NEIN – in Übach-Palenberg

Eine neue Stadt ist wie eine neue Liebe. Je kleiner  desto reizvoller.  Ich liebe kleine Städte und große Herausforderungen und sage zu Übach-Palenberg ohne zu zögern:

„Ja, ich  will!“. 

Ich will, in Übach-Palenberg

 

„Ja-Sager“ leben gefährlich, behaupten viele.

Nicht nur in Deutschland.

„Nein sagen“ kann man lernen.  In  Übach –Palenberg!

***

Ich bin auf dem Weg nach Übach –Palenberg!

Auch wenn wir uns bis dahin nie begegnet sind und auch noch nie voneinander gehört haben,  ahne ich, es könnte uns doch einiges verbinden.  Auch wenn mein Schreibprogramm, das ansonsten alles besser weiß,  mit der Stadt, die  den schönen Namen Übach- Palenberg trägt,  wenig anfangen kann und sie ständig rot färbt, also  Übach-Palenberg, folge ich  dem Ruf des  dortigen  PR-Mannes,  dessen Name meinen Landsmann verrät, als er mich  in die westlichste Stadt Deutschlands mit vielen kleinen Anreizen locken will:

 

 „Ja, ich will!“

„Ja, ich will  Berti Davids treffen, die in historischen Kostümen durch Schlösser  und Mühlen zieht.“

„Ja, ich will  auf dem Golfpark ‚Loherhof’ gleich um die Ecke spielen.“

„Ich will die jungen Asiaten  treffen, die in einem Kloster für das deutsche Abi pauken.“

„Ja, ich will die Grenze zu den Niederlanden am Übergang mit dem Namen ‚Landgraaf’ betreten. Und die ‚Römerstraße Via Belgica’, die von Köln bis an den Atlantik geht, zu ‚Foß’ gehen…“

„Ja, ich will auch im Museum ‚Begas Haus’ in Heinsberg lesen…“

„Ja, ich will in dem Gästehaus des örtlichen Schwimmvereins  gerne wohnen, schwimmen, alles“.

 

Und dann: NEIN

Auf dem Weg nach Übach höre ich 27 Mal das deutsche Wort NEIN!

In allen Stimm-und Stimmungslagen: entschlossen, direkt, ruppig, kompromisslos.

Am Aachener Hauptbahnhof kome ich mit 27 Minuten Verspätung an -wegen Stürmen, den umgekippten Bäumen, Klimawandel etc – und suche  den Anschluss nach Übach-Palenberg… Ich bin in Eile, frage Passanten…

Nein, keine Zeit. Nein, sie wissen es nicht.

Nein, sie sind auch nicht von hier… Nein, natürlich nicht!

Auch mein Schreibprogram kennt Übach Palenberg nicht!

 

Das deutsche Wort „Nein!“ ist nicht gerade mein Lieblingswort, gebe ich zu,  und habe ich in  Köln fast verlernt . Der Kölner, glitschig wie ein Fisch,  lässt sich nicht mit so einem kleinem Wort mit nur vier Buchstaben weder aus der Fassung bringen noch im Netz der Festlegung fangen. Das Wort „Nein“ hat er einfach in viele kreative Variationen umgedichtet. So heißt   „Nein“ in der Dom-Stadt zum Beispiel nicht nein, sondern  „Heut’ iss’ schlescht“.

Je größer die Stadt, desto bunter sein „Nein“. Nur die kleinen Städte und Gebiete  können sich das reine Wort NEIN in seiner ursprünglichen Form noch leisten. In Übach  klang das Wort „Nein“ so echt, ehrlich, ernst wie damals im Allgäu, meiner ersten deutschen Heimat, in dem ich die ersten deutschen Worte gelernt habe, auch das Wort NEIN. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nach Übach-Palenberg,  der westlichsten Stadt Deutschlands, fahre ich mit der guten, deutschen Regio-Bahn  in der ersten Klasse. Dank des freundlichen Aachener AVV darf ich als Stipendiatin des „stadt-land-text.de“ Blogs den regionalen Komfort und die flache, grüne Landschaft, die an mir vorbei fliegt,  in vollen Zügen kostenlos genießen.

Ich schaue auf die Uhr, will keinen Ärger mit meinem Gastgeber und rufe ihn an.

„Entschuldigen Sie mich bitte, Verkehrschaos, ich komme mit Verspätung“.

„Nein…“, sagt die Stimme an der anderen Seite der Leitung: „Kein Problem!“ Er wolle mich sogar vom Bahnhof abholen…

„Oh, wie schön. Vielen Dank! Sehr nett!“

„Nein,  es sei für ihn nur einfacher, mich abzuholen, als mir  auch noch  den Weg lange und mühsam erklären zu müssen.

„Ach, so… danke trotzdem. Ja, ja, ich warte auf Sie“.

Ihn, meinen ehrlichen Gastgeber, taufe ich in meinen Herrn „B-ärger!“

 

Tanzen schon am Hbf in Übach

 

„Willkommen in Übach-Palenberg“, sage ich zu mir, als ich  alleine aus dem Zug aussteige!

Die Sonne boxt am Horizont mit  dicken Wolken; auf der Straße keine Bewegung. „Mittagschlaf“, denke ich mir, als ein stämmiger Schwarzkopf mit Tempo um die Ecke biegt, und direkt auf mich zugeht.  Ich freue mich, denke  „ah der Herr B-ärger“, und lächle ihn an.

„Nein, nein“,  schüttelt er  entschlossen den Kopf:

„Nein, er nix Deutsch verstehen, er nix von hier. Muss, muss Zug, Arbeit…“

Ich setze mich auf die Treppe und warte. Ein Wagen hält. Der Fahrer blickt grimmig, öffnet die Tür.

„Guten Tag!…“ sage ich. Er: „Hallo!“

Ich lege mein Gepäck in den Kofferaum, der sich magisch geöffnet hat, schließe die Klappe, steige ein, er fährt los. Und  schweigt.

Mein Kopf tanzt hin und her, saugt die Straße auf, kommentiert, was er sieht:

„Ach, Übach…. scheint eine hübsche, kleine Stadt zu sein…relativ neu?“

Er schweigt.

„Ich bin zum ersten Mal hier…also ganz viele Häuser mit Ziegel. “

 

Übach, viel Ziegel…

Er schweigt.

Das Schweigen ist nicht unbedingt meine größte Stärke, so plappere ich weiter los, frage ihn:

„Wie groß ist eigentlich Übach…?“

Er schweigt.

Ich drehe mich um, glotze aufdringlich in sein Ohr. Vielleicht hat er ein Hörgerät, vielleicht ist die Batterie alle?

„Nein!“, sagt er endlich,  das wisse er nicht.

„Nein?“  frage ich mit dem Blick auf sein Ohr.

„Neein, Ich bin auch  nicht von hier…

„Ach? Wo kommen Sie her, wenn ich fragen darf?“

„Eifel!“

„Eifeeeeel? Wo aus der Eifel?“

„Monschau.“

„Ach neh, aus dem wunderschönen Monschau? “

Schweigen. Einsilbiger  Dialog. Ende.

 

Vorfreude aufs Schwimmen!

 

Das Gästehaus: groß, ordentlich, völlig leer, 50 Betten, keine Gäste, außer mir. Es ist ein Dienstag. Die „richtigen“ Gäste kämen am Wochenende. Dann sei  hier alles voll. Mein Gastgeber marschiert vor mir, seinem einzigen Gast, her,  steigt die Treppe hoch, schweigt. Ich renne hinter ihm her, schleppe meinen Koffer. Er öffnet das erste Zimmer: sauber, schlicht, klein. Mit Blick auf eine Ziegelmauer. Ich schaue auf die Ziegeln, die Mauer schaut auf mich zurück. Herr B-ärger  drückt mir einen Schlüssel in die Hand  und einen Hauscode mit siebenundzwanzig Zahlen. Fertig.

PR-Tour & Golfen

Vor der Tür steht schon der Herr PR-Mann: zwei Köpfe größer als ich, zehn Jahre jünger,  glatt gebügelter Anzug, freundliches Lächeln. Er begrüßt mich auf unserer Muttersprache. Sofort sind wir  per Du und gehen im westlichsten Zipfel Deutschlands  Mittagessen. Er  „verkaufe“ den Holländern, seinen besten Kunden, auch Köln, Düsseldorf  und Bonn.  Sehenswürdigkeiten und Kontakte, so habe ich es  jedenfalls verstanden. Was plane ich, worüber will ich schreiben, will er wissen.

Ich verschlucke mich fast.

„Ich plane nie“, gebe ich zu. „Ich lasse die Geschichten zu mir kommen. Mal sehen…“

Er kratzt sich an der Stirn, sagt „Ah… Interessaaant!“

Wir rasen danach durch das schöne flache, grüne Ländle, unser Ziel: Golfpark, „Loherhof“ in Geilenkirchen.

Vor uns liegt ein feiner weit ausgerollter grüner Teppich, einen halben Kilometer lang und übersäht mit tausenden weißen Bällen. Wie die  Milchstraße. Ein Bild. Eine Installation. Meine Augen weiten sich, saugen alle Details auf. Eine  ältere Dame, sonnenstudiogebräunt, dünn, zäh,  registriert uns und lächelt zu uns herüber bevor sie kräftig mit  Schwung auf einen Ball eindrischt. Der Ball flieeeeeeegt und flieeeegt!

Weg! Weit weg! „188 Meter!“ stellt der Herr PR-NRW, mein Landsmann, präzise fest.

Ich, wie von einem Magneten angezogen, will das noch mal sehen, bitte, bitte noch mal, und noch mal und ich will  bitte einmal selber schlagen. Mein Landsmann schaut auf die Uhr. Für meinen ersten Ballschlag  gibt er mir genau dreißig Sekunden. Mein Golfball, der erste meines Lebens, flieeeeeegt auch.  Und bleibt nach  22 Metern liegen.

Das Spiel ist aus!

Nein, der Golfplatz-Besitzer habe heute keine Zeit, nur eine Visitenkarte. Und Frau Berti, seine Schwester, die in historischen Kostümen durch Schlösser und Mühlen mit Touristen zieht,  sei  leider  auch nicht da, „seit gestern in Urlaub“.

Also zwei wichtige Themen der Region muss ich heute auf der Stelle abschreiben.

„Nein“, er habe jetzt auch keine Zeit mehr, sagt der PR-Mann. Seine Termine seien ganz dicht, die Holländer, das Büro, die Frau, das Kind. Ich will aber golfen, die älteren Dame, die das Spiel  so gut  beherrscht genau studieren. Ich schaue kurz in den bleigrauen Himmel, wühle in meinen Taschen: „Nein“, kein Regenschirm.

 

Rathaus Übach-Palenberg

Nein, Nein, nein…

Wir fahren zurück ins Gästehaus der Sportschule Sport Verein NRW. Ich will schwimmen. Ich kraule  schon unterwegs in Gedanken  und jubele, dass ich  direkt an einem Schwimmbecken wohne, in dem am Wochenende die besten Schwimmtalente  der Bundesrepublik üben oder künftige Trainer sich als Experten weiterbilden lassen. Hier übe man für  Olympia und Gold-Medaillen, erfahre ich. „Für Deutschland!!“

Bei so einem Wetter neben all den Schwimmgötter zu kraulen – oh, fantastisch!

«NEIN!» sagt eine Dame im Bikini am Eingang. Der Pool sei nur für Vereinsmitglieder!

«NEIN! bestätigt ihre faltige Kollegin.

„Schon aus  Sicherheitsgründen nicht“, mustert  sie mich, den Alien mit Akzent längs und quer. Meine Visitenkarte beeindruckt sie kaum. Die darf ich für mich behalten.

«NEIN!!!!“ Ohne Aussicht, auf keinen Fall! Punkt! , gibt  der  Herr B-ärger sein letztes Wort.

„Aber, aber… ich  kann gut schwimmen, brauche keine Aufsicht! Eine Ausnahme, bitte! spreche ich die letzten Worte schon in die Luft. Herr B-ärger sitzt schon in seinem Wagen und fährt los.

Mein Übach-Palenberg  muss ich ab jetzt ganz alleine in den  Griff kriegen. Zu Fuß und  sobald es aufhört zu regnen.

Die Entdeckungstour in Übach…

 

Wie ein  durchnässter Vogel ziehe ich mich zurück in mein Zimmer, eine Zelle, 2×2 m.  Drei mal ein- und ausatmen und die Luft ist schon ganz verbraucht. Ich  öffne das Fenster, atme, atme, atme. Die schwere, feuchte Luft klebt in meinen Lungen. Der Sturm dringt in das  Zimmer. Ich schließ das Fenster, klappe meinen Laptop auf, will  nun, fest entschlossenen,  mein Übach… virtuell erforschen, recherchieren!

Doch das Netz streikt: „Limit überschritten!“ lese ich. „Oh, NEEEIN!“ sage ich  nur noch.

„Neeeeein, “   brüllt auch mein Herr B-ärger in den Hörer, als ich ihn anrufe  und um  Hilfe bitte.  Bei allen habe es funktioniert! Bei mir müsse es auch!

„Ja, O.K. ich probiere noch mal und noch mal und noch mal, und noch mal. Leider nix.“

„NEEEEIN!“, er könne mir jetzt nicht helfen. Er sitze am Steuer. Im Sturm. 30 Kilometer weg!  Er sei gleich vor seiner Haustür. In der Eifel. Punkt. Gespräch zuende.

Ich, Alien alleine zu Hause, in Übach-Palenberg…

Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Toilette. Vor dem Fenster Sturm.  Schwimmen? Internet? Radio? Fernsehen? Zeitung?……….Nix!

 

NIX! NIX! NIX!!

Nur wir  beide. Ich und ÜBACH.

Übach-Palenberg – mein neues Schicksal! Der westlichste Zipfel Deutschlands hat mich in das  kleinste Zimmer überhaupt  gelockt, um mich mit seinem puren Charme, seiner stürmischen Liebe zu erobern.

Dabei soll uns niemand stören. Weder Berti in Kostümen durch die Mühlen noch ihr tüchtiger Golf-Bruder. Golfen habe ich hinter mir, mein erster Ballschlag: 22 Meter. Meine Ehrgeiz sollte ich lieber doch woanders investieren! Und die armen Asiaten, die für das deutsche Abi pauken, sollte ich besser  nicht stören. Sie kommen mit dem deutschen  Wort „NEIN“ – so direkt, ehrlich und deutlich –  vermutlich noch weniger klar als ich. Sie nicken immer und sagen mit zusammengepressten  Zähnen:

„Jaein“

Ich schließe das Fenster und die Tür und umarme mein Schicksal mit beiden Armen. Ich will Übach-Palenberg vertrauen und wiederhole das Mantra meiner Mutter: „Wer weiß, wozu dat alles gut sein wird Kind“.

Ich  lege mich auf das Bett, fange an tief und ruhig zu atmen und spüre langsam,  wie ich mich befreie von all den Dingen, die uns im Griff haben: LUXUS, PRESTIGE, DIPLOMATIE, NETZ – fühlen meinen und  seinen Atem, ahne Übachs Nöte, Natur und Zeit.

In der STILLE taucht vor mir Maria Gorretti auf, die gute Seele vom  Kloster Steinfeld, die  seit 60 Jahren Gott und der Menschheit dient. In diesem kleinen Zimmer, in der Stille, fange ich an, die gütige Schwester zu verstehen. Ich klappe meinen Laptop auf und schreibe. Ich schreibe und schreibe, schreibe über Maria wie im Rausch.

Übach, meine neue Muse,  schweigt neben mir, zieht sich zurück, wartet geduldig auf mich, hört zugewandt  mein hektisches Tippen auf der Tastatur. Meine  Geräusche vermischen sich mit  dem Sturm.  Ich höre die Natur in dem einsamen Zimmer dieses riesigen Hauses so klar, bewusst,  herrlich wie  seit meiner Kindheit nicht  mehr.

Der Himmel tobt, als ob Gott wüten und sich beschweren wolle über uns, die ungeduldigen Kinder, undankbaren Nachfolger Adam und Evas.  Ich verstehe diese Donnerwettersprache langsam!

 

„Nein!!! Nie ist es Euch genug! Immer wollt ihr mehr haben! Immer mehr, mehr, mehr… Noch und noch schneller: MACHT, LUXUS, EWIGE JUGEND, LIEBE, PRESTIGE, WETTBEWERB, SEX, INTRIGEN, GELD…. IHR WIDERT MICH AN, EUEREN VATER IM HIMMEL……..

 

Plötzlich sehe ich am Horizont einen Sonnenstrahl. Und mein Handy piepst: Mein  freundlicher PR-Mann schickt mir eine Message. Er gibt mir einen neuen Tipp in meiner Muttersprache! «Sunce! Prosetaj do Nizozemske. :)! – Sonne! Gehe in die Niederlande, zu Fuß! Punkt. Smiley»

„Ach was!?   Herrliches  Übach-Nein-plus-Humor, eine Spezialmischung, Balkan-Übach?

***

Am nächsten Morgen wache ich früh auf mit einem leichten Rausch im Kopf. In der Bäckerei am Anfang der Fußgängerzone setzte ich mich ans Fenster. Gegenüber palavern zwei ältere Damen, eine Graulockige, die andere frisch gefärbt, brünett, mit einem weißen Strähnchen. Sie quatschen sich  ihre Hörgeräte voll und lachen aus wörtlich vollem Munde; eine hält mit beiden Händen ihre  Zahnprothesen fest.

 

Mein Frühstück in der Bäckerei

 

 Hinter der Theke  schweigen zwei Verkäuferinnen wie Fische. Eine, blutjung, dunkles Haar, breite Hüften, Brille. Die andere: dünn,  blond,  mitten auf dem Kopf heller gefärbt, auf den Seiten rasiert, energische Chefin. Zwei tüchtigen Automaten. Kein Wort. Kein Lächeln untereinander.

Mich strahlt nur ein Zwetschgenkuchen an, was sonst. Ich strahle  zurück und bestelle ein  Stück bei der Chefin persönlich.

„Nein! Das geht nicht!“, sagt sie ernst, entschlossen.

„Wieso nicht????“ staune ich.

„Nein, stückweise verkaufen wir nicht,  nur den ganze Kuchen!“ Punkt.

„Keine  Ausnahme vielleicht?“ frage ich mit einem Lächeln?“

„Neein! Keine Ausnahme! Die Regel gelten für alle gleich.“

 

„Jaaa! O.K. Ich  verstehe!“ sage ich: „ O.K. den ganzen Kuchen, bitte! Und noch einen Kaffee dazu! Bitte!“

Ich sitze am Fenster und esse, esse, esse, verschlinge den halben Zwetschenkuchen. Mein Frühstück. Der schmeckt phantastisch. Nun  bestelle ich noch einen Kaffee und schlinge weiter.

 

„Mitgefühl kennt keine Obergrenze!“

Gegenüber der Bäckerei an der Tür der örtlichen Caritas klebt mein Blick an einem Plakat:

„MITGEFÜHL kennt keine Obergrenze! Wählt Menschlichkeit!“

Wieder mein Übach P. in seiner  wahren Natur: direkt, ohne Verpackung, ohne lange um den Brei zu kreisen: „Nein zur Obergrenze! Ja zu Menschlichkeit!“ Punkt.

Am Abend spüre ich einen Bären-Durst und marschiere in die neue Bierkneipe mit 11 Sorten Frischgezapftem. Ich  bestelle ein Bier und eine Zeitung dazu.

Die Kellnerin, nett,  freundlich, lächelt, sagt aber, das Wort, dass die Übacher wie keine anderen am Besten beherrschen, und das gleich  zwei mal:

„Nein! Nein! Leider  haben wir hier keine Zeitung! Noch ein Bier?“

***

Als ich zurück  ins Gästehaus komme, sitzt auf einer Bank  vor der Eingang zur Schwimmhalle eine rundliche Dame mit einem freundlichem Lächeln. Ich nicke kurz, sage „Hallo“, setze mich neben sie.  Sie warte auf ihren Sohn, sagt sie. „Sie auch?“

Ich drehe den Kopf. “Hier wohne ich“, sage ich.

„Ach!“ Fragezeichenblick. „Was machen Sie hier?“

Ich schreibe, sage ich, ziehe  meine Visitenkarte, frage, ob sie manchmal auch hier schwimme. Sie lacht, „Nein“, sie könne überhaupt nicht schwimmen. Sie komme aus Polen, früher habe man den Kindern sowas nicht beigebracht.

 

Polnische Lösung

„Und Sie?“ „

„Ja, ich würde  gerne hier schwimmen, darf aber nicht, ich bin kein Vereinsmitglied“.

Die Polin  zieht ihre Augenbrauen hoch.

„Ach, was?“ dreht sie den Kopf: „Zuerst tun, dann fragen und denken! So machen wir  das in Pole.“ Das Wort  “NEIN“ soll man nicht so ernst nehmen, wie die Deutschen, meint sie.

In Polen heiße „Nein“ „vielleicht“ oder „lass uns weiter verhandeln, spielen, überreden…“,  meint sie und lacht.

Ich schmunzle.

In Bosnien ist „Nein“ in bestimmten Situationen sogar eine Höflichkeitsform,  eine Art Gong für den Anfang eines Spiels, das Vorspiel eines Verspechens. Sagt ein Gast zum Beispiel „Nein“ dann will der dem Gastgeber Raum schaffen für dessen   Überredenskunst und ihm die Möglichkeit geben, in allen Varianten auch verbal seine Gastfreundschaft zu demonstrieren.

„Nein“ ist  nie  das Ende eines Gesprächs wie in Übach, sondern der Auftakt!

Wie soll man das Übacher „Nein“ – echt, ehrlich, ernst – ins Polnische oder  Bosnische übersetzten, oder umgekehrt, ohne Kriegserklärungen oder Hungernot zu verursachen?

 

Nein ist nein“

Als ich am Anfang in Deutschland bei Freunden gefragt wurde, ob ich Hunger habe, habe  ich sofort  höflich „NEIN“ gesagt, obwohl das Gegenteil wahr war  und dann vergeblich gewartet, dass man mich noch einmal fragt.

„Mit dem deutschen „NEIN“ ist nicht zu spaßen“ meint die Polin.

Jeden Dienstag und Donnerstag holt sie hier ihren Sohn ab. Er ist kräftig schüchtern,  fünfzehn Jahre alt, Vereinsmitglied.

„Nächstes Mal gehen wir etwas trinken, solange die Jungs schwimmen“, sagt die Polin, meine erste  Freundin in Übach, bevor sie geht.

Ich gehe in mein  Zimmer und arbeite an meiner Kloster-Geschichte. Kurz vor Mitternacht sind meine Beine  eingeschlafen und der  Rücken ganz versteift. Ich gehe wie eine Mondsüchtige die Treppe hinunter, um mich  zu strecken. Ins Wasser zu springen wäre natürlich noch besser.

Ich  denke an meine Polin. „Zuerst tun, dann denken?“ Kurz rein und raus? Nur einmal? So wie beim Golfen? Einen Ball schlagen? NEIN!

Ich, gut integrierte Schreiberin,  will keinen Ärger mit  dem Herr B-ärger!

„Nein ist Nein“.

„Das Schwimmbad  nur einmal anschauen?“ Das neugierige Kind in mir hört nicht auf, zu kämpfen und zu bohren. „Ich mag keine strengen Mütter“, sagt es.

„Das muss sein, Herr B-ärger! Sorry!“

 

Die Zarin der Nacht, ich, steige die Treppe munter hinunter.

Eben  noch Gefangene in der kleinen Zelle jetzt Alien in dem großen  leeren Haus im Halbdunkel, halte ich den Schlüssel in der Hand.

Vor der Eingangstür bewegt sich ein Schatten. Zuerst erschrecke ich. Oh, Gott. Ein Krimi in Übach? Ich zittere, komme aber näher. Noch zwei Schritte. Ich erkenne  einen Mann. Sein Gesicht im Halbdunkeln, zerknittertes Bitten.  Er kreist mit seinen Händen. Ich komme noch ein Stück näher.

Wer ist der Mann? Was möchte er hier um Mitternacht?  Ich lächle verlegen,  fühle mich aber hinter der dicken Glasscheibe sicher, gehe noch ein Schritt vor, breite die Hände aus, frage:

„Wat  iss loss?“

Er gestikuliert mit den Händen,  zeigt mit den beiden Zeigefingern auf seine Augen, sein Blick ist  bettelnd, seine Hände  sind zu einem Flehen, einem Gebet zusammengepresst als ob sie zusammengeklebt wären.

Zwischen mir und dem Mann steht die dicke Glasscheibe. Und der Siebenundzwanzig-Zahlen-Code.

Der Man umkreist noch einmal die Augen mit seinen Zeigefingern.

„Ach, Brille?“,  versuche ich zu raten.  Der Mann hat wohl  seine Schwimmbrille im Schwimmbad vergessen? Das  kann  ich nur sicher erfahren, wenn ich die Tür aufmache.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist vier Minuten nach Mitternacht.

Ich schüttele den Kopf. Sage NEIN!

 

Vier Buchstaben mächtig wie (s)ein Schicksal.

Komisch, diese  Ernsthaftigkeit des Wortes. „Nein“  hart  wie ein Schuss.  Der Mann sackt  verzweifelt in sich zusammen.  Versucht es aber doch noch einmal. Wieder faltet er die beide Hände zusammen und fleht mich an.  Also doch kein Deutscher Mann?  Einer aus Polen vielleicht? Türke? Oder Italiener?

Ja. Nun sehe ich vor mir den Caritas-Spruch  „Mitgefühl kennt keine Obergrenze!“  und öffne die Tür.

Oh, danke… Jaaaa, er habe seine Schwimmbrille im Schwimmbad liegen lassen, es sei  seine neue,  ganz teuere Markenbrille, Geschenk seiner Frau zu seinem 40ten.

„Sehr nett, vielen Dank“, sagt er.

Ich nicke kurz und spiele die Chefin des Ladens,  marschiere vor ihm her, öffne ihm die Tür zum Schwimmbad und bleibe stehen.  Der Pool, mein verbotenes Wasserparadies, liegt vor mir: lang, breit, ruhig, schön.  Der Mann findet seinen Schatz genau da, wo er ihn liegen gelassen hatte,   am Rande des Wasserbeckens, wo jetzt so schön der Mond hinein scheint.

Am nächsten Morgen, kurz vor meinem Abschied von Übach-Palenberg,  klopfe ich beim Herr B-ärger noch mal an die Tür. Ich bedanke dafür, dass ich mich in dem großen Konferenzraum zwischendurch doch mit der ganzen Welt  vernetzen durfte.

Der Himmel über Übach-Palenberg

Ob ich eine halbe Stunde länger in meinem Zimmer bleiben könne, frage ich.  Herr B-ärger guckt ernst:

„Nein!“ sagt er. „Punkt 11“. Das Zimmer müsse geputzt werden. Punkt.

„Punkt 11“ schiebe ich meinen Koffer hinter mir her, marschiere auf der leeren Übacher Straße im Rhythmus  des Regens und des herrlichen neuen Übacher Rap: „Nein, Nein, Neeein!  wir wollen kein Ärger, Herr B-ärger…

Mehr von Slavica Vlahovic

Qual der Wahl

Müsste, pardon, dürfte ich in Deutschland wählen, müsste ich am kommenden Sonntag tapfer sein. Verkatert aus dem Bett kriechen, mich im Spiegel gar nicht anschauen, ohne mir Wasser ins Gesicht zu spritzen, ohne Frühstück, ohne Gewissensbisse, einfach geradeaus, ohne Umwege zur Wahlurne marschieren und meine Stimme dem kleinsten Übel abgeben. Fertig.

Mitgefühl wählen? Why not?

Von kleinen und großen Übeln

Eine Woche vor dem Tag D. fliegt die flache grüne deutsche Landschaft vor meinen Augen in Zuggeschwindigkeit an mir vorbei. Ich sitze in der ersten Klasse der Regiobahn (dank der Großzügigkeit des „AVV„), fahre aus dem Heinsberger Land nach Aachen und studiere die frisch aufgenommenen Fotos in meinem Smartphone: Wahlplakate mit vielen Sprüchen unter dem bleigrauen Himmel von Übach-Palenberg, der Stadt mit dem „spröden Charme“, wie sie mein ortskundiger Begleiter nennt. Diese muss eine Qual für meine deutschen Freunde sein, die jetzt wählen müssen, pardon, dürfen:

Ins Neuland, mit Kai, dem Piraten?

Das schöne an den Wahlen sind die kleineren Übel. Sie sagen: „Freu Dich aufs Neuland! Für Freiheit! Für Sicherheit! Für Dich!“ – wie mich ein Babyface von Piraten anlächelt: „Barrierefreies Netz überall!“

Klingt tausend Mal besser als „Grenzen sichern“! Fast so gut wie: „Mitgefühl kennt keine Obergrenze! Wählt Menschlichkeit!“, ein schöner Spruch, den ich am Tag davor in der westlichsten Stadt Deutschland, in „Übach-Palenberg“, an der Eingangstür der örtlichen Caritas registriere.

„Mieten, die bezahlt sein müssen“, „Die Linken“ scheinen zu wissen, was ihre Wähler am meisten kratzt. Wie sie aber den Mieten-Wahn in den Großstädten stoppen wollen, sagen sie nicht.

Netze überall! Mieten zahlen überall!

Drei Meter über die Erde hängen die AfD-Sprüche auf den düster blauen Plakaten, die in das Bleigrau des Himmels über Übach-Palenberg  übergehen: „Deutsche Grenzen sichern!“, „Schuldenunion stoppen!“,  „Asylchaos stoppen!“

   

Oh, Gott! Grenzen! Stoppen! Deutschland! Deutschland! Fast überall! Wo ist da die Alternative? Mut für Deutschland? Was ist mit dem Rest der Welt? Die deutsche Grenzen sichern? Wo? Gleich hier in Übach-Palenberg beginnen? Am ungeschützten Grenzübergang zu den Niederlanden? Wie stoppen? Mit Waffen?

Wer ist der kleine „man“, der alles kann?

„Kinderarmut kann man klein reden. Oder groß bekämpfen!“, darum Grün! Schöne grüne Sprachspiele mit dem Modalverb „kann“, das weder verspricht noch verpflichtet. „Oder“? Darum weiter!

„Damit die Rente nicht klein ist, wenn die Kinder groß sind“. Die Sozialdemokraten haben ihre Gerechtigkeitsthemen gefunden.

Mehr Gerechtigkeit, weiter mit Angela?

Damit sie mit Angela, sie strahlt mit einem unwiderstehlichen Lächeln von den riesigen Plakaten „ Erfolgreich für Deutschland!“ in den nächsten vier Jahren regieren können? Pardon, wollen, sollen, dürfen…?

***

Stammtisch-Probe-Sitzen im Wunderland

Wen werden die beiden deutschen Männer, die nicht unterschiedlicher sein können, wählen, die an meinem ersten „Stammtisch im Wunderland“ , einer Art wandernder Installation, mir zu Probe saßen? Es ist drei Monate her, die Nacht als ich meine Koffer nach Aachen gepackt habe.

Mein Gatte, ein frisch getaufter Genosse, der von seiner ersten Parteisitzung zurückkommt und mit mir bei einem Bier aufgeregt „The Wind of Change“ besprechen will, hat gar keinen Bock auf die beiden wildfremden Männer, die sich zu uns setzen. Ich habe sie angelächelt, aus Versehen, sie mit zwei Witzfiguren aus meiner Heimat verwechselt. Einer, groß, gebückt, unglückliche Augen, leidend unter Trennungsschmerz, wie ich nach exakt einem Bier von ihm persönlich erfahre. Seine peruanische Frau habe ihn, den Pendler zwischen Köln und Aachen, verlassen, weil sie auf ihn nicht mehr alleine zuhause in Köln warten wollte. Sein alter Kumpel aus der Schulzeit, der früher den Balkan als Freiheitsraum und Fluchtort für sich entdeckt hatte, hat die Ehre mit seinem untröstlichen Freund von einer Kneipe zu anderen zu ziehen. „Dat Bier hilft immer!“, meint der Tröster, „Hanni“, wie er sich vorstellt. Er, der ewige Single im 35. Semester Griechisch, Bulgarisch und Rumänisch. Zur Zeit stemple er beim „Onkel Harz 4“, bestellt uns alle eine Runde des dunklen wilden „Exoten“ aus Tschechien, original Prager Bier.

Sex und Religion

Der Tscheche aus der Flasche macht aus uns Experten für alle wichtigen politischen Fragen der Zeit. Hanni stürzt sich auf Angela, „den Mafiaboss mit mädchenhaftem Lächeln, die ihre Feinde meisterhaft verschwinden lässt“. Mein deutscher Mann lobt Martin, den Messias, mit dem er nicht nur die Partei, sondern auch die Gerechtigkeit in Deutschland retten will. Merkel könne mit Kritik umgehen, meint er, weil „sie die Kritik umgeht“.

„Vergiss es!“ sagt der kleine dicke Hannes abwertend.

„Gerechtigkeit ist mit DER Partei nicht mehr zu holen.“

Hannes ganze Familie habe traditionell seit Jahrzehnten Rot gewählt, jetzt seien sie aus Protest und Wut alle ausgestiegen.

Wohin seien sie übergelaufen, will ich fragen, beiße mir aber auf die Zunge. Wählen ist eine zu private Sache, erinnere ich mich. So wie Sex und Religion…

Der traurige Manni will sich irgendwie auch an der Diskussion beteiligen und entlarvt Erdogans Wirtschaftswunder. Ohne Deutschland hätte der „Sultan“ gar keine Chance am Bosporus gehabt, sagt er.

„Dank den anatolischen Türken in Deutschland, die hier von Harz IV leben, kann Erdogan jetzt sogar die Todesstrafe einführen“, fügt Manni hinzu: „Ja, das schaffen wir auch noch!“ sagt Hanni. „Ganz alleine… ohne Putin und Donald“.

Die bosnische Lösung

Ich will die ernsthaften Männergespräche ein wenig dämpfen und erzähle einen Witz von Mujo und Haso, die beiden Bosnier, an die ich gerade dachte als Manni und Hanni hereinkamen und ich sie anlächelte.

Die Lage in Bosnien – Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption – Mujo und Haso zerbrechen sich gerade den Kopf, wie sie ihr Bosnien retten könnten: Haso dreht den Kopf besorgt: „ …zuerst gab es den blöden Krieg, dann kam die Privatisierung, nun müssen wir mit dem brutalen Kapitalismus klar kommen..!“ Mujo streicht sich mit dem Zeigefinger über die Lippen:

„Ach, vielleicht gibt es eine Lösung…“ sagte er.

„Welche?“

„Ein Krieg könnte uns retten! Einer gegen Amerika.“

„Was? Bis Du irre? Ein Krieg gegen die Supermacht der Welt??“ protestiert Haso.

„Genau! Deswegen!“ sagt Mujo. „Gewinnen wir den Krieg gegen diese Supermacht, werden wir Amerika! Verlieren wir ihn, werden wir es auch!“

Die drei deutschen Männer lachen zögerlich über die seltsame Logik der beiden Bosnier und ich glaube, ich muss einen besseren Witz erzählen und bin schon bei dem Cheffe und seiner Muse, Donald und Melania, dem Schreckenspaar aus dem weißen Haus, meinem neuen Albtraum und dichte einen alten Mujo-Haso-Fata-Witz um.

Diagnose: Love, Donald 

„Melania leidet, isst kaum noch, wird immer dünner, schaut traurig, geht von Arzt zu Arzt, doch alle Befunde scheinen in Ordnung zu sein. Als sie von einem Frauenarzt untersucht wurde, will der Arzt unbedingt Donald, ihren Ehemann sprechen:

‚Donald, Ihre Frau ist, wissen Sie, eigentlich gesund’. Pause. Langer Blick. Einfühlsame Stimme. Die Diagnose: Melania braucht Love, ein bisschen Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit, Sex!’

Donald verkrampft sich, schaut mürrisch, sagt nichts, geht raus. Im Wartezimmer sitzt die traurige Melania, knetet ihre langen Finger nervös und fragt: ‚Donald, was hat der Arzt gesagt?’ ‚Nix Gutes!’ meint der mächtigste Mann der Welt. ‚Dir ist, Melania, nicht mehr zu helfen…!“

Ich lache alleine. Die deutschen Männer an meinem Stammtisch sagen „ha-ha-ha“. Meinen bosnischen Humor verstehen sie nicht. Es ist spät, aber sie geben noch einmal alles und setzten ihre ernsthafte, deutsche Analyse fort:

„Schuld an Donald sei das System“, sagt mein deutscher Mann. Das Wahlsystem sei in Deutschland besser als in den USA. „Hillary hatte mehr Stimmen. Eine Millionen mehr…“

„…aber was macht den Unterschied…“, sagt Hannes. „Donald oder Hillary ?… Alles gleich..!“

„Alles gleich???“, regt sich mein deutscher Mann auf. „Wie meinst du das?“

Verschwörungstheorie 

Donald sei eine Witzfigur in den Händen der Weltwirtschaftsmafia. Amerika stecke in den Händen gefährlicher, dunkler Mächte. Donald sei wie Hillary. Ohnmächtig dagegen. Auch er werde von „den dunklen Mächten“ regiert. „Den Drahtziehern!“, so Hannes Theorie.

Manni, der Wirtschaftsexperte, sagt nichts. Er nickt brav vor sich hin. Ob er genau hört, was sein Freund sagt, oder noch in Peru nach seiner Liebsten sucht, die auf ihn nicht jeden Tag warten wollte und in ihre Heimat floh, ist nicht klar.

„Unsinn!“, höre ich meinen deutschen Mann protestieren. „Verschwörungstheorien!“ sagt er. „Wer sind die dunklen, geheimen Mächte?“ fragt er völlig aufgeregt. „Wer???“

„Das kann ich Dir, mein lieber Freund, nicht einfach so sagen. Es ist zu gefährlich!“ flüstert Hannes und kippt den letzten Tropfen des fünften Bieres hinunter.

„Ach, gefährlich? Für wen gefährlich? Was sind das für geheime Mächte! Wer? Sag!“

Hannes dreht feierlich den Kopf.

„Das kann ich leider nicht sagen…“, wiederholt er

Hahn & Hase

In meinem Kopf dreht sich alles vom Bier, lauten Männerstimmen und Stammtischverschwörungen. Ich will nach Hause gehen. Ich will die ganze Bierphilosophie beenden und höre mich sagen:

„… Nicht Juden etwa…oder meinst Du es vielleicht doch?“

Hannes schaut mich verblüfft an, wendet sich zu Manni:

„Siehst Du…?“

Meine Antwort scheint ein Volltreffer zu sein.

„Ach, die Juden und die Weltwirtschaftskrise? Das hatten wir schon mal! Damals in…“, höre ich meinen deutschen Mann protestieren.

„Ja, auch heute in Deutschland regieren sie im Hintergrund!“ sagt Hannes.

„Blödsinn!“ explodiert mein deutscher Mann.

In Deutschland erkenne man sie heute noch an ihrem Namen. „Sie heißen Hase, Fuchs oder Hahn“.

Ich muss laut lachen. Die mütterliche Seite der Familie meines deutschen Mannes heißt tatsächlich Hahn. Und er isst am liebsten bei einem „Hasen“ in Köln.

„Also, so wie wir…! Mein deutscher Mann kommt von einem Hahn… Und ich bin ein Hase“, höre ich mich rufen.

Hannes bekommt große Augen. Mein deutscher Mann springt vom Stuhl und geht. Ohne sich zu verabschieden. Ohne auf mich zu warten.

Besser er geht als dem kleinen, dicken Hannes mit den dünnen Löckchen eine zu knallen, denke ich mir, trinke mein Bier aus, winke den beiden Männern noch einmal zu und folge brav meinem deutschen Mann.

Deutschland ist dran

Ich solle lieber besser aufpassen… warnt mich mein Mann, als er am nächsten Tag den Löffel in die Hand nimmt und mein liebevoll zubereitetes Müsli mit Mango dann doch noch berührt. Wenn ich so weitermache, dem oder dem einfach so zuwinke…, ziehe ich noch das ganze Unglück Deutschlands auf mich, meint er.

„Jetzt ist es sowieso zu spät!“, kontere ich.

„Hätte ich immer aufgepasst, wäre ich gar nicht bei Dir gelandet…“, lächle ich und zwinkere ihm, meinem deutschen Mann, zu.

„Du bist mein Schicksal! Ohne Dich bin ich verloren…“, sagt er.

„Nun ist Deutschland dran!“ sage ich und gehe in mein Zimmer, meinen Koffer nach Aachen zu packen…

***

Kleiner Kim, große Bombe 

In der Aachener Fußgängerzone in der Pontstraße im Café Kittel, hinter dessen großen Scheiben ich den letzten Schluck meines Café au lait koste, wimmelt es von Studenten, Hipstern und Zukunft. Wen werden sie wählen? Müssen? Dürfen? Können? Wie gucken sie auf die Welt? Auf ihre Zukunft?

Meine Zukunft übt in Aachen seit drei Monaten die Welt zu entziffern. Inzwischen ist die Welt dreimal auf die Stirn gefallen. Der kleine Kim aus Nordkorea scheint unseren bosnischen Witz buchstäblich zu verstehen, will den Amerikanern den Krieg erklären und lässt ständig Atombomben über Japan fliegen. Donald scheint überfordert zu sein. Auf der einen Seite dieses irre Babyface mit der Atombombe, auf der anderen Hurrikans und Tornados, die Amerika verwüsten. Er rennt nur mit seiner Melania in Gummistiefeln umher und verteilt viele große Sprüche. Und Martin, der Genosse aus Würselen, der im Frühjahr wie ein Messias durch die Bundesrepublik zog und jeden, inklusive meines deutschen Mannes, mit dem „Wind of Change“ ansteckte, wirkt nun neben Angela wie eine ermüdete Witzfigur.

Natürlich ist weder das Rentensystem noch der Pflegedienst in Deutschland ohne uns Einwanderer zu retten, brüste ich mich bei den Genossen, deren Wahlbroschüre über Rentenprobleme ich in der Hand halte und zwischen vielen Worten und Statistiken zu verstehen versuche. Ich falte die Zeitung zusammen, stehe auf, gehe zur Theke. Plötzlich spüre ich einen stechenden Blick im Nacken. Ich drehe mich um und erkenne ihn sofort, den gebückten Riesen mit großen Augen, umrandet mit tiefen Schatten:

Manni! Die unselige Bekanntschaft aus der Kölner Kneipe meiner Probe-Stammtisch-Phase, der Pendler zwischen Köln und Aachen, meiner alten und der neuen Welt.

Genosse oder Spion

Er wirkt gelassener, als ob er ein paar Steine aus seinem schweren Rucksack inzwischen entleert hätte, und er trägt eine rote Krawatte.

„Genosse oder Spion?“, will ich in meiner direkten Sarajevo-Art raushauen, doch dann beiße ich mir wieder einmal auf die Zunge. Ja, Politik ist zu privat, so wie Sex und Religion.

„Manfred? Du siehst gut aus. Hast Du gute Nachrichten aus Peru?“

„Ja, das habe ich…“ sagt er und seine Augen fangen an zu leuchten.

„Meine Frau hat sich gemeldet!“

Sie haben sich versöhnt. Nach zwei Monaten dürfe er sie abholen. Er wolle sie nicht wieder verlieren, er habe eine Wohnung in Aachen gefunden…

„Einen Tag nach den Wahlen ziehen wir um…“

„Und Hanni? Wirst Du ihn nicht vermissen?“ frage ich noch so nebenbei.

„Neeee“, zieht er leise die Vokale lang. Es ist ihm unangenehm. Sein Blick klebt am Boden.

„Es hat mich gefreut!“ sage ich. „Und vielleicht bis bald. Mit Deiner Frau in Aachen!“…

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