Sankt Traurigustin
11. April 2022
Sankt Traurigustin, so heißt die Datei, die Jan mir am Abend über WeTransfer schickt.
Ich wollte mit meinem ersten richtigen Besuch in Sankt Augustin warten, bis Jan hier ist. So viel habe ich ihm von dort erzählt. Dass ich in einem Ort namens Mülldorf groß geworden bin, wo 1977 eine der ersten Shopping Malls Deutschlands gebaut wurden. Als mein Onkel Pedro aus Spanien uns Anfang der 80er besuchte, gingen wir am ersten Tag gemeinsam im HUMA einkaufen. Pedro stand mit offenem Mund auf der Rolltreppe, starrte auf die meterhohen Regale voller Haribo, Konserven, Waschmittel. Sein „Supermarkt“ – der Ort wo meine Großmutter in Spanien einkaufte, war ein kleiner Tante Emma Laden bzw. ein Onkel Amadeo Laden, so hieß der Mann, dem der Laden gehörte. Amadeo schrieb alles mit einem Bleistift auf einen Zettel, er schenkte uns Sugus, kleine spanische Kaubonbons, wenn wir Kinder die Einkäufe für unsere Abuela erledigten.
Was willst du morgen machen, fragte meine Mutter Onkel Pedro am Abend. Wir können nach Bonn fahren an den Rhein. Wir können uns das Geburtshaus von Beethoven anschauen, das Regierungsviertel, aber mein Onkel hob nur die Hand und zeigte aus dem Fenster in Richtung Huma. Da, dahin will ich.
Gut 35 Jahre später steigen wir an der Haltestelle Sankt Augustin Zentrum aus. Noch immer fahren die alten mintgrünen Bahnen der Linie 66 von Bad Honnef bis nach Siegburg – stabile Waggons offenbar. In all den Jahren bin ich immer wieder mit der 66 gefahren, wenn ich meine Mutter besuchte – die Veränderung, die die Gegend um den Huma, die Gegend in der ich groß geworden bin, erfahren hat, schockiert mich trotzdem.
Ich versuche Jan zu erklären, wie die Marktplatte einmal aussah, aber es gelingt mir nicht. Ich erkenne nicht einmal mehr das, was einmal war, es ist so oft überbaut worden, dass ich das Alte vom Neuen nicht unterscheiden kann.
Wir betreten den Huma, der jetzt einfach nur aussieht wie die Neukölln-Arcaden oder „Das Schloss“ in Steglitz, wo ich manchmal hinfahre, wenn ich neue Sportkleidung brauche. Hier war mal, fange ich wieder an, hebe die Hände. Du musst dir vorstellen, dass hier mal Rolltreppen waren, wo man Einkaufswagen reinhängen konnte. Jan schaut mich verwirrt an.
Wir laufen einmal durch den Huma, der Ausgang ist jetzt da, wo früher ein großer Parkplatz war. Wiese bedeckt ihn, ein riesiger Strommast steht auf der Wiese. In Berlin gibt es nirgends Strommasten, das fällt mir erst jetzt auf, wo Jan sagt, der Strom läuft hier ja überirdisch.
Stimmt. Die Strommasten reihen sich bis zum Horizont hintereinander, stehen Spalier, wie das Obst in der Voreifel wo meine Freundin Charlie wohnt und genau wie in den gnomhaften Apfelbäumen sitzen die Vögel oben in den Masten, auf den Kabeln und fragen sich vielleicht: Ist das Natur oder kann das weg? Früher als Kind dachte ich, es heißt Strom-Ast und diese riesigen dreiarmigen Herrscher seien sowas wie Mammutbäume aus Metall, von denen man statt Obst Strom erntete.
Einer von ihnen steht mitten in meiner alten Siedlung, ich kann ihn von hieraus schon sehen. Wir überqueren die Südstraße, dahinter beginnen die Straßen meiner Kindheit. Im Spichelsfeld, Rathausallee, Von-Claer-Straße. Die Häuser sind klein und gedrungen, weiße mit schwarzen Schieferdächern. Zwei Frauen in Burka spazieren vor uns entlang, ein Mädchen fährt auf einem Fahrrad – genau wie ich damals.
Ich halte nach Pfützen Ausschau. Früher wuchsen hier im Spichelsfeld in den Pfützen Kaulquappen heran. Als Kind fragte ich mich, wieso. In der Schule hatte ich gelernt, dass aus ihnen Frösche werden, aber wenn diese kleinen Kaulquappen erst einmal anfangen zu wachsen, dachte ich, dann werden diese Pfützen für ihre nächste Metamorphose schon keinen Platz mehr bieten. Erst viele Jahre später – ich dachte immer wieder an die Kaulquappen von Mülldorf – fiel mir auf, dass sie dort wahrscheinlich in Pfützen heranwuchsen, weil dort einmal viel mehr Wasser war, als 1983. Vielleicht war da mal ein Sumpf oder ein Moor oder ein Teich?
Es fängt an zu regnen. Jans Regenschirm klappt sich immer wieder nach oben, es sieht brutal aus, so als würde dieser Schirm gezwungen seine Gelenke zu überstrecken.
Am nächsten Tag gehe ich ins Stadtarchiv und erfahre:
Die Siedlung in der ich groß geworden bin, entstand in den 70er Jahren. Die Gemeinde Sankt Augustin befürchtete von Bonn oder Siegburg eingemeindet zu werden, also setzte sie alles daran so schnell wie möglich zu wachsen, um selbst Stadt werden zu können. Dazu wurde die große Lücke zwischen Mülldorf und Menden zugebaut. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass im Spichelsfeld Menschen aus dem Iran, Afghanistan, Marokko, Polen, Russland und den Mittelmeerstaaten Europas lebten. Der opportune Wunsch Sankt Augustins, zu wachsen, stellte sich für einen Moment unfreiwillig über die allgegenwärtigen rassistischen Ressentiments hinweg – zumindest in der Auswahl der Mieter*innen.
Ich erfahre:
Die Wohnsiedlung liegt viel näher an der Sieg als mir bewusst war, die Auen des Rheinnebenflusses reichen auf den alten Karten in unsere Siedlung hinein. Wir konnten als Kinder gar nicht ran an die Sieg, weil davor die Autobahn verlief, sie machte den Fluss für uns unsichtbar. Südlich der Sieg hat man die Autobahn gebaut, 1974, mitten in die Auen, dafür hat man den Fluss nach Norden gequetscht. Herr D., der Archivar und ich stehen vor den alten Karten. Muss so sein, sagt er, sieht man ja. Wie kann man einen Fluss nach Norden drücken, frage ich mich, aber geht offenbar. Und die Kaulquappen? Sie konnten mit der rasanten Umwandlung in Bauland nicht umgehen, ihre Eltern laichten weiter dort, weil sie dachten, das ist ein guter Platz für unseren Nachwuchs, aber da waren keine nassen Wiesen mehr, da war nur noch Beton, da war plötzlich alles versiegelt – viel zu schnell. Und Sankt Augustin wurde 1977 schließlich Stadt.