Plan B (Teil II)

Ah, diese Aussicht, sagt Tina und ich höre beim Abhören der Aufnahmen, wie sie in großen Schlücken Wasser aus ihrer mitgebrachten Flasche trinkt. Wir schauen auf die Wupper und sprechen über einen Begriff, der seit der Coronazeit in aller Munde ist: Systemrelevanz. Tina ist, wie bereits in Teil I erwähnt, nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Leiterin der Zentralen Studienberatung an der Uni Wuppertal. Wir sind für alle Fragen rund ums Studium da, sagt Tina, vor allem dann, wenn’s schwierig wird.

Die Arbeit als Studienberaterin ist eine pädagogische Arbeit, denn es geht darum, junge Menschen von einem Bildungsabschnitt in den nächsten zu begleiten. Die Beratung richtet sich an Studierende, aber auch an Schülerinnen und Schüler. Gerade im ersten Prozess mit den Schüler:innen geht es immer auch ein bisschen um Selbsterfahrung, darum, wie man mit Selbstzweifeln umgeht oder auch der Klassiker: Ich kann alles ein bisschen, aber nichts so richtig. Wir werden ja hineingeworfen, in die Freiheit der Berufswahl, zu Engels‘ Zeiten war das noch anders, da wurde man in sein Milieu hineingeboren. Heute ist dagegen vermeintlich alles in unserer eigenen Verantwortung, wir stecken in keinem Wertekorsett mehr.

Industriemuseum Wülfingfabrik

Passend zum Thema bleiben wir nun stehen und diskutieren, wie wir gehen müssen und wo wir stehen. Zuerst hat die eine recht, dann die andere, dann gehen wir in die eine Richtung und dann doch in die andere. Dann kehren wir um. Wir sind über die Nase gelaufen, höre ich Tina in meinen Aufnahmen sagen, was für ein Satz, denke ich.

Biographiearbeit und Arbeitsbiographien

In der Corona-Zeit ist die psychologische Beratung, die auch zur Studienberatung gehört, sehr in den Fokus gerückt, wir haben zusätzliche Stunden angeboten und den Service aufgestockt. Was heißt es, wenn ich mich einer Gesellschaft nicht zugehörig fühle? Arbeit ist ja nur eine Facette im Leben. Wir sprechen mit den Studierenden auch über deren Lebenskontext. Ich nenne das Biographiearbeit, sagt Tina, und ich sage, lustig, bei der Straße der Arbeit geht’s um die Arbeitsbiographie. Das ist jetzt das Komplementär dazu.

Wie läuft denn so eine Studienberatung ab? Es geht vor allem um Reflexionsprozesse: Was habe ich als Kind werden wollen, was macht mir Freude, gibt es Vorbilder? Aber auch: Was gibt es für Hinderungsgründe, zum Beispiel im Ausland oder was mit Tieren, da heißt es dann Ach nö, dafür muss ich ja Medizin studieren. Oder lange ins Ausland ausgehen, das kann ich nicht. Manchmal reicht es aber auch vom Numerus Clausus her nicht oder es gibt sonstige Ausschlussgründe, die gegen ein bestimmtes Studienfach sprechen. Und dann schauen wir nach Alternativen. Es ist ja eh ganz gut im Leben, einen Plan B zu haben.

Wir sind beide der Meinung nach, dass der Plan B eines der wichtigsten Dinge überhaupt im Leben ist. Wer einen Plan B hat, kann mit Plan A scheitern und das absolut Ok finden.

Vielen sei das nicht wirklich klar, sagt Tina, sie glauben, es müsse alles immer perfekt sein, perfekter Urlaub, perfekter Körper, perfektes Studium, perfekte Familie. Und vergessen dabei, dass zum Leben eben auch ganz viele bescheuerte Tage dazu gehören, und ich sage, besteht nicht das ganze Leben vor allem aus denen?

Heilungsprozesse durch die Literatur

Vor ein paar Jahren hat Tina eine Zusatzausbildung im Bereich Integrativer Therapie mit Schwerpunkt Poesie- und Bibliotherapie absolviert, am Fritz-Perls-Institut, hier in Hückeswagen, direkt an der Bevertalsperre. Was ist das denn, frage ich. Etwas ganz Tolles, sagt Tina, da geht es um die Heilkraft der Sprache, des Lesens und des Schreibens, aber auch der anderen Künste. Das Lesen und Hören von literarischen Texten einsetzen in pädagogische Entwicklungsprozesse. Oder auch in Rekonvaleszenzprozesse. Ich habe schon in der Germanistik bemerkt, dass Literatur über die reine Ästhetik der Sprache hinausgeht. Es hat ein viel größeres Potenzial, um in andere Welten, Zeiten, an anderen Orten einzutauchen. Das gilt sowohl fürs Rezipieren als auch fürs Schreiben.

Der Weg, auf den wir nun einbiegen, ist alles andere als perfekt. Wäre dieser Wald ein Zeitabschnitt, wäre er einer der bescheuerten Tage. Umgefallene Bäume, über die wir steigen oder unter denen wir herkraxeln müssen, Gestrüpp, Wurzeln, kleine Äste, die sich in die Haut bohren. Mein Oberschenkel blutet. Auf den Aufnahmen sage ich tapfer, lass uns noch ein paar Meter versuchen. Tina ist skeptisch, möglicherweise denkt sie schon an den Plan B. Der würde lauten: umkehren. Ich aber kehre ungern um, denn wer A sagt, muss auch B sagen, jaja, ich weiß, dass das falsch ist, aber was heißt schon wissen. Nach weiteren zehn Minuten Kraxelei lasse ich mich dann doch überzeugen. Beim Weg zurück sehe ich, wie sich ein dünnes, schwarzes Kabel über eine gefallene Buche schlängelt. Lustig, denke ich. Sieht aus, wie das von meinem Aufnahmegerät.

Wo Riesen Mikado spielen

Es ist nicht nur das Kabel, es hängt sogar noch das Aufnahmegerät dran, das auf der anderen Seite der Buche pendelt. Pendelfriedrich lässt grüßen. Das Mikro und mit ihm der Rest muss sich von Tinas Kragen gelöst haben, als sie an einem Ast hängen geblieben ist. Zum Glück sind wir umgekehrt, sage ich. Und denke, vielleicht muss man erst scheitern, um etwas wiederzufinden, von dem man gar nicht wusste, dass man es verloren hat.

Manchmal muss man auch erst scheitern, um danach den einfacheren Weg zu sehen. Zu sehen, dass auch auf der Straße der Arbeit ein Plan B existiert. In unserem Fall beginnt Plan B etwa 20 Meter vor den ersten Baumleichen. Er führt uns steil, aber elegant durch den Wald, vorbei an dem Chaos aus Stämmen und Sträuchern, die von oben aussehen, als hätten gelangweilte Riesen Mikado gespielt. Und hinter jeder Lücke glitzert die Wupper auf ihrem Weg nach – ja wohin eigentlich? Nach Leverkusen, sagt Tina, dort mündet die Wupper in den Rhein.

Hier lesen Sie Teil eins der Wanderung mit Christine Hummel

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit II von Radevormwald nach Hückeswagen
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier