Die Tafeln finde ich schrecklich

Trotz Wind kannst du mich hören, ist das erste, was Thomas in mein Mikro spricht. Es ist selten, dass der erste gesprochene Satz auch der Satz ist, mit dem der Text beginnen wird. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wir sind hier übrigens im Deilbachtal, sagt Thomas. Er kennt das Deilbachtal sein Leben lang, weil seine Eltern hier als frisch Verliebte schon spazieren gegangen sind, eine dieser Geschichten, mit denen man als Kind aufwächst. Thomas stammt aus Ronsdorf, ich sage Ro:nsdorf, Rоnnsdorf heißt es, mit kurzem o, sagt Thomas, aber er sagte es nicht so patzig, wie der Satz vermuten lässt. Er sagt es so freundlich-sachlich, als würde er sich selbst verbessern. Heißt es eigentlich auch Remscheid-Honnsberg, frage ich, aber da, erklärt Thomas, sagt man komischerweise Ho:nsberg.

Wir laufen jetzt ins Ruhrgebiet, aber du wirst es nicht merken.

Hier war einmal die Deilbacher Mühle. Thomas deutet auf ein verfallenes Grundstück, das Reste eines Gebäudes erkennen lässt. Das hat dann ein Investor gekauft und schwupp, ist es abgebrannt. Es war wirklich ein sehr schönes Lokal und hier hinten, man sieht das heute nicht mehr, war ein kleiner Teich mit Bötchen drauf, da sind wir mit meinen Eltern öfter am Wochenende gewesen. Was der Käufer offenbar nicht wusste: dass das hier Landschaftsschutzgebiet ist. Was bedeutet, man darf zwar Bestehendes erhalten, darf aber nicht neu bauen. Seitdem steht Thomas‘ Kindheitserinnerung als trauriges Gerippe in der Landschaft.

Wir kommen am wunderbar gelegenen Hotel Pax vorbei, in dem vor allem Monteure untergebracht sind. Da könnte auch ein schönes Hotel stehen, aber wir sind uns einig, dass man sich auch für die Monteure freuen kann, dass die mal schön untergebracht sind, hier im idyllischen Deilbachtal. Jetzt wird es gleich ein bisschen unbequem, sagt Thomas, aber er meint nicht unser Gespräch, sondern dass wir einen zugewachsenen Trampelpfad entlang laufen müssen.

Wir sind jetzt in Westfalen und sprechen über den gesellschaftskritischen Aspekt der Sozialpädagogik. Thomas hat mir geschrieben, dass er bei einem kirchlichen Wohlfahrtsverband im Kreis Mettmann arbeitet, für Menschen in vielerlei Krisensituationen.

Nur Klempner sein reicht nicht, sagt er. Wir müssen schon auch an den Bedingungen etwas verändern, zugunsten unserer Leute. Die selbst keine laute Stimme haben. Die brauchen uns, damit sie gehört werden. Muss man nicht, frage ich, vielleicht auch dafür sorgen, dass sie. Mit ihrer eigenen Stimme gehört werden.

Wir sprechen etwas abgehakt, weil wir einen steil nach oben verlaufenden Pfad hochwandern. Die Gegend heißt nicht umsonst Elfringhausener Schweiz.

Oder das, sagt Thomas. Das ist. Die Königsklasse. Darum geht’s auch. Aber es gibt dennoch viele, die. Unsere Stimme als Unterstützung brauchen. Man muss, sagt Thomas, aber immer auch das eigene. Tun überprüfen, damit man. Nicht zu paternalistisch wird. Das ist die große Gefahr. Dass wir unserem Helfersyndrom erliegen. Ständiges Thema in unserer Arbeit: Machst du’s für dich oder. Machst du’s für die Leute? Ohne Reflexion kannst du diese Arbeit nicht machen.

Da oben das Haus, sagt Thomas und wir bleiben stehen, das ist ein legendäres WG-Haus, da gibt es viele Geschichten. Ein großer Hund läuft hin und her und bellt aufgeregt, als er uns sieht, als würde er alle Geschichten über dieses Haus auf einmal ausplaudern wollen.

Was sind denn so die gängigen Motive, um Sozialarbeiter:in zu werden?
Ich will Menschen helfen, ich will, dass es den Menschen besser geht, altruistische Motive. Alles ehrenwert, um diesen Beruf anzufangen, und trotzdem muss man irgendwann überlegen, warum man etwas macht, und warum man etwas anderes nicht macht, und diese Motive immer wieder überprüfen.

Warum teilen wir unsere Gewinne nicht?

Beim Abhören der Aufnahmen kommt mir der Gedanke, wie seltsam es doch eigentlich ist, dass nur in den helfenden Berufen selbstreflexives Handeln gefragt ist. Wäre es nicht gut, wenn auch Menschen, die in der Wirtschaft, Politik oder Verwaltung arbeiten, zur Selbstreflexion angeleitet würden? Ich stelle mir vor, wie der Vorstand der Deutschen Bank, der Lufthansa oder von Amazon einmal im Monat ihre Motive überprüfen würden: Warum zahlen wir unseren Mitarbeitern so wenig, dafür unseren Aktionären so viel? Warum teilen wir unsere Gewinne nicht, fordern aber für unsere Verluste staatliche Unterstützung? Was ist in unserem Leben falsch gelaufen, dass wir uns nur für unseren eigenen Profit interessieren? Was macht es mit uns, wenn wir keine Steuern zahlen, aber von den Steuern anderer profitieren?

Aber natürlich hat Thomas Recht, wenn er sagt, dass es wichtig ist, die Hilfesuchenden in ihrer Autarkie zu unterstützen und mit ihnen zu erarbeiten, was sie selbst wollen. Helfen, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, könnte dem im Weg stehen.

Lebenserwartung Obdachloser ist 30 Jahre kürzer

Ich habe, sagt Thomas, großen Ärger bekommen, weil ich die Tafeln ganz schrecklich finde. Diese Almosengaben, das finde ich so entwürdigend. Und wenn sich die Pelzmäntelchen dahinstellen und abgelaufene Joghurts verteilen. Das bringt mich in Rage. Damit habe er sich im Kreis Mettmann nicht nur Freunde gemacht, meint Thomas. Glücklicherweise vertritt aber sein Spitzenverband dieselbe Auffassung. Die Grundsicherungssätze müssen so sein, dass man davon leben kann, und wenn das so wäre, bräuchte in Deutschland niemand Almosen. Ich finde, wir sind ein sozialer Rechtsstaat, und wenn wir das sind, müssen wir auch Butter bei die Fische tun, sagt Thomas und der Kies unter unseren Füßen knirscht, wir laufen jetzt auf einem breiten, flachen Weg.

Es wird Unterschiede immer geben, aber mit aktuell 150 Euro im Monat für Lebensmittel und nicht-alkoholische Getränke, und allein das ist schon ein Hammer – und man hört jetzt deutlich die Verärgerung in Thomas‘ freundlicher Stimme – da kannst du ja mal versuchen, klar zu kommen, insbesondere, wenn du Alleinlebender bist. Das ist deutlich teurer, als für eine Gruppe einzukaufen. Und wenn du dann nicht Haushalt gelernt hast und nicht kochen kannst und dir immer das Fertigzeuch kaufen musst, ne, muss ich glaub ich gar nicht ausführen. Ich finde es unwürdig, dass wir uns in dieser Sache auf die Tafeln verlassen.

Irgendwo knallt es

Die Lebenserwartung von Wohnungslosen, sagt Thomas, ist im Schnitt 30 Jahre kürzer. Viele sehen aus wie 75 und sind noch keine 50. Das liegt natürlich auch an den Begleiterscheinungen wie psychische Erkrankungen, Alkoholismus und all die schönen Dinge, die man bekommt, wenn man auf der Straße lebt. Und oft ist es natürlich auch andersrum, das ist ja auch zum Beispiel das bekannte Drama der Veteranen in den USA, wo Kriegstraumata nicht selten zu Obdachlosigkeit führen.

Da, wo das Windrad ist, da gehen wir hin, sagt Thomas. Wir schauen in die Landschaft und finden sie schön. Irgendwo knallt es. Weil jetzt der Knall gerade ist, mein Vater ist 93, sagt Thomas, ab und zu hole ich ihn ab, dann fahren wir schon mal hierher und erzählen uns immer die gleichen alten Geschichten und eine Geschichte geht so: In den letzten Kriegstagen lagen da die Amerikaner und da die Deutschen oder andersrum und haben sich hier nochmal bekriegt. Da sind so einige Höfe in die Luft gegangen, weil die Dummies vom Dach aus die Amerikaner beschossen haben und die haben einfach den Panzer draufgehalten haben und dann war der Hof weg.

Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man eine so friedliche Gegend sieht, dass hier mal ein Krieg getobt hat.

Wir gehen hier um die Ecke, sagt Thomas, weil da vorne kommen wir gleich wieder runter und ich finde es immer doof, einen Weg zweimal zu gehen. Geht mir genauso, sage ich. Wir keuchen wieder ganz schön, offenbar geht es wieder bergauf. Ich bin studierter Sozialpädagoge, sagt Thomas, bin aber schon seit vielen Jahren äh also, ich bin Funktionär. Er lacht, und tatsächlich klingt er ein bisschen verschämt. So ein Begriff, vor dem ich mich früher geekelt hätte, fügt er zur Erklärung hinzu. Aber ich bin schon seit 25 Jahren in der Geschäftsleitung des Kreiscaritasverbandes, das heißt, ich bin nicht der Geschäftsführer, der ist noch eins drüber, aber eben in einem Gremium, das heißt Geschäftsleitung. Mein Bereich ist Integration und Rehabilitation; Integration, das sind alle Dienste, die mit Zuwanderern zu tun haben oder mit Flüchtlingen, zum Beispiel geht es da um Integrationshilfe und -beratung, wenn man bürokratische Probleme hat; und Integrationsagentur bedeutet, dass wir Anti-Rassismus-Projekte machen, Demokratieförderprojekte, im weitesten Sinne Bildungsarbeit.

Unten saßen die Junkies, und oben saßen wir

Und Rehabilitation, also Wiedereingliederung, da komme ich eigentlich her, weil ich Leiter der Suchtberatungsstelle war, damals ein 2-Mann-Betrieb, und einer davon war ich. Als ich da anfing, war das Büro im zweiten Stock direkt am Jubiläumsplatz und es passierte den ganzen Tag: nichts. Ganze 40 Kontakte im Monat, und das bei zwei Sozialarbeiter-Stellen. Unten saßen die Junkies, und oben saßen wir und schauten aus dem Fenster. Wir sind Caritas, was ist das denn für eine Haltung?, dachte er sich. Das war gar nicht so unüblich zu dieser Zeit, dass eine Beratungsstelle so hochschwellig auf Termin arbeitet. War halt so. Ich habe dann mit den Leuten Kontakt aufgenommen, mich um Streetwork gekümmert und das Angebot nach und nach ausgebaut, Suchtprävention in den Schulen, Elternabende, einen alten Postbulli für den Streetworker gekauft, da konnten die Leute, wenns regnet, reingehen, Mittwochs gabs Suppe, und nach und nach ist da ein lebendiger Ort draus geworden.

Mein erster Arbeitstag war, als ich da ankam und nichts zu tun hatte, und das hatte mit Arbeit ja gar nichts zu tun.

Noch keinen einzigen Bollerwagen gesehen, komisch, ist doch Vatertag heute, meint Thomas. Vielleicht schaffen die es nicht bis hier hoch, glaube ich. Wir machen eine kleine Pause, Thomas hat nichts zu trinken mit, er hat sich voll auf den Berger Hof verlassen. Aber heute ist es ziemlich heiß und wir haben noch eine halbe Stunde dorthin und so teilen wir das Wasser solidarisch.

Mögen die Leute Supervision?

Wir sprechen über Supervision, die in der Regel einmal im Monat stattfindet oder bei schlimmen Ereignissen, da erhöht man schon mal die Frequenz. Mögen die Leute Supervision?, frage ich. Die meisten schon, sagt Thomas. Sie empfinden das als Entlastung. Aber es gibt auch immer welche, die das ablehnen, die den Eindruck haben, man will ihnen zu persönlich aufs Fell rücken, weil, sagt Thomas, das hat schon etwas mit der Persönlichkeit zu tun, da zeigt man schon was von sich. Und dann gibt es die, die sich regelrecht entblößen, das ist dann auch anstrengend für die anderen.

Gibt es in der Pflege auch Supervision? Nein, sagt Thomas. Warum eigentlich nicht?, frage ich, pflegen stelle ich mir auch als sehr belastend vor. Es gäbe auf jeden Fall gute Gründe, das zu machen, meint Thomas. Aber warum es das nicht gibt oder ob es das nicht vielleicht doch in bestimmten Situationen gibt, kann ich dir gar nicht genau sagen. In meinem ersten Beruf war ich selbst Pfleger, in der Psychiatrie, und da gab es Supervision tatsächlich. Es war allerdings die bestgehasste Stunde. Da kam so ein Supervisor, ein renommierter Analytiker, den hatte der Chefarzt besorgt, und der setzte sich hin, sagte kein Wort, eineinhalb Stunden lang war Dampf in der Hütte, keiner wusste, was das sollte. Wir hatten immer das Gefühl, der sollte uns aushorchen.

Thomas zeigt auf die andere Seite, das da drüben ist übrigens Gelsenkirchen, die Schalke-Arena. Ich bin erstaunt, so nah an der Zivilisation sind wir hier, oder was man darunter versteht. Denn auf unserer Seite weiden Pferde und Schafe und sogar Esel, die ich sehr liebe, und zu meiner Belustigung höre ich mich selbst in den Aufnahmen wiehern, als wir an den Tieren vorbeigehen, und Thomas lacht höflich.

Ach, mein jüngstes Baby, das muss ich dir noch erzählen, sagt Thomas. Ich habe nämlich meine Diplomarbeit über Vergewaltiger geschrieben, also nicht über die Opfer, sondern über die Täter. Seit einigen Jahren machen wir nun Täterarbeit, mit rasant steigenden Zahlen. Ein Angebot für Täter von häuslicher Gewalt, das sind in der Regel Männer, aber auch 10-15 Prozent Frauen, Leute also, die sich nicht im Griff haben und ihre Partner:innen verprügeln. Zu uns kommen eher die leichteren Fälle, wobei mir schon schlecht wird, wenn ich höre, was die gemacht haben, das möchten wir alle nicht erleben.

Täterarbeit ist der beste Opferschutz

Was ich so spannend an dieser Arbeit finde, ist, dass wir so viele Selbstmelder haben. 30 bis 40 Prozent melden sich selbst, es gibt da zwar sicher auch einen extrinsischen Druck, zum Beispiel, dass das Jugendamt sagt, du darfst deine Kinder nicht mehr sehen. Aber immerhin: Sie kommen freiwillig zu uns. Es ist ja nicht einfach, darüber zu sprechen, was man gemacht hat, sich dem Schrecken zu stellen. Die sind ja nicht als Monster auf die Welt gekommen, aber haben sich wie Monster verhalten, das muss man schon so sagen. Wir haben mehr Nachfrage, als wir bewältigen können.

Viele sagen, ich bin mir selbst nicht geheuer, die sagen zum Beispiel, ich liebe meine Frau, ich liebe sie wirklich, sie soll bloß nicht mehr so oder so sein. Thomas lacht ein Lachen, in dem tönt das ganze Wissen über die Absurdität der menschlichen Gefühle. Also, wenns gut läuft, stellen die Leute sich dieser Auseinandersetzung, aber, sagt Thomas, das muss man auch sagen, es gibt immer auch welche, die abbrechen und sagen, das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt. Die Leute kommen übrigens aus allen Schichten, wir haben Polizisten gehabt, Rechtsanwälte, auch einen Chefarzt. Die sitzen dann alle in einer Gruppe. Wir machen nur Gruppenarbeit; wenn du in so einer Runde sitzt, dann hast du zehn Spiegel. Die sagen dann, jaja, das kenn ich auch, das ist doch Bullshit, du redest dich doch nur raus.

Täterarbeit, sagt Thomas, ist der beste Opferschutz.

Wir sind nun am Berger Hof angelangt, und hätten wir nicht gerade die Schalke-Arena gesehen, würde ich mich in Oberbayern wähnen oder in Südtirol. Es ist schon Nachmittag, deshalb essen wir was Warmes, nämlich Frikadellen, und ich lade Thomas ein, du machst schließlich bei meinem Projekt mit, sage ich. Thomas lacht und sagt, gut, dann nehme ich das an.

Bonustrack: Versuch, ein Huhn zu fotografieren

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Wanderung von Velbert-Langenberg durchs Deilbachtal
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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