Welcome to Jülich

Diese Stadt, älter als Jesus, ärmer als eine Kirchenmaus, klüger als die Zukunft –

Meine neue Muse! Im Präsenz.

Angereist aus Düren, mit der Rurtal-Bahn. Alleine.

Mit einem Köfferchen in der Hand und einer roten Hängetasche.

Die Vorstellung, unsichtbar zu sein. In Jülich.

Schon nach drei Schritten werde ich am Bahnhof registriert.

Und herzlich begrüßt: „Welcome to Jülich, Madame!“

Verehrer

Er, Radfahrer, Ende 20, dunkler Teint, bedürftiges Deutsch,

bietet mir Hilfe an und das sofort: sein „friendship?“

Ich lächle verlegen, bedanke mich, schaue mich nach meinem Gastgeber um,

der jede Minute eintreffen sollte.

„Would you have a problem with my friendship, Madame?” will er wissen.

„No, no… „…just, no time!.. Sorry!“

„Thank you Madame, for ‚no problem with me’…“ sagt er.

Ja, er wisse, „in Germany no one have time… Only refugees, like him“

Er habe viel Zeit und suche Freunde, sagt er.

„My Name Ravi!“ stellt er sich vor…

„Es freut mich, Ravi“, sage ich und schaue in die Ferne auf der Suche nach meinem Gastgeber.

„Please give me your Phonenumber… if you like… “

„Excuse me?..“. Ich glaube, ich höre nicht richtig. Er will meine Telefonnummer?

Ich schüttele den Kopf. „I don´t understand you…“

„You and me… friendship, I call you…“ lässt er sich nicht verunsichern.

„Oh Gott!“ Ich fühle mich überrumpelt, belästigt, auch ein wenig geschmeichelt.

Ich schätze ihn zehn, fünfzehn Jahre jünger als mich.

„Nein! Es tut mir leid!“, drehe ich entschlossen den Kopf

Und bevor er seinen Mund aufmacht noch ein mal: „No! Sorry!“

Das scheint ihn aber überhaupt nicht zu beeindrucken. Er versucht es noch einmal:

„Please Madame… we can be friends… sometime…“ fleht sein zerknitterter Blick.

Ich werde nervös, sauer, lasse meinen Kopf aus dem Hals wachsen. Er steht vor mir und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich könnte ihn anschreien, würde er mir nicht – so fremd, so verloren, so hoffnungslos nach Nähe, Wärme, Zuneigung auf dem anonymen deutschen Bahnhof bettelnd – leid tun.

„Wo kommen Sie her?“ frage ich ihn auf Deutsch; die Frage, die ich gar nicht mag, die mir aber in diesem Moment Hilfe und klare Distanz zwischen uns beiden bietet.

„Aus Pakistan…!“ meint er. Seit einem Jahr in Deutschland… einsam, keine Freunde… vor „Bum-Bum“ geflüchtet.

Bevor das Auto meines Gastgebers, das ich von weiten anfahren sehe, ankommt, höre ich mich im Befehlston sagen:

„Gehen Sie, bitte! Mein Mann kommt nun, mich abzuholen. Ich möchte nicht, dass Sie Probleme bekommen…!“

Dieses Argument versteht der einsame Flüchtling aus Pakistan sofort.

„Ok… Ok…“ sagt er, blickt angespannt auf die Straße, dreht seinen Fahrrad herum und verschwindet.

***

Ich werde ins Gästehaus des Forschungszentrum gebracht und bin schnell wieder auf der Straße:

„Panciera“

Unsichtbar sein beim Bummeln, beim Blicken, beim Beobachten… in Berlin, Köln, vielleicht auch in Aachen… nicht in Jülich!

In Jülich verhaken sich die Blicke der Neugierde sofort. Ohne Zögern. Ohne Versteckspiele.

Heiß-kalt-süß

Auch bei „Emanuele Panciera“, in der italienischen Eisdiele gegenüber der Zitadelle unter Sonnenschirmen, wird das fremde Gesicht sofort ins Visier genommen. Meine Tischnachbarin, ältere Dame mit Rollator, ein ausgetrunkenes Glas Tee vor sich, hat den Blick von der Zitadelle auf mich gelenkt.

„Kalt-heiß-süß… wie das Leben selbst“ , kommentiert sie meine Kreation, Crêpes & Eis, die ich genüsslich verschlinge.

„Ihr Zucker“ mache so was leider nicht mehr mit.

Ich schenke der Dame mein Ohr, sie mir ihre Geschichte: ein Stück Bundesrepublik.

Waltraud heißt sie, „wie der Wald, der sich traut“, kommentiert sie den Namen mit dem sie sich seit 81 Jahren alles traut.

Neugierig und nachdenklich wie das Ostberliner Pflegekind, das sie einst war, von den eigenen Eltern verlassen, scheint sie ihrer Mutter, die nach Düsseldorf zu Arbeit geflüchtet war, und dem Vater, der von dem Kind nichts wissen wollte, längst vergeben zu haben.

Auch wenn in den kleinen Pausen, die sie einlegt, um einem tiefen Seufzer Luft zu geben, der kleine Rest des Schmerzes des verlassenen Kindes nicht zu überhören ist.

Das „Gute an der DDR“ sei, sagt Waldtraud, die Bildungs -und Geschlechtergleichheit gewesen. Sogar sie, als Mädchen ohne Eltern, durfte lernen, was sie wollte. Sie habe Elektromechanik gewählt, einen Beruf, mit dem sie später in der Bundesrepublik als Frau nichts anfangen konnte. Ende „der 50er“ sei sie nach Westberlin gegangen, es wurde gemunkelt, dass man „auf der anderen Seite besser lebt“. Ganz alleine sei sie gegangen, meint sie. Die amerikanischen Soldaten haben mit ihr kurz geredet und sie gehen lassen.

Ihr seidiges, adrett gekämmtes Haar, die hohen Wangen, spitzbübisches Lächeln… vor  60 Jahren musste sie die Jungs ganz verrückt gemacht haben.

Geheiratet hat sie einen gut aussehenden Mechaniker aus Siegburg, mit dem sie zwei gesunde schöne Kinder, Tochter und Sohn, auf die Welt brachte, ihr ganzes Glück.

In Jülich habe ihr Mann in der Kernforschung im Forschungszentrum einen gut bezahlten Job bekommen. Als Mechaniker habe er praktisch umgesetzt, was die Wissenschaftler theoretisch erforscht haben.

Sie dagegen habe mit ihrem Beruf die Beamten beim Arbeitsamt völlig überfordert. Damals haben in Jülich die männlichen Beamten nur die Männer beraten und die weiblichen nur die Frauen, schüttelt Waltraud den Kopf.

Mit ihr, einer Frau mit einem „Typisch-Mann-Beruf“, konnten sie nichts anfangen. So musste sie sich „in die Bundesrepublik integrieren“, einen „Frauenberuf“ lernen. Sie wurde Krankenpflegerin und habe dreißig Jahre lang die alten, kranken Menschen bis zum Tod begleitet.

„Den Tod habe ich satt!“

Ihr Mann sei vor 13 Jahren verstorben. An Krebs… „Vielleicht zu viel Kernforschung…“

Sie habe einen Gehirnschlag überlebt.

Jetzt wolle sie leben.

„Punkt“.

Sie komme täglich in diese Eisdiele mit dem Blick auf die Zitadelle, trinke ihrem Tee und lasse ihr Leben vor sich vorbeilaufen „wie auf der Leinwand im Kino“.

Sie wäre gerne wieder so jung wie ihre Enkelin, Doktorandin an der Aachen Universität. Sie sei ganz die Oma. Liebe Technik. Ihre Tochter arbeite auch als Mechanikerin im Forschungszentrum.

„Männerdomäne. Jetzt in Frauenhand. Endlich“.

„Auf das Leben!“ stößt Waldtraud mit einem neuen Glas Tee an.

„Auf die Zukunft… in Jülich!“

Jülich sei ihr Glück, so klein es auch sei, da kenne jeder jeden, sagt Waltraud.

„Vielleicht deswegen…“sage ich.

„Vielleicht…“, antwortet sie.

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