Frau entpuppt? Was hat der Sohn, der bei seinen strenggläubigen Großeltern wohnt, damit zu tun?

Ich schaue wie gebannt, fiebere mit, will Schimanski einen Tipp geben. Seine „Sünde“ hat mich völlig gepackt.

Doch dann packt mich eine andere Hand an der linken Schulter und holt mich direkt in die Zukunft zurück in das Jahr 2017.

Ich stehe vor einer Steinkirche in Alt-Breinig, vor der noch gerade Schimanski mit einem Kruzifix in der Hand zwei Männer, die auf ihm losgingen, zusammenschlug.

Stille Liebe

Vor mir steht jetzt mein deutscher Mann. Er schaut mich besorgt an, zwickt mich in die Wange:

„Wat ist los? Wo steckst Du die ganze Zeit?“ will er wissen. Er habe mich überall gesucht, erfahre ich.

…Oh, Gott. Was soll ich ihm nun sagen? Die Wahrheit besser nicht! Dass ich auf eine Zeitreise von 1303 zurück zu Römern war? Dann noch hin zu den Wikingern, irgendwann hinein mitten in den 30-jährigen Krieg? Dass ich ein Erdbeben überlebte? Und gerade eben noch zusammen mit  einem Schimanski am Tatort?  Nein! Auf keinen Fall. Nicht mal im Traum…

Ich will ihn, meinen deutschen Mann, nicht in Sorgen versetzen. Ja, er weiß, ich übertreibe, spinne, phantasiere, aber wo war ich wirklich, als er mich überall gesucht hatte?

Auch will ich ihn nicht ärgern. Ich solle ihn, meinen deutschen Mann, endlich mal ernst nehmen, nicht immer warten lassen…

„Ach, sorry, ich war kurz in der Kirche, habe mir gerade von Google und Wikipedia in Ruhe alles über diese unglaubliche Steinkulisse erklären lassen…“ sage ich.

„Ja, schön, die Straße…“ findet er auch. Er habe nicht gewusst, dass in der Gegend noch so etwas zu entdecken gäbe.

„Sehr französisch… wie die Provence in den 80ern“, meint er dazu.

Das höchste Kompliment meines deutschen Mannes. 80-er… französisch… die Zeit, die ich nur aus seinen Erzählungen kenne. Als er jung und knackig mit einer Anderen auf Entdeckungsreisen sein Frankreich auseinander nahm.

„Meine Diplomarbeit habe ich genau in so einem Haus damals geschrieben…“ sagt er.

„Ich finde, ein bisschen wie Istrien heute…“

So hole ich ihn in die Zeit mit mir.

An der Kreuzung registriere ich ein Gasthaus aus verwittertem Stein und verblassten Fugen. In meinem Magen bebt die aufregende Zeitreise durch Alt-Breinig. Ich bin müde, habe Durst. Und einen Bärenhunger. Doch die „Stille Liebe“ gähnt, hat Ruhetag.

Steinmetze von Alt-Breinig

An der Kreuzung stehen zwei junge Männer, kurze Bärtchen, Käppis. Der Fröhliche mit weißem Käppi, der andere grimmig mit schwarzem, Brille mit dunklem Rand, linker Arm in Gips. Hinter ihnen Steine zu  einem Dutzend halbfertiger Grabsteinen aufgereiht.

„Zur Treppe“, das Restaurant gegenüber der Kirche, habe auf, sagen sie. Mein Smartphone meint: So-la-la. Nur die Raucher dürfen draußen sitzen, die Nichtraucher müssen hinein gehen egal bei welchem Wetter, berichtet mein digitaler Besserwisser.

Es ist heiß, mein Magen jault und ich bin schon lange Nichtraucherin. Mein Blick scannt einen schmalen, sandigen unebenen Grabstein hinter den Jungs, an dem viele sehr verdächtigte Zeichen, geheime Linien und alte Buchstaben eingemeißelt sind.

„Wat ist das denn?“, staune ich, befürchte, dass hier schon meine Verwandten gewesen sind, die Außerirdischen.

„Ach, die Pilger…“ meinen die Jungs entspannt. Alt-Breinig sei ein Pilger-Stop, liege direkt am Jakobsweg. Am Wochenende wimmle es hier von Menschen aus der ganzen Welt, erzählen sie voller Stolz.

Und tatsächlich  auf dem Boden, auf vier Steinplatten lese ich: „Santiago de Compostela – Breinig 2516 km“.

„Früher wohnten hier die ärrm Lü„, meint der Junge mit dem gebrochenem Arm.

„…Ja, viele Steine, wenig Brot“ , sagt der andere.

„Aha…“

„Und weißt Du, was die Grundstücke jetzt hier kosten? 350 Euro pro qm !!!“

„Santiago de Compostela – Breinig 2516 km“

Eine neue Station für meine Zeitmaschine entsteht gerade.

„Von Minus zu Plus“ eine neue Folge der „Alt-Breinig-Serie“ demnächst…

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