Molinillo, Mahlwerk, Mühle

Die Suche: In der realen Welt

Ich frage mich plötzlich, warum ich das erzählen soll,
aber wenn einer begönne sich zu fragen, warum er all das tut,
was er tut, wenn einer sich nur fragte,
warum er eine Einladung zum Abendessen annimmt …

Julio Cortázar
Teufelsgreifer, Die geheimen Waffer
Übersetzung: Rudolf Wittkopf

Das Internet ist für nichts gut, es ist ein nutzloses Tool, eine riesige Müllhalde, auf der man unmöglich etwas finden kann, jedenfalls nichts Brauchbares oder etwas, das mir bei der Suche nach Manuel weiterhilft. Meine Meinung ist keine Neuheit, viele Pioniere und Gurus der Technik haben schon vor dreißig Jahren das klägliche Scheitern dieses Internets vorausgesagt und es als temporäre Modeerscheinung und Unterhaltung für Jugendliche bezeichnet. Diese falschen Prognosen haben viele von ihnen nicht davon abgehalten, enorme Vermögen anzuhäufen, ähnlich groß wie die von Superschurken oder Prinzen aus Katar, wenn nicht sogar gleich hoch. Angesichts dieser desolaten Landschaft eröffnet sich ein neues Suchfeld: die reale Welt.

Das Bild des Autors, der an einem kleinen Tisch in einem Kaffeehaus mit der Hand schreibt, während er in der freien Hand entweder eine Tasse oder eine halb gerauchte Zigarette hält, ist ein berühmtes Klischee der Literaturwelt. Das Antico Caffè Greco in Rom, La Closerie des Lilas in Paris, das Café de Fornos oder das Café Gijón in Madrid, Literatur-Cafés sind in die Geschichte der Literatur eingegangen und spielen darin eine zentrale Rolle. Diese Cafés, meist aus dem neunzehnten Jahrhundert, waren schon immer Orte, an denen sich Autoren, Künstler und Leser trafen, diskutierten und sich einander anvertrauten. Vielleicht sollte es das Image verbannen oder mit dem Klischee und dem Heiligenschein der literarischen Romantik brechen, aber Eva Karnofsky und ich treffen uns im Thunderbike Roadhouse am Rand von Hamminkeln, neben einem Harley Davidson Motorradgeschäft, in einem Gewerbegebiet, wo sich auch noch eine Spielhalle, eine Gartenbaufirma und ein Bordell befinden, das auch als Covid-Testzentrum dient (Welch seltsame Zeit, in der wir hier leben). Das Thunderbike ist ein gepflegtes amerikanisches Restaurant, die Speisekarte jedoch ein Albtraum aller Diätologen und Kardiologen.

Thunderbike Roadhouse Hamminkeln

Als ich ankomme, wartet Eva bereits an einem Tisch, der etwas abseits steht. Es ist mitten am Nachmittag, also bestellen wir Kaffee und sie nimmt dazu ein Eis, das köstlich aussieht, vielleicht der Grund für die Wahl des Lokals. Eva Karnofsky ist Journalistin. Die Beschreibung wäre schon ausreichend, denn in ihrem Fall sind Beruf und Person nicht voneinander zu trennen. Sie ist Journalistin aus Berufung, liebt ihre Arbeit und die damit verbundene soziale Aufgabe und hat bereits mehrere Bücher verfasst. Auch im Ruhestand arbeitet Eva weiterhin und schreibt für Lokalzeitungen und den WDR. Ich wollte sie treffen, denn ihre Kenntnisse könnten mir bei der Suche nach meinem Großonkel in der Zeit vor dem Internet helfen.

Und obwohl Eva eigentlich die Journalistin und Autorin ist, tauschen wir für einen Tag die Rollen und ich stelle die Fragen: Wo hast du Spanisch gelernt? Den Anfang habe alles mit ihrer Beziehung zu dem bereits verstorbenen José Comas genommen, Deutschlandkorrespondent der spanischen Zeitung El País, erzählt sie. Danach hat sie mehrere Jahre in Argentinien gelebt und ist durch Südamerika gereist, wo sie ihr Spanisch üben und verbessern konnte. Dort hat sie als Journalistin gearbeitet und mehrere literarische Anthologien herausgegeben. Wir haben die ganze Zeit auf Spanisch gesprochen, was mir erlaubt hat, mich ein wenig zu entspannen. Eva spricht fließend, auch wenn sie entschuldigend behauptet, ihr Spanisch sei ein wenig eingerostet.

Sie erzählt mir, dass sie die spanische Medienlandschaft nicht mehr so genau verfolgt wie früher, dass man für die meisten Zeitungen ein Abonnement braucht und es zu viel wird, wenn man sie alle abonnieren will. Ich beschwere mich, dass es viel Clickbaiting gibt, und stimme ihr zu, dass man für qualitativ hochwertige Inhalte meist bezahlen muss. Trotzdem empfehle ich ihr ein paar meiner Lieblingsjournalisten: Manuel Jabois, Alberto Olmos und den bereits verstorbenen David Gistau.

Ich frage sie, was sie in diesen kleinen, scheinbar verschlafenen Ort geführt hat, nachdem sie ihr ganzes Leben lang in Großstädten verbracht hat. War es der Wunsch nach Ruhe, einem friedlichen Leben? Aber der Grund ist ein pragmatischer, ihr 91-jähriger Vater lebt hier in Hamminkeln. Ansonsten würde sie gerne in Münster leben. Ihr fehlt die kulturelle und literarische Szene einer Großstadt.

Bahngleise Dingden

Eva beantwortet meine Fragen und stellt mir welche zu spanischsprachiger Literatur. Zu meiner Verblüffung erzählt sie mir von der argentinischen Autorin Mariana Enríquez, die sie sehr mag und über deren Erfolg sie sich freut. Ich beklage, dass Roberto Bolaño in Deutschland nicht bekannter ist, obwohl das vielleicht eher ein subjektiver Eindruck ist, worauf sie erwidert, der große Unterschied zu Enríquez bestehe darin, dass es für Verlage deutlich schwieriger sei, verstorbene Autoren zu vermarkten. Ich überlege kurz, für welche Aktivitäten der Tod kein Hindernis darstellen würde, aber außer Hinlegen und Fasten fällt mir nichts ein.

Sie erzählt mir von ihren Erlebnissen in Lateinamerika, spricht mit Bewunderung von Violeta Chamorro, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, die sie persönlich kennengelernt hat und die einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hat und schwärmt von Isabel Allende, eher von ihrem Feminismus und der Themenwahl als vom Stil. Von Vargas Llosa aber, der sich aus diesem und jenem Grund im Laufe seinen Lebens unbeliebt gemacht hat, hält sie nicht so viel. Ich spiele den Advocatus Diaboli und versuche ihn zu verteidigen, nicht so sehr für den Nobelpreis, aber weil er gute Bücher geschrieben hat, was nicht leicht ist. Wir einigen uns darauf, dass sein letzter guter Roman „Das Fest des Ziegenbocks“ war und wundern uns beim Blick auf das Erscheinungsjahr, dass er bereits vor über zwanzig Jahren erschienen ist.

Dazwischen schleicht sich das Thema Politik und die Lage am Niederrhein in unsere Unterhaltung ein. Eva hat sich mit dem Fall einer wilden Müllkippe in der Gegend befasst. Stolz erzählt sie mir, dass die Dinge durch Berichterstattung und soziales Engagement verbessert werden und sich verändern können. Ich stehe diesen optimistischen oder utopischen Visionen von Journalismus oder der Literatur als Motor des Wandels oder als nützliches Mittel für soziale oder politische Veränderungen immer mit einer gewissen Skepsis gegenüber, aber ich bewundere ihre Entschlossenheit. Sie ist jedoch enttäuscht von der passiven Haltung der meisten Menschen, die sich kaum dafür zu interessieren scheinen, was jenseits ihrer großen, gepflegten Gärten geschieht, oder vom Verhalten der Lokalpolitiker, die Angst haben, dass die Presse Probleme oder korrupten Praktiken während ihrer Amtszeiten an die Öffentlichkeit bringt und damit ihr Vorhaben behindert, die Region in ein großes Wohngebiet zu verwandeln. Wenn es etwas so Universelles wie die Liebe gibt, dann das Elend der politischen Klasse. Unter der Sonne also nichts Neues.

Garten Hamminkeln

Die Unterhaltung ist chaotisch, wir hüpfen ohne Ordnung von einem Thema zum anderen und wieder zurück. Manchmal gehen die Gesprächsinhalte ohne Kontinuität ineinander über, wodurch sich meine Rolle als Moderator erübrigt. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und sehe, dass wir schon zwei Stunden gesprochen haben und ich noch gar nicht gefragt habe, wofür ich eigentlich gekommen bin: Wie finde ich meinen Großonkel? Wie suche ich jemanden, der im Internet nicht existiert? Welche Spur kann ich verfolgen oder wie finde ich heraus, wo Manuel steckt? Ich nehme Stift und Papier zur Hand und mache mich bereit, all ihre Ratschläge aufzuschreiben. Zunächst schlägt Eva vor, Fotos meines Großonkels in Deutschland nach Hinweisen auf einen Platz, eine Straße, ein Denkmal oder Ähnliches abzusuchen. Leider habe ich nur das eine Foto von Manuel als jungem Mann mit meiner Großmutter, und das wurde in Utrera aufgenommen. In so einem Fall – ohne weitere Anhaltspunkte – würde sie bei der Suche nach einer Person wie folgt vorgehen:

1. Alle Daten sammeln, die ich über ihn habe: Hinweise, Briefe, Anekdoten, Fotos, offizielle Dokumente. Mit diesem Prozess habe ich vor einigen Monaten begonnen, wobei die Ergebnisse bislang schwer greifbar sind und der Erfolg sich nur langsam einstellt.

2. Herausfinden, wo er gearbeitet hat, zumindest in welchem Bereich. Dann könnte man sich an die Gewerkschaften wenden. Die haben eine Liste der Arbeitnehmer und verfügen über ihre persönlichen Daten. Auch hier habe ich keine handfesten Informationen, obwohl ich noch einmal meine Mutter und Tanten fragen könnte, vielleicht erinnern sie sich an weitere Details über das berufliche Leben meines Großonkels, ob er einen handwerklichen Beruf ausgeübt hat oder mit irgendeiner bestimmten Firma in Verbindung gebracht werden könnte.

3. Alte Telefonbücher durchsehen. In Spanien hat man sie „Páginas amarillas“ (Gelbe Seiten) genannt, und wie der Name schon sagt, waren das gelbe Bündel aus minderwertigem Papier, die ich selten jemanden benutzen gesehen habe (Ich erinnere mich an ein Fernsehquiz, bei dem es darum ging, wie viele gelbe Seiten ein Mensch in zwei Hälften reißen konnte. Ich weiß nicht mehr, ob es sieben oder acht waren, wahrscheinlich interessiert es auch niemanden, aber ich erinnere mich an den Trick: Bevor man sie abreißt, muss man sie in der Mitte leicht falten). Um im Telefonbuch nachzusehen, muss ich zuerst herausfinden, in welcher Stadt er gelebt hat und dann seinen Namen im entsprechenden Buch suchen.

4. Zum Meldeamt gehen. Eva erinnert mich daran, dass sich in Deutschland ja eine Meldepflicht gilt. Ich weiß nicht, ob es ein allgemeines Register gibt oder in unterschiedliche Zonen aufgeteilt ist. In dem Fall hätte ich das gleiche Problem wie bei Punkt 3.

5. Die Polizei. Ich bin verwundert. Muss ich einfach nur zur Polizei gehen und nach dem Namen Fragen? Natürlich nicht. Die Polizei gibt keine Informationen an Dritte weiter. Zumindest nicht, wenn man keine Kontakte hat. Ich habe keine Kontakte, also verwerfe ich die Option.

Baum Diersfordt

Ein paar Tage nach unserem Treffen schreibt Eva mir eine Mail. Die erste Anlaufstelle bei der Suche nach Manuel hatte sie vergessen. Punkt 6:

6. Die spanische Botschaft oder das spanische Konsulat in Deutschland. Sie müssten die Daten meines Onkels haben. Ich komme mir richtig dumm vor, als würde ich am Flughafen-Gate Schlange stehen, zusammen mit den Leuten, die Angst davor haben, sonst keinen Sitzplatz zu bekommen. Warum bin ich nicht schon früher auf die Botschaft gekommen? Da hätte ich zuerst suchen müssen. Ich verliere keine Zeit und schicke sofort eine E-Mail, in der ich meinen Fall schildere. Bei der spanischen Bürokratie weiß man nie: Entweder antworten sie sofort oder meine E-Mail geht im bürokratischen Limbo verloren, zwischen Mails, Einschreiben, verschlüsselten Dateien, Schichtwechseln, Krankmeldungen, Hierarchien, unvollständigen Formularen … Die Aussichten auf Erfolg sind wahrscheinlich ähnlich hoch wie wenn ein Schiffbrüchiger Flaschenpost verschickt.

Den letzten Text habe ich mit einem Cliffhanger beendet, einem erzählerischen Mittel, das dramatische Spannung schafft, die unterbrochen wird, um später aufgelöst zu werden. Ich habe die Initialen meines Großonkels, M. C. Bautista, in einer Anthologie über Autoren des Niederrheins aus dem Jahr 1985 gefunden. Nach einer ausgiebigen Suche im Internet (ok, es ist nicht ganz so nutzlos, wie ich am Anfang behauptet habe) konnte ich ein Exemplar der Anthologie in einer Krefelder Buchhandlung auftreiben. Ein paar Tage nach meiner Kontaktaufnahme mit der Buchhandlung „Jakobs&Ritter“, erhielt ich folgende Mail:

Email Thomas Hoeps

Ohne stichhaltigere Hinweise und in Erwartung, dass einer von Eva Karnofskys guten Tipps mich weiterbringt, werde ich versuchen, das Buch mit den Initialen von M. C. Bautista zu finden, um zu überprüfen, ob damit Manuel gemeint ist oder nicht. In „Cambiar de Idea“ von Aixa de la Cruz lese ich: „Wir schreiben, um festzuhalten, wer wir eben noch waren, als wir uns vor das Textverarbeitungsprogramm gesetzt haben, und da wir keine Fährte haben, fabulieren wir.“ Bevor ich fabuliere, werde ich den wenigen Fährten nachgehen, die ich habe. Also auf nach Krefeld.

Im Spanischen bezeichnet „Realidad“ etwas Tatsächliches oder etwas von praktischem Wert, im Gegensatz zum Fantastischen und Illusorischen.

Coda – Noch nie ist es mir so schwer gefallen, einen Text zu schreiben. Die letzten Wochen waren eine Zeit des Kommens und Gehens, verschiedener Orte und Stimmungen, eigentlich ein guter Nährboden für zukünftige Geschichten, aber nicht für diese hier. Begleitet von Zweifeln des Alltags, Nachrichten, die auf sich warten lassen, von denen wir nicht sicher sind, ob wir sie nicht doch lieber gar nicht erst bekommen hätten. Manchmal kommt es mir vor, ich würde mich darauf konzentrieren, ein kleines Leck im Dach zu stopfen, während ein paar Meter weiter ein Tsunami das ganze Haus wegspült. Vielleicht sind es die schlechten Ausreden, die leere Seite, ein weiteres literarisches Klischee, genau wie das Café. Ohne reelle Erfahrungen füllt man das Leben und die Literatur mit Klischees. Außerdem wollte ich über eine Person schreiben, die mich sehr beeindruckt hat, aber auch keine Lobrede verfassen, weil die so langweilig sind und der wahren Person nicht gerecht werden, sondern nur einen kleinen Teil einfangen, doch das hat dazu geführt, dass ich die Sätze ständig umgeschrieben habe, nur um am Ende zur ersten Version zurückzukehren. Angesichts so vieler Zweifel habe ich nur eine Lösung für die Schreibblockade gefunden: alles in den Prozess mit einzubeziehen – Ängste, Zweifel und Unsicherheiten. Das ist das Ehrlichste, was man tun kann, ich möchte schließlich kein Zauberer sein, der seine Tricks geheim hält, und hoffe, nie einer zu werden.

Texto en español: https://stadt-land-text.de/2022/05/17/la-busqueda-el-mundo-real/

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