Atze
23. März 2022
Wenn ich morgens in meiner Unterkunft die geräumige Küche betrete, treffe ich immer zuerst auf Atze. Atze liegt vor dem Kamin und ist der Hund von Erika, meiner Vermieterin. Früher habe ich ihn immer im Flur liegen gehabt, erzählt sie mir, damit die Einbrecher denken, da liegt ein Hund. Atze ist schon sehr alt, und das war er auch schon, als Erika ihn 1992 aus dem Tierheim zu sich nahm.
„Ich wollte eigentlich nie einen Hund haben, ich bin eher ein Katzenmensch. Und bestimmt nicht so einen Großen. Aber es war die richtige Entscheidung, er war unheimlich lieb und ist mir vom ersten Tag an auf Schritt und Tritt gefolgt“, erzählt Erika, „aber so ein großer Hund lebt ja leider nicht so lange.“
Atze bekam starke Hüftprobleme, bis die Schmerzen so stark wurden, dass er nicht mehr aufstehen wollte. Erika fuhr ein letztes Mal mit Atze zur Tierärztin, wo er schließlich eingeschläfert wurde. Den Leichnam des Hundes behielt die Tierärztin da. „Ich weiß auch nicht wieso, sagt Erika und streicht über eine Ingwerknolle, die vor uns auf dem Esstisch in einer Obstschale liegt und schon grün zu treiben beginnt, „ich fuhr heim und saß genau hier an diesem Tisch, und da dachte ich, dieses schöne Tier, das tolle Fell, er hatte so eine imposante Mähne, fast wie ein Löwe, das sieht man jetzt leider nicht mehr – jedenfalls dachte ich, nein. Zu schade. Also rief ich meine Freundin an, die Barbara, die ist die Richtige für sowas, das wusste ich schon damals, und die fuhr mit mir zurück zur Tierarztpraxis. Den Atze hatten sie schon eingefroren, aber ich habe zu Hause gleich mit einer Preparateurin telefoniert und Atze kam direkt zu ihr. Ein halbes Jahr hörte ich nichts. Ich hatte den Atze schon längst vergessen, da kriege ich einen Anruf. Ihr Hund ist fertig. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie meint. Ich fuhr los und da war Atze, aber die Preparateurin hatte ihm seine ganz Mähne vorn getrimmt. Ich war vielleicht sauer. Gekostet hat das natürlich auch eine ganze Stange Geld. Naja, das ist so eine Geschichte“, sagt Erika und hält mir den Ingwer hin, „was macht man damit eigentlich, sagt sie, außer Tee?“
„Du kannst damit asiatische Gerichte würzen“, antworte ich, „du kannst ihn auch einpflanzen, er gedeiht inzwischen bei praller Sonne auch hier auf dem Balkon.“
„Einen Balkon habe ich nicht, wir haben einen Garten. Komm mal mit. Du musst mir mal bei was helfen“, sagt sie, „wir müssen deinen Wohnungsschlüssel suchen, der ist mir draußen irgendwo in die Blumen gefallen.“
Tatsächlich liegt der Schlüssel neben der Hollywoodschaukel im Hortensienbeet.
„Ach“, sagt Erika,“ ich werde doch alt, siehst du, ich habe hier alles abgesucht, aber nichts gefunden.“
Die Hollywoodschaukel knarzt und bewegt sich plötzlich. Erika richtet sich auf und stemmt die Hände in die Hüften.
„Jetzt hat die sich da schon wieder reingelegt“, schimpft sie und eilt an den Hortensien vorbei, sie schüttelt die Plane von der Schaukel, so als habe sich darin eine Maus versteckt. Ich sehe einen Schatten auftauchen, eine junge Frau mir kurzgeschorenen Haaren und kaputter Jeans.
„Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich das nicht will“, schimpft Erika, „du sollst hier nicht einfach schlafen!“
„Ich habe gar nicht geschlafen“, sagt die Frau, „ich habe mich nur gesonnt.“
Mit ihren wässrigen blauen Augen stiert sie zu mir herüber.
„Wer ist die denn“, fragt sie und zeigt auf mich, aber Erika geht gar nicht darauf ein, sondern packt sie an den Schultern und zieht sie aus der Schaukel in Richtung Gartentörchen. Ich weiche einen Schritt zurück.
„Erika, hast du einen Holländer?“, fragt die Frau.
„Was denn für einen Holländer?“
„Na, einen Holländer-Käse“, sagt die Frau.
Sie muss in meinem Alter sein, ihre Arme sind mit langen Narben übersät, so als habe sie sich immer wieder tief mit einer Rasierklinge ins Fleisch geschnitten.
„Wenn ich dir ein Stück Käse gebe, verschwindest du dann?“, fragt Erika.
Die Frau nickt. Ich folge Erika in die Wohnung, ich will mit der Verrückten nicht allein im Garten sein. Erika geht zum Kühlschrank, ich höre wie sie eine Tupperdose öffnet, Plastik raschelt, Erika geht zurück zur Haustür.
„Da hast du deinen Holländer“, sagt sie.
Ich bin inzwischen wieder oben in meinem Zimmer. Vom Fester aus sehe ich die Frau die Straße runterlaufen. Den Käse hält sie in der Hand, als sei er eine Stulle und beißt große Stücke davon ab.