Die difizilen Dämmungen der Dämmerung

Es ist ja mittlerweile ein gut gelüftetes Geheimnis, dass sich der Philosoph Jean Paul Sartre einst ein Arbeitszimmer im Innenhof seiner Pariser Wohnung extra hat anfertigen lassen. Er ließ Schreiner kommen und beauftragte sie, das Zimmer vollständig aus Bücherregalen zu bauen, ohne irgendwelche Steinmauern.

Als die angerückten Schreiner (im franz. Bau-Jargon des 20. Jahrhunderts auch gerne „Holzfrisöre“ genannt) mit ihrer Arbeit fast fertig waren und gerade die dünnen Pappwände als einzige Außenhaut an die Rückseite der Regale tackerten, fragten sie Sartre, ob er sich denn ganz sicher sei, mit seinem Vorhaben und ob sie nicht doch noch eine zusätzliche Dämmung aufbringen sollten. Der nächste Winter würde kalt werden und die Wände seien doch unzureichend dünn. Sartre soll daraufhin gesagt haben: „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Für die Dämmung sorge ich in den nächsten Jahren schon selbst!“ („Ne me faites pas inquiète. Pour l’isolation que je fais dans les prochaines années se redresser tout»)

Nun, wer einmal ein paar Sartre-Werke an eine zugige Türkante gelegt, oder gar welche gelesen hat, der weiß, dass diese sich hervorragend als Dämmerung in vielen Lebenslagen eignen.
Jahre später saß Sartre dann in seinem mittlerweile vollkommen vollgestellten Arbeitszimmer, hatte alle Regale mit seinen eigenen Schriften gefüllt, lehnte sich zurück und sagte (Achtung, das ist jetzt, im Gegensatz zu allem, was Sie bisher gelesen haben, wahr):

Einem Eigentümer spiegeln die Güter dieser Welt das eigene Dasein wider“

Überreste von Sartres Arbeitszimmer (Modellbeispiel)

Ich hatte mir also vorgenommen, mich mit dem Niederrheiner als Eigentümer und als Entsorger zu beschäftigen. Mit seinem Besitz, dem Abfall, den Neuanschaffungen, dem Gerümpel, dem Geröll, den weggeworfenen Apfelkitschen, laminierten Spanplatten, den benutzten Wattestäbchen, den abgewrackten Autos, den aufgelösten Brausetablettenresten und auch noch dem letzten Rotz Bierspucke in seinen Gläsern.

Aber wer ist er denn, dieser NiederrheinerInnen, von dem Hans Dieter Hüsch gesagt hat „Der Niederrheiner weiß nichts, kann aber alles erklären“? Ich finde das ist ein tolles Angebot und ich nehme es gerne in Anspruch.

In Mönchengladbach frage ich wahllos ein paar Leute, wie der Niederrheiner denn so drauf ist. Ich bekomme unter anderem die Antwort, man wüsste es jetzt auch nicht so genau aber der Niederrheiner sei „jedenfalls anders als der Düsseldorfer.“ Aha!

Ich kenne keinen Düsseldorfer, daher sagt mir das jetzt nichts.

(Im Übrigen ist es so: Ganz NRW behauptet anscheinend vorallem ja „anders als der Düsseldorfer“ zu sein. Bis auf Köln, dort behauptet man, auch ungefragt, nicht zu wissen was Düsseldorf ist)

In Düsseldorf haben sie mehr mit Schrebergärten und so“ lautet die Erklärung weiter. Ich glaube dieser Niederrheiner will mich ein Bisschen verarschen. Allgemein scheint Mönchengladbach aber eher eine Stadt zu sein in der heute keiner Krawall will, denn die meisten behaupten tatsächlich sowas wieman könne nicht alle über einen Kamm scheren“, es gäbe ja „überall immer solche und und solche“. Aha. Der Niederrheiner ist heute diplomatisch. Ich ziehe weiter.

Ein guter Ort jedoch, um sich etwas erklären zu lassen, ist in jedem Fall ein Museum. Ich lasse die diplomatisch antwortenden MönchengladbacherInnen hinter mir und fahre nach Grevenbroich in das „Museum der niederrheinischen Seele“ in der Hoffnung, dass es seinem ambitionierten Namen standhalten kann.

Vom Bahnhof Grevenbroich aus ist man recht schnell im Stadtpark, der durch seine grüne Sattheit besticht. Nach ein paar Metern sieht man schon die Villa Erckens. Es ist eines von diesen alten Gebäuden, gelb mit weißem Stuck, über Jahre fleißig renoviert und gepflegt, jetzt inmitten der chlorophyllgestärkten Natur sieht es aus, als hätte man ein Stück Buttercremetorte auf eine Wiese geworfen.

Ich rausche hinein. Außer mir und der Frau an der Kasse ist keine Menschenseele dort. Der Niederrheiner und die Niederrheinerinnen scheinen über die Beschaffenheit ihrer Seelen bereits gut informiert zu sein und sind schon, so sah ich es auf dem Hinweg, konzentriert mit Eis essen zugange. Sie kennen schon genug was ich noch zu erkennen suche.

Der Mensch versteht sich selbst nur im Erleben seiner selbst“, wieder Sartre, ein Satz der sich tatsächlich am besten beim Eis essen und mit der Zunge vorzüglich durchkontemplieren lässt.

Space is the Place, gilt auch in Grevenbroich. Wer diesen Ort hier passiert, hat gute Chancen die Villa Erckens und auch die Eisdielen zu finden.


Die
Dauer-Ausstellung, wegen der ich gekommen bin erstreckt sich über drei Stockwerke. Dialekt-Hörproben empfangen einen schon im Treppenhaus mit den unterschiedlichen Aussprechgepflogenheiten der Ortschaftsbezeichnung Grevenbroich:

Grevenbroooch, Grewwebruch, Grievebuich, Grävenbräuich Griwwebruch.

AEIOUÄÖEI

Der Niederrheiner scheint flexibel und kreativ in der Lautmalerei zu sein. Eine Regel habe ich aber dennoch bereits gelernt, merke:

Ein „ o i “ wird in dieser Gegend häufig wie ein langes „O“ gesprochen, das eine Sekunde am Gaumen zu verharren hat, bevor es hinausflöten darf. Probieren Sie es aus!

Grevenbroich, Hambroich, Broich, Korschenbroich, Tüschenbroich.

Wenn Sie anfangen zu husten, dann machen Sie es falsch.

Im Obergeschoss finden sich weiter viele Mitmach-Stationen und ausklappbare Karten, kurze Statements von Niederrheinern und Niederrheinerinnen zum Thema Energie, ein kleine Sammlung, von niederrheinischen Gemälden aus diversen Epochen (beliebte Motive: Garzweiler, Autobahnen, Landschaft).

Die Welt zu Gast am Niederrhein. Niederheinische Kunst in Petersburger Hängung auf Bordeaux-Rot.

Im Untergeschoss der Villa Erckens befindet sich eine alte Kniehebelmünzprägepresse von 1817. Das 200 Jahre alte Gerät war laut Begleittext seinerzeit „ein Meilenstein der Technikgeschichte.“ Münzen konnten damit mit viel weniger Körperkraftaufwand hergestellt werden als zuvor. Mit dem Wissen darum, dass derzeit in ganz Europa laut darüber nachgedacht wird das Bargeld in Zukunft vollständig abzuschaffen, wirkt das Gerät mit seinem großen hölzernen Rad und dem vielen Eisen umso archaischer. Ich stelle mir vor, wie irgendwann in ferner Zukunft neben dem Katapultähnlichen Gerät, jener Computer stehen wird, mit dem einst der erste Bitcoin errechnet wurde. Unsere ferne wunderbare „gegenstandslose“ Zukunft.

Weiter gibt es im Untergeschoss einen Film aus den 50er Jahren in dem die Bagger und die fortschrittliche Mechanisierung des Braunkohletagesbaus Garzweiler angepriesen werden. Die zackige 50er Jahre Sprechweise imponiert mir, ich schaue den Film gleich viermal hintereinander, um die darin erklärten Optimierungserrungenschaften auch wirklich zu verstehen. Ich werde dieses Wissen sicher gebrauchen können, wenn ich mir demnächst Garzweiler ansehe.

Ebenfalls findet sich im Keller ein Werbefilm einer Zuckerfabrik-Fabrik, die stolz verkündet ihre Bauteile vom Niederrhein aus über den ganzen Globus auszuliefern. Der Spot schließt mit dem Slogan:

Wir können sagen: Unser Feld ist die Welt“.

Ähnliches wird Monika Pirch vielleicht auch mal durch den Kopf gegangen sein, während sie ihren Essayfilm „1ha 43a“ gedreht hat, welcher im 1. Stock der Villa Erckens in voller Länge zu sehen ist.

Der Anlass zum Film: Die Filmemacherin gar selbst hat ein Feld, oder eher ein Stückchen Ackerland von eben dieser Größe geerbt und erzählt in ihrem Film von ihrem Umgang mit diesem Erbe.

Zunächst muss sie es aber finden. Irgendwo zwischen Aachen und Köln gelegen, zwischen unzähligen anderen Äckern versteckt, ist ohne Kartografie nicht auszumachen, wo ihr neuer Besitz anfängt und wo er aufhört. Auf den ersten Blick ist es schlicht weites Land, dessen Anblick Stadtmenschen nur als Ausblick aus dem Regionalzug kennen.

Sartre schrieb in seinen „Wörtern“:

Felder und ein Haus verleihen dem jungen Erben ein stabiles Bild seiner selbst; wenn er seinen Kies berührt oder die Fensterrauten seiner Veranda, berührt er sich und bildet mit Hilfe ihrer Dringlichkeit die unsterbliche Substanz seiner Seele.«

Monika Pirchs Film in der Ausstellung


Man sieht Monika Pirch in ihrem Film
zwar ehrfürchtig, doch auch eher ratlos über ihr Feld stapfen.

Ihr Erbe scheint ihr eher Fremdes zu sein, das sie scheu begrüßt, als dass es sie prompt mit jenem existenziellem Selbstverständnis schwängert, wie es Sartre beschreibt.

Auf konventionelle Weise, was in diesem Falle Ackerbau bedeutet, weiß Monika Pirch mit ihrem Erbe nichts anzufangen, sie hat keine Ahnung von der Landwirtschaft.

Es widerstrebt ihr aber auch, es einfach zu verkaufen, schließlich hat es ihrer Familie über mehrere Generationen als Rückendeckung, als substanzielle Absicherung gedient. Als Lösungssuche spielt sie daher sechs Szenarien durch, was sie mit diesem Stückchen Land mitten im Nirgendwo anstellen könnte: verkaufen, bestellen, Nutzung für Windenergie, Zeltplatz. Wofür sie sich am Ende entscheidet, müssen Sie sich am besten selber anschauen gehen.

Ein durchaus spannendes Portrait einer Lebensfrage.

Die unsterbliche Substanz der niederrheinischen Seele habe ich heute noch nicht entdeckt aber ich habe noch (typisch niederrheinisch?) eher schweigsam bei einem Eis über die Seele kontempliert.

Wie isset?“

Joa….Jut. Und selbst?

Joa….auch.“

Jut“

Sehr geheimnisvoll…

Falls Sie Sartres Arbeitszimmer einmal besichtigen wollen, Überreste davon finden Sie vielleicht noch ungefähr hier:

51° 10′ 49.646″ N 6° 26′ 34.095″ E

Mehr von Deborah Kötting