MOMUMENT Teil VIII

ACHT

Vollkommene Stille, nur ab und zu ein Rascheln im Gebüsch unter der Brücke, auf der ich immer noch stand. Über mir Sterne, kein Mond, ein Fetzen am Himmel – eine Fledermaus nahm ich an. Ich drehte mich um und ging langsam über die Brücke, die unter meinen Schritten knackte. Auf der Wiese dahinter lagen hunderte blassgrüner Lichter verstreut, die im Dunkeln zitterten, sich langsam durch das trockene Gras bewegten, in Gruppen nah beieinander saßen, im Gebüsch hockten. Ich blieb auf der Wiese stehen. Eines der Kaninchen war nur wenige Meter von mir entfernt. Ich konnte seine Augen sehen, die in keine bestimmte Richtung zu blicken schienen – wie zwei winzige schwarze Löcher, die in einer fernen leuchtenden Galaxie umeinander kreisen, kreisen, kreisen, kurz bevor sie zusammen stürzen.

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MOMUMENT Teil VII

SIEBEN
Ich sah auf die Anzeige auf meinem Armband. 2027. Die Zahl wackelte, als ich einen Finger darauf legte, dann swipte ich nach links. 2028, 2029, 2030, 2031, … 2050.

Ich stand immer noch auf der Brücke, aber es gab kein Wasser mehr darunter. Der Teich war soweit ausgetrocknet, dass nur noch ein kleiner Pfuhl übrig geblieben war. Immer noch stand eine Gruppe Hirsche am Ufer, einige von ihnen tranken aus dem brackig wirkenden Wasser. Auch ein paar Heidschnucken waren weiter hinten zwischen den Bäumen zu sehen. Die Kanada Gänse waren verschwunden. Stattdessen sah ich unzählige Kaninchen auf der Wiese. Ihr fast silbern glänzendes Fell schimmerte in der Sonne, nur Leucht-Kaninchen hatten so ein Fell. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatten sie sich noch nicht derart ausgebreitet. Ich erinnerte mich noch gut an die Debatte damals. Meine Tante hatte sich wahnsinnig über die Engstirnigkeit der Dülmener geärgert. Die Leucht-Kaninchen verhielten sich im Grunde genau wie ganz normale Wildkaninchen, nur dass sie sich schneller fortpflanzten und im Dunkeln leuchteten. Sie waren völlig harmlos. Trotzdem galten sie einigen als invasive und darum unerwünschte Art, oder sogar als unnatürlich. Dass auch das gemeine Wildkaninchen irgendwann mal aus Spanien hierhergebracht worden war, wurde großzügig übergangen. Der alte Herzog von Croy hatte sich noch dafür eingesetzt, die genmanipulierten Karnickel aus dem Wildpark fernzuhalten.

Diese Debatte um die Leuchtkaninchen im Wildpark war aber nur einer der vielen Ausdrucksformen eines sehr viel größeren Diskurses gewesen, der die gesamten Dreißiger bis Fünfziger Jahre geprägt hatte: der Kampf zwischen Denkmalpflege und -schutz, zwischen Nähe und Distanz, Progress und Konservierung, zwischen zwei Generationen. Typen wie der Herzog standen für ein älteres Verständnis von Naturfürsorge, das auf der dichotomen Trennung zwischen Natur und Kultur basierte. Das zu Schützende, die Natur musste diesem Verständnis nach durch Einhegung vor den kulturellen Zugriffen des Menschen bewahrt und konserviert, teilweise sogar rekonstruiert werden.  Die Natur, womit man für gewöhnlich irgendeinen historischen Zustand meinte, wurde als Opfer kulturellen Handelns, womit man ausschließlich menschliches Handeln meinte, dargestellt.

In dieser Hinsicht war die Debatte um die Leucht-Kaninchen, wie mir nun aufging, vielleicht doch eine besondere gewesen. Denn auch wenn die meisten begrifflich immer noch an der überkommenen Dichotomie festhielten, waren sich doch eigentlich alle und sogar der Herzog darüber im Klaren, dass Kultur und Natur gerade im Park schon lange nicht mehr voneinander zu trennen waren. Vielleicht waren sich die Münsterländer dessen bewusster als andere, weil sie schon seit Jahrhunderten in einer im besonderen Maße kulturell geformten Landschaft lebten und arbeiteten. Und trotzdem glaubten viele der Älteren, diesen bestimmten Zustand, den sie nun gerade als „natürlich“ empfanden, konservieren zu müssen. Kulturell Konstruiertes war zur Natur geworden, wie so oft, wie viel zu viel zu oft.

Aber weshalb glaubten diese Leute überhaupt, die Natur, das Natürliche vor dem Menschen schützen zu müssen? Doch nur weil sie kein anderes Verhältnis zur „Natur“ kannten als das zugreifende, begreifende, das Verhältnis von Subjekt zu Objekt. Wie anmaßend vom Menschen zu glauben, er allein habe die Macht, durch seinen Zugriff die Welt zu formen, er allein sei aktiv, während alles „Natürliche“, genauso wie Technische zur Passivität verdammt sei. Wie anmaßend, zu glauben, er selbst und er allein könne seine Fantasie vom „Urzustand“ Wirklichkeit werden lassen. Impliziert dieser Gedanke doch die völlig selbstherrliche Annahme, dass alle geschehenen Veränderungen seitdem allein vom Menschen herbeigeführt worden sind, bzw. dass der Mensch vollkommen zu fassen vermag, was sich seitdem verändert hat, und darüber hinaus die Macht besitzt, diese Veränderungen gewaltsam, ja wirklich gewaltsam wieder rückgängig zu machen. Was ist denn mit all den Wesen der Natureculture, die sich an die neuen Umstände angepasst haben? Was ist mit ihnen, den Wildkaninchen, den Leuchtkaninchen, den Flamingos, dem Springkraut?

Nie hat der Versuch, etwas wiederherzustellen, tatsächlich das Wiederherzustellende wieder hergestellt. Immer ist etwas Neues dabei entstanden. Wie könnte es auch anders sein, denn jede Restauration ist eine Konstruktion und jede Konstruktion findet in Zusammenwirkung einmaliger prozesshafter Konstellationen menschlicher und nichtmenschlicher Akteure statt. Darum haben alle Restaurationen eigenen Charakter, anzunehmen sie hätte keinen, bedeutet nicht nur eine Geringschatzung der Leistung des Restaurators und eine Geringschatzung der Restauration, sondern auch eine Herabsetzung des Restaurierten. Was die Restauration schafft, ist an einen Prozess zu erinnern, an den ewigen Prozess des Erhaltenes Veränderns, Restaurierens, Gedenkens, aber um irgendetwas tatsächlich wiederherzustellen, dazu müsste man schon die Zeit zurückdrehen und anhalten.

Glücklicherweise hatte spätestens mit der Erfindung der 3-D-Scantechnik und der neuen digitalen Archivierungsmöglichkeiten ein allgemeines Umdenken in Bezug auf den Denkmalschutz bzw. die Denkmalpflege stattgefunden. Sobald es möglich war, das Gegenwärtige fast originalgetreu festzuhalten und zu archivieren, konnte man in der nicht virtuellen Realität wieder den Wandel zuzulassen und fördern. Auch die Politik der von Croys musste sich nach dem für damalige Verhältnisse sehr späten Tod des alten Herzogs verändert haben, denn die Kaninchen schienen sich frei ausgebreitet zu haben.

Ich sah wieder auf die Anzeige an meinem Armband. Erst jetzt erkannte ich, dass unten auf dem Display auch der Monat und die Uhrzeit standen: April, 17:30 Uhr. In der rechten oberen Ecke war eine kleine Sonne abgebildet. Ich tippe auf das Sonnensymbol und eine Mondsichel erschien an seiner Stelle. Wenige Sekunden später war es Nacht.

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MOMUMENT Teil VI

SECHS
Alles sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Links ein kleines Stück Moorwald mit hohen  Buchen und dichten Büscheln Binsengras bewachsen, der Schotterweg, der unter meinen Schritten knirschte, am Wegrand hohe Stapel gefällter und entasteter Baumstämme, die bis zu Abtransport hier lagerten. Links des Weges war gerade eine größere Fläche gerodet worden. Ein ganz feiner Geruch von Verwesung stieg vom Moor auf, Pollen trieben durch die Luft, kitzelten in meiner Nase, Amseln, die im Laub zwischen den Bäumen raschelten.

Der Weg führte erst durch einen lichten Wald, an einem Haus vorbei und gabelte sich dann. Weiße Blühten wehten von den beiden Weißdornbäumen an der Ecke über den Weg, blieben in meinem Haar hängen und an den moosbewachsenen Baumstämmen, die am Weg lagen. Ich streckte einen Finger aus, um das Moos zu berühren, zog ihn dann wieder zurück. Mein Roller stand an der Weggabelung.

Ich stieg auf und fuhr lautlos und im Schritttempo geradeaus weiter. Der Wald links von mir war durch einen Zaun abgesperrt. Dahinter wuchsen junge Birken, Buchen, Kiefern, darunter Farne und anderes Gestrüpp. Rechts von mir führte ein kleiner Graben am Weg entlang, dahinter ältere Kiefern, Eichen und Roteichen auf unebenem Waldboden. Ich dachte daran, was meine Mutter mir über die konservierende Wirkung des Parks erzählt hatte. Unter den bewaldeten Flächen, hatte sie erklärt, lagen noch die mittelalterlichen Äcker. Ich konnte mich allerdings nicht an den Begriff erinnern, den sie verwendet hatte.

„Du meinst wahrscheinlich den Ausdruck ‚Wölbäcker‘“, sagte die Stimme. „Der Wildpark Dülmen wurde etwa 1860 von den Herzögen von Croy nach englischem Vorbild gestaltet. Durch seinen Baumbestand und den Schutz vor landwirtschaftlicher Nutzung wirkte der Park konservierend für die mittelalterlichen Wölbäcker, welche durch Plaggendüngung und das Pflügen mit einscharigem Beetpflug entstanden waren. Durch die Düngung mit Weide- und Waldboden, sogenannten Plaggen, wuchs das Ackerland über die Jahrhunderte hier bis zu 80cm in die Höhe.“

„Danke für den Vortrag“, dachte ich. „Bitte. Soll ich dir noch mehr über den Wildpark Dülmen erzählen, zum Beispiel über den englischen Landschaftsarchitekten Edward Milner und seine elf Kinder?“
„Nein Danke.“

Ich fuhr an dem gigantischen Rhododendronstrauch vorbei. Er war eingezäunt, vielleicht damit die Tiere ihn nicht anfraßen. Meine Mutter hatte diesen Strauch geliebt. Ihre eigenen im Berliner Garten waren immer nach ein paar Jahren eingegangen. „Rhododendron“, hatte sie in diesem verzückten Tonfall gesagt und eine der Blüten abgebrochen. Damals hatte ich es peinlich gefunden, die Art und Weise, wie sie „Rhododendron“ gesagt und dabei geguckt hatte.

Nach ein paar Minuten verließ ich den kleinen Wald. Links erstreckte sich eine weite Wiese, rechts der Herzteich, hinter dem weitere Wiesenflächen lagen, auf denen einzelne Bäume und Baumgruppen scheinbar willkürlich verteilt waren. Eine kleine Gruppe Hirsche stand am Teich, daneben Kanada Gänse. Zwischen den Bäumen grasten Heidschnucken. Eine Ente führte ihre Küken ins Wasser. Ich hielt an der Brücke über den Teich an.

Drei Männer saßen auf einer Picknickdecke im Schatten einer Buche. Ein Kind, wahrscheinlich ihr Sohn lief über die Brücke und auf mich zu. „Bitte, keine Menschen“, sagte ich. Der Junge und die Männer verschwanden. Die Picknickdecke blieb. Ich stellte den Roller ab, betrat die Brücke und schaute auf das Wasser. Ich dachte daran, wie meine Mutter und meine Cousinen ihre Füße ins Wasser gehalten hatten. Sofort war eine Drohne angeflogen gekommen, aus deren Lautsprecher eine Stimme sie ermahnt hatte, der Teich sei nicht zum Baden da. „Wir baden doch nicht“, hatte meine Mutter gesagt und der Drohne einen Vogel gezeigt.

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MOMUMENT Teil V

FÜNF
Als erstes hörte ich die Vögel. Eine Amsel ganz in der Nähe. Ein Kuckuck. Die anderen Vogelstimmen erkannte ich nicht. Dann spürte ich leichten Wind. Die Gerüche kamen alle auf einen Schlag – Holz, Gras, Dung, Schnecke, wie nach einem leichten Regen, schwerer urinartiger Blütenduft und noch etwas anderes, das ich nicht zuordnen konnte. Leichter Schwindel überkam mich. Noch sah ich nur verschwommene Umrisse und Farben. Ich blinzelte ein paar Mal und versuchte mich hinzuhocken, um Halt zu finden, aber der Boden unter mir hatte sich noch nicht fertig entwickelt und mein Körper fand keine feste Position im Raum. „Bitte bleiben Sie ganz ruhig“, sagte die Stimme in meinem Kopf. Es fühlte sich an, als würde ich im Wasser treiben. Mir wurde schlecht von der überwältigenden Vielfalt vertrauter Eindrücke.
Nach ungefähr dreißig Sekunden hatte sich das Bild vollständig aufgebaut und ich hockte vor dem geöffneten Tor zum Park.  Rechts von mir neben dem Weg stand ein Baumstumpf. Der Baum musste erst kürzlich gefällt worden sein. Das Holz war hell und feucht und duftete, ich setze mich zitternd auf dem Stumpf und weinte.

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MOMUMENT Teil IV

VIER
Das Münsterland hatte sich als erste Region in Deutschland für die Teilnahme am Projekt beworben und war direkt angenommen worden. Mit seinen Schlössern und Burgen vor allem aber wegen der über die Jahrhunderte geformten und immer wieder umgeformten Parklandschaft galt es als Prozess-Denkmal europäischer Natureculture. Daher existierten hier für einige Teilregionen Prozessaufnahmen von fast sechzig Jahren und landschaftliche Rekonstruktionen, die das gesamte 20. Jahrhundert umfassten. Ich zoomte auf dem momument Designer an Deutschland heran, dann an Nordrheinwestfalen und wählte schließlich den hellgrau markierten Bereich zwischen Dülmen und Senden aus. Ich war zwar in Berlin geboren, hatte jedoch einen Großteil meiner Kindheit bei meiner Tante Mia verbracht, die mit ihrem Mann westlich von Hiddingsel einen Gnadenhof für Pferde betrieb und ihr Geld als Grafikdesignerin verdiente.

Meinen Startpunkt setzte ich beim West-Tor zum Wildpark, 2026, das Jahr, indem ich gemeinsam mit meiner Adoptivmam zum ersten Mal dort gewesen war. Als Fahrzeug wählte ich einen Dachroller mit Solar- und Pedalantrieb. Vom West-Tor aus wollte ich damit durch den Park bis nach Hiddingsel und ein Stück am Kanal entlangfahren. Gegen Aufpreis hätte ich sogar in einem V-Hotel in Senden oder Lüdinghausen übernachten können, aber der Gedanke, meinen Körper die gesamte Nacht über gemeinsam mit irgendwelchen Unbekannten in einem der Bibliotheks-Zimmer liegen zu lassen, war mir unheimlich. Ich tippte auf Start. Eine kleine Schublade öffnete sich, in der ein flacher Armreif lag. „Bitte folgen Sie den grünen Pfeilen“, sagte eine Stimme in meinem Kopf.

Die grünen Pfeile vor mir auf dem Boden führten mich quer durch die geflieste Halle zu einem der Fahrstühle. Eine ältere Frau steig mit mir ein, ich mied ihren Blick, setzte mich auf einen Stuhl in der Ecke, dann schlossen sich die Türen und der Aufzug setzte sich lautlos in Bewegung. Durch die transparenten Türen konnte man die Stockwerke hinauffliegen sehen. Im sechsten Untergeschoss fragte mich die Frau, welche Landschaft ich mir ansehen würde. Ich lächelte sie kurz an. „Münsterland“, sagte ich im achten. „Ach!“, sagte sie im neunten. „Deutschland?“
„Ja. Und Sie?“, im zehnten.
„Zingaro, Sizilien“, antwortete sie. „Da war ich früher oft als Jugendliche mit meinen Schwestern.“ Ich nickte im zwölften. Offenbar ging es vielen wie mir. Der virtuelle Erd-Tourismus war nicht mehr wie früher von Abenteuerlust, Neugier, Langeweile oder Wissendurst angetrieben, sondern von Heimweh. Im fünfzehnten Untergeschoss stieg ich aus.

In meinem Zimmer standen insgesamt vier Betten, von denen zwei bereits belegt waren. Ich wählte das hinterste, setzte mich darauf und betrachtete die anderen zwei Reisenden. Eine Frau mit bleicher Haut und goldenen Tätowierungen im Gesicht lag direkt neben mir. Weiter vorne ein haariger Mann, er hatte sich auf den Bauch gelegt, sein Gesicht war zur Wand gedreht. Manchmal lachte er leise im Schlaf. Auf Anweisung meines Guides schloss ich meine Tasche in dem Schrank neben dem Bett ein, trank einen Schluck Wasser und legte mich dann hin. Eine feingliedrige Hand schob das Haar über dem R-Con unter meinem Ohr zur Seite, zog den Con heraus und schloss mich an die Bibliothek an. Vor meinen Augen wurde es schwarz.

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MOMUMENT Teil I-III

„Man kann heimkehren, wenn man denn begreift, dass ‚heim‘ ein Ort ist, an dem man noch nie war.“ – Ursula K. Le Guin

 

EINS

Als Kind war ich der Erde näher.
So scheint es mir zumindest. Und ich meine damit nicht etwa den Planeten Erde, dem ich selbstverständlich näher war, sondern den Erdboden. Natürlich könnte dieser Eindruck einfach auf meinen damaligen Blickwinkel zurückzuführen sein, denn tatsächlich war mir der Boden damals wohl um einiges näher als jetzt. Und ich sage interessanterweise „ich“, spontan, und meine damit eigentlich: meine Augen. Sind meine Füße oder Waden etwa weniger „ich“ als meine Schädeldecke oder mein Gesicht? Und trotzdem ist da immer dieses Gefühl haltlosen Schwebens und unklarer Beziehungen und Zugehörigkeiten im Raum. Gehöre „ich“ eher dem Himmel, der Decke, der Höhe an oder eher dem Boden? Immerhin verbindet mich mit dem Boden noch die Erinnerung an eine wohl einmal dagewesene engere Beziehung und natürlich die Schwerkraft.

Ich glaube aber gar nicht, dass dieses Gefühl der Erdnähe etwas mit meiner Körpergröße zu tun hat, sondern eher damit, dass der Boden, auf dem wir uns bewegen, metaphorisch und damit auch emotional für einen Ausgangspunkt, für eine Ursprünglichkeit, für eine reine Gegenwart steht bzw. liegt. Vielleicht verwechsle ich aber auch Ursache und Wirkung, und der Boden bedeutet nur deshalb diese reine Gegenwart, diese Ursprünglichkeit, weil ich, als ich ihm noch nahe war, Kind war und damit vergangenheits- und zukunftslos.

Jedenfalls – wenn ich mich nach der Vergangenheit sehne, nach meiner Heimat, nach meiner Kindheit, und es ist immer dieser unauflösbare Komplex, so ist es auch die Nähe zur Erde, nach der ich mich sehne.

Manchmal spüre ich den Drang, mich hin zu knien, meine Wange auf den Boden zu legen oder mein Gesicht in die Erde zu drücken, darin zu graben, mich einzugraben. Vielleicht ist es auch zum Teil eine Todessehnsucht, eine Sehnsucht nach Auflösung, Renaturierung, nach Kompostierung, Kollektivierung, die mich zur Erde zieht. Ich weiß es nicht. Aber selbstverständlich lässt sich das erinnerte und ersehnte Gefühl der Erdnähe bzw. nicht einfach befriedigen durch ein Picknick oder ein paar Bodenübungen. Solche Versuche haben sogar eher die gegenteilige Wirkung, denn sie geben mir zu spüren, wie fremd ich diesem Erdboden geworden bin, wie weit davon entfernt. Es ist, als würden sich unter mir die Erinnerungen stapeln und mich vom Ursprung entfernen. Es gibt nichts, das das Gefühl der Erd-Entfremdung aufheben kann.

Aber auch Gefühle sind nur Reaktionen auf Relationen. Als Kind war ich mir nicht bewusst darüber, dass es einen anderen Zustand geben würde, ja, dass man der Erde ferner sein könnte, als ich es damals war. Das heißt: Eigentlich kenne ich das Gefühl, der Erde so nahe zu sein, wie ich es für möglich halte, gar nicht. Ich weiß nur, wie es sich anfühlt, diese Erdnähe bereits verloren zu haben. Steckt in dieser Erkenntnis mehr als nur die plumpe Einsicht, dass wir lediglich das zu schätzen lernen, was uns abhanden gekommen ist? Oder ist diese Einsicht selbst weniger plump, als ich bisher angenommen habe, ohne je wirklich darüber nachzudenken. Wenn ich das Gefühl der Erdnähe nie als solches gespürt habe, sondern es nur in absentia kenne, dann existiert dieses Gefühl nicht, es ist reine Illusion.

 

ZWEI

Seit der Eröffnung von momument war ich nicht einmal dort gewesen. Allen anderen gegenüber behauptete ich, es sei das allgemeine Einverständnis, die kollektive Begeisterung darüber, die mich davon abhielt. Und es mißhagte mir tatsächlich, dass plötzlich alle vorgaben, sich auf eine Welt einigen zu können und darauf vor allem, sich diese Welt zu teilen. Diese Welt jedoch war zerstört und eine zerstörte Welt zu teilen ist leicht. Der ekelhafte vermeintliche Konsens täuschte über die Egoismen, die Arroganz und die Ignoranz hinweg, all das Desinteresse. Sie hätten sich auch einfach irgendein Denkmal für den persönlichen Gebrauch downloaden können, aber nein, jetzt plötzlich hieß es: gerade die Tatsache, dass momument ein gemeinschaftliches Erlebnis und gemeinschaftliches Gut sei, ein öffentlicher Zeit-Ort, eine Bibliothek, mache ihn zu einem wertvollen Denkmal – nicht nur für die Landschaften, Kunst- und Baudenkmäler, sondern auch für das menschliche Zusammenleben auf der Erde. Dass die Erinnerung an dieses Zusammenleben für einige Menschen geschweige denn für andere Erdbewohner nicht gerade eine Erinnerung darstellte, die man teilen und genießen wollte beziehungesweise konnte, wurde übergangen. Es ärgerte mich die Vorstellung, dass all diese Leute sich nun gemeinsam ansahen, was sie jeder für sich allein zerstört hatte.

Aber nicht nur dieser Ärger und dieser Ekel hatten mich abgehalten, momument zu nutzen, sondern auch die Angst davor, es könnte meine Erinnerungen beeinflussen – Erinnerungen, die ich in mir hegte, und die wachzurufen ich mir nur selten und zu besonderen Anlässen erlaubte, weil ich befürchtete, sie könnten verformt werden und abgenutzt bei zu häufigem Gebrauch – wie das teure Geschirr, das meine Mutter nie hatte benutzen wollen, aus Angst, es könne seinen Glanz verlieren.

Nun aber stand mein zweiter und wahrscheinlich letzter Umzug an. Urras würde zu einem weiteren verlorenen Ort werden. Von Anfang an war für mich klar gewesen, dass der Jupitermond nur eine Zwischenstation sein würde, eine Zwischenstation für eine Übergangsphase, und diese Phase war nun vorbei. Trotzdem verspürte ich plötzlich dieselbe Angst, wie kurz vor meiner Abreise von der Erde, die Angst davor, etwas Vertrautes ein für alle Mal zu verlieren, die Angst davor, dass ich etwas vermissen oder bereuen könnte, das ich jetzt noch nicht zu schätzen wusste. Ich denke, diese Angst war es, die mich dazu bewegte, momument doch noch zu besuchen, in meiner letzten Woche auf Urras. Ich glaubte wohl, mich selbst daran erinnern zu müssen, wo ich eigentlich herkam, was ich eigentlich zu vermissen hatte, und dass das hier nur eine Übergangsphase war, eine mir fremde Zwischenstation.
Eine vertraute Sehnsucht ist sehr viel leichter zu ertragen als die Angst vor einem neuen und fremden, und darum in seinen Ausmaßen unberechenbaren Vermissen.

 

DREI

Das momument Archiv war extrem unübersichtlich. Bestimmte Landschaften waren nur in einem Zeitraum von wenigen Jahren, Stunden oder Minuten vorhanden – abhängig davon, ob sie gezielt für die Landschaftsbibliothek gescannt oder von irgendwelchen Urlaubern aufgenommen und in die Open Source Datenbank eingespeist worden waren. Auch die Qualität der Aufnahmen und Rekonstruktionen unterschied sich teilweise gewaltig. Qualitativ besonders hochwertig waren die Landschaften, die sich durch ihren hohen Denkmalwert für die professionelle Archivierung qualifiziert hatten und in denen daher eine konstante Archivierung stattgefunden hatte. Oftmals existierten zu solchen Landschaften auch Rekonstruktionen, der den Aufnahmen vorangegangenen hundert bis zweihundert, teils sogar (mit Lücken!) bis zu viertausend Jahre, die anhand von älteren Scans, Fotografien, Karten, Zeichnungen, Gemälden, Beschreibungen, Berechnungen usw. hergestellt worden waren. Zu den ältesten archivierten Landschaften gehörten der Grand Canyon, die ägyptischen Pyramiden und der Sechin Komplex in Peru.

Eigentlich hatte ich mich schon im Vorhinein dafür entschieden, jene Landschaft auszuwählen, in der ich meine Kindheit verortete und in der ich nach meiner Auswanderung von Deutschland nach Sri Lanka nur noch sehr wenige Male gewesen war. Aber als ich in der Eingangshalle vor dem momument-Designer stand, zweifelte ich für einen Moment an meiner Entscheidung. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nutzen und in den mexikanischen Dschungel gehen, die Antarktis vor der Gletscherschmelze besuchen oder auf den Mount Everest steigen. Wann würde ich noch einmal in die Lage kommen, diese Orte und Zeiten so realistisch zu erleben? Nie wieder vermutlich. Keines der privaten Unternehmen konnte eine solche Auswahl und so hohe Qualität anbieten wie momument.
Aber dann ging mir auf, dass ich einen virtuellen Eisberg niemals von einem echten unterscheiden können würde, weil mir der Vergleich fehlte. Die Qualität spielte hier also eine weniger große Rolle, während mir auch nur die geringste Abweichung in der Beschaffenheit einer Lammkraut-Blüte oder im Ruf eines Kiebitz‘ sofort auffallen würde. Das dachte ich zumindest.

Mehr von Charlotte Krafft