mit j

Ich bin spät dran. Schnell jetzt, Druck aufs Pedal, Kopf runter, klein machen, noch ein guter Kilometer, immer leicht bergauf durch den Ort, links und rechts Geschäfte, glaube ich, ein paar Leute sind auch unterwegs, vielleicht zum Brötchenholen, vielleicht mit Glitzer an den Schuhen, blauen Strasssteinen auf den Fingernägeln und Jagdflinte über der Schulter, wer weiß das schon, ich kann es nicht sagen, an den Rändern zieht der Sonntagmorgen im Dorf nur vorbei, in dieser Haltung tauge ich nicht als Zeuge fürs literarische Detail, zu tief beuge ich mich über den Lenker, die Augen fix auf die nächsten Asphaltmeter vor mir gerichtet, Kanaldeckel, Bodenwelle, Schlagloch, umfahren, abfedern, ausweichen, ich nehme einem Auto die Vorfahrt, sorry, sorry per Handzeichen, in der Kurve durchziehen, weiter, weiter, schön auf dem Gas bleiben, atmen, Schultern runter, Hände locker auf den Hoods, rund treten, noch kleiner machen, der Fahrtwind sticht im Gesicht, es ist kalt, der frühe April hat nochmal Frost und Schnee gebracht, vor zwei Tagen wehten noch schwere, nasse Flocken schräg über Felder und leergefegte Supermarktparkplätze, während ich froh war, meine Wohnung nicht verlassen zu müssen. J hatte gesagt, er wolle an dem Tag vier bis fünf Stunden unterwegs sein. In den Beinen jetzt schon das vertraute Auflodern, und die Leistungsdaten auf dem Radcomputer sagen: ja, das darf schon ein bisschen weh tun. Schnell jetzt. Ich bin spät dran.

J sieht mich nicht gleich. Ich winke ihm zu, er rollt den kurzen Weg an den Tanksäulen vorbei, rüber zur Staubsaugerstation, wo ich stehe, mein Rad an die Außenwand der Waschanlage gelehnt. Ich nehme meine Sonnenbrille ab. Wir begrüßen uns und er entschuldigt sich dafür, dass er zu spät ist. Ich habe meine Windweste geöffnet und immer noch einen schweißnassen Rücken, und dass, obwohl es keine vier Grad warm ist. Kein Problem, sage ich, war selbst spät dran. 

Hab schon voll angefangen zu schwitzen, sagt er. 

Sollen wir noch kurz Wasser kaufen, frage ich. Ich zeige zum Tankstellenshop. 

Ach so, sagt er, nee, du kannst einfach eine von meinen Flaschen haben. 

Die Trinkflasche, die er mir reicht, ist zerschunden und zerkratzt, sieht aus, als wäre sie einen kilometerlangen, felsigen Abhang Tag für Tag, über wirklich lange Zeit, immer wieder herunter gerollt. Genau so muss eine Trinkflasche aussehen, denke ich und stecke sie in meinen Flaschenhalter. Und sorry nochmal, Ist mir noch nie passiert, dass ich meine Flaschen zu Hause vergesse, sage ich noch. Richtung Boden, mit dem Rücken zu ihm.

Wir fahren Lenker an Lenker über die B1, dieses schnurgerade Asphaltband. Als weit größerer Fahrer überragt J mich auf seinem Rad deutlich, hält die Windstöße der vorbeirauschenden Autos aus meinen Speichen. Hinter den Logistik- und Produktionshallen, die sich parallel zwischen Autobahn und Bundesstraße aneinanderreihen, ragen im Norden die Schlote der Kohleindustrie in den Himmel, während sich die Landschaft in südlicher Richtung sanft und geschwungen anhebt wie eine glattgezogene Herzfrequenzkurve. Nach kurzer Strecke biegen wir rechts ab, rein in die topographische Ankündigung des Sauerlands, und es geht das erste Mal ein Stückchen bergauf, ich gehe aus dem Sattel, meine Kette springt beim Schalten klackend über die Ritzel, es rollt richtig gut, wir haben die Schlote jetzt im Rücken, fahren auf Feldwegen vorbei an dem, was in ein paar Wochen schon sternengelb und maigrün auf Oberrohrlänge stehen wird, jetzt aber noch schneegefleckter Zeuge einer Verspätung ist.  

Ich freue mich über den Leichtgang meines neuen Rades und nehme einen ersten Schluck aus der Flasche, deren Trinköffnung auch schon so mitgenommen ist, dass das Wasser in verschiedenste Richtungen austritt und mir teilweise direkt wieder seitlich aus dem Mund läuft. Ich hoffe, du musst davon nicht kotzen, sagt J. Dem Wasser ist irgendwas beigemischt, auf einer Weinprobe würde man wohl von starker Mineralität sprechen. Geht voll klar, sage ich. Und: wer seine Flaschen vergisst, darf sich sowieso nicht beschweren.

Vor uns liegen Äste quer über dem Ruhrradweg, von der einen Seite rauscht der Verkehr der A445, von der anderen das Wasser und wir schieben unsere Räder durch die Uferböschung, vorbei an den Hindernissen. Das muss echt heftig gewesen sein, sage ich, und trete mir Laub und Erde aus den Cleats, bevor ich wieder aufs Rad steige und wir unsere Fahrt bis zum nächsten umgestürzten Baum fortsetzen. 

Warst du am Freitag bei dem Schneesturm eigentlich wirklich unterwegs? 

Ja, sagt er. 

Alter, ich hab an dem Tag keinen Fuß vor die Tür gesetzt. 

War auch ziemlich einsam. 

Wir bücken uns noch ein paar Mal unter feuchten Stämmen hindurch, bis wir Radweg und Ruhr wieder verlassen. Ich fahre auch jede Straße immer zu Ende, sagt J. Klar, antworte ich, man hat ja schließlich eine Strecke geplant. Wir lachen diesen Sätzen ein kleines bisschen hinterher, ein Kommentar in Lauten, der dem Gesagten neben Zustimmung vor allem hinzufügt, dass Umwege einen auch vor erhebliche Schwierigkeiten stellen können, vor allem in unbekannter Umgebung. In Frankreich stand ich einmal vor einer gesperrten Brücke, die nächste befand sich 30 Kilometer flussaufwärts.

Wofür trainierst du eigentlich gerade, frage ich, als wir uns die erste längere Steigung hocharbeiten und die Schneereste am Fahrbahnrand Höhenmeter für Höhenmeter größer werden. Das nächste Rennen ist die Tour of Turkey, das ist so ein Highlight, und dann läuft alles auf die Deutsche Meisterschaft im Zeitfahren raus, meine Spezialdisziplin. Und du, was hast du vor? 

Ötztaler, sage ich.

Ja, so siehst du auch aus, wie so ein Kletterer.

Auf der Abfahrt fahre ich hinter ihm her, versuche seine Linie zu halten, beobachte, wann und wie er bremst, die Kurven anfährt, einlenkt. An mehreren Stellen fließt Schmelzwasser quer über die Straße, das mir von Js Hinterreifen entgegenspritzt. Auf einem Flachstück lässt er sich einmal kurz hinter mich fallen, um im Windschatten zu telefonieren. Wieder neben mir sagt er, oh man, ich habe so eine Mailbox, seit über 10 Jahren die selbe Ansage, auf der klinge ich noch wie ein Kind, und manchmal rufen Leute an, nur um die zu hören, weil sie’s witzig finden.

Nach 90 Kilometern, einem ständigen Auf und Ab, vorbei an der krausen Wasseroberfläche des Sorpsesees, durch kahle Wälder, an Elektrozäunen entlang, die matschige Koppeln und zertretene Stallausläufe umstellen, halten wir in Fröndenberg für einen Coffee Stop. Die Fußgängerzone der Kleinstadt ist vollgepackt mit Leuten, irgendein Stadtfest ist im Gange, überall Buden, Stände, der Geruch von Frittiertem hängt neblig in der Luft. Als wir unsere Räder abstellen, die Radcomputer aus ihren Halterungen nehmen, spricht J ein älterer Herr an, sie scheinen sich zu kennen, wir grüßen knapp. Ich bekomme nur halb mit, worum es in ihrem Gespräch geht.

Es ist das erste Wochenende nach Ende der bundesweiten Maskenpflicht in allen Innenräumen, und ich betrete seit Monaten ein Café ohne Mund- Nasenschutz und fühle mich unsicher bis unwohl dabei. Wir beugen uns runter zur Kuchenauslage, in der Torten mit beachtlichem Sahne- und Butteranteil auf ihren Blechen Parade stehen. Wir bestellen Kaffee und Apfelstreusel, suchen uns einen Tisch, die Gardinen haben Spitze, an den Nebentischen, die pandemiegerecht weit auseinander stehen, sitzen Herren in karierten Hemden, weißen Haaren zusammen mit Frauen in bunten Blusen und Perlenohrringen. Das erste Mal sehen wir unsere Stirnen ohne Helm, dafür mit Haaren. Ein Moment fast wie FFP2-Maske abnehmen vor Leuten, die man zum ersten Mal trifft. Das war mein alter Trainer, sagt J, gleich startet so eine Modenschau, und der will, dass ich da auf der Bühne irgendwas sage.

Oh, mache ich.

Ach, der ist okay und fördert den Radsport in der Region echt und will dann eben seine Talente zeigen.

Mit eintretenden Leuten weht immer wieder die Straßenfestsituation ins Café. Die Pause tut gut, der Kaffee schmeckt, wir wischen ein bisschen auf unseren Handys rum, haben es nicht eilig mit dem Weiterfahren. Als wir vors Café treten, schaut J sich noch zwei Mal um, der ältere Herr von vorhin ist nicht zu sehen. Über den Platz schallt irgendein austauschbarer Popsong. Willst du den noch suchen, frage ich. Nee, lass fahren, sagt er.

Die letzte Steigung, dann blicken wir wieder über Höfe, Hallen, Autobahnen, Zechentürme, Kraftwerkschlote, der Hellweg in seiner eigentümlichen Mischung, in der die Zeichen ganz unterschiedlicher ökonomischer Epochen in die Gegend gewürfelt nebeneinander liegen. Wir sind gut schnell unterwegs. Der Kuchen treibt nochmal ordentlich jetzt, sagt J. Und ich stimme zu: ja, der Kaffee auch. Noch ein paar Kurven, die wir Lenker an Lenker, jeder auf seiner Linie ziehen, dann sagt J: ich fahre hier jetzt geradeaus. 

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