Notizen für eine Suche hin und retour (oder wie man in den Süden zurückkehrt)
16. Juli 2022
1. Urknall – einigen astronomischen Theorien zufolge die gewaltige Explosion einer kompakten Masse aus Energie und Materie, durch die das Universum entstanden ist. Es kommt aber auf die Dimensionen an, denn nicht alle Urknalle erzeugen ein Universum, manche sind bescheidener und beginnen eine Geschichte, die Begegnung zweier Menschen, oder sie leiten einen der unzähligen Misserfolge ein, die über das Leben hereinbrechen. Manuels Ankunft in Deutschland ist eine Art Urknall, die Geburt eines fernen Sterns, von dem tausend Jahren später nur noch ein kleines Funkeln zu sehen ist. Bei mir kam das Funkeln sechsundvierzig Jahre später an, das mag für einen Stern nicht lang sein, aber bei einem Menschen ist es mehr als die Hälfte seines Lebens.
2. In den vergangenen vier Monaten habe ich so viel Zeit in Zügen verbracht, dass sich das Projekt eher wie eine Walz als eine Residenz angefühlt hat. Vielleicht werden diese Stipendien für Autoren irgendwann einmal so konzipiert, dass man gezwungen wird, ein paar Monate lang herumzureisen und für eine Weile wieder nomadisch zu leben. Ich hoffe jedenfalls, die Fahrten sind dann nicht mehr diese nahezu perfekte Kombination aus Verspätungen, Zugausfällen, Änderungen in letzter Minute und jeder Menge anderer Vorfälle, die das Reisen mit der Bahn unangenehmer machen: Handys in vollster Lautstärke, Menschen in vollster Lautstärke, Menschen, die Bier trinken, Menschen, die Pistazien essen, Menschen im Allgemeinen … Aber trotzdem haben diese Fahrten, meist zwischen anderthalb und zwei Stunden lang, mir als unmittelbare Deadline gedient, ein tyrannischer Chef, dem ich am Ende jeder Fahrt Rechenschaft ablegen musste, was dazu geführt hat, dass ich in diesen Zügen mehr geschrieben habe als in der eigentlichen Residenz.
Und das Projekt trägt schließlich den Titel „Zwei Andalusier im Westen“, wie also besser in den wilden Westen, den Niederrhein, reisen als mit dem Zug?
3. Mich faszinieren Kriminalfälle, die nicht schon in der ersten Phase der Ermittlungen gelöst werden, wo jeder neue Schritt in eine Sackgasse führt oder zu einem Hinweis, der alle vorherigen entkräftet. Ein Durcheinander an Zeugen, Dokumenten, Intuitionen und Aussagen, das sich nicht entwirren lässt und den Fall in die Länge zieht, bis er immer mehr zum Leben des Ermittlers dazugehört, ein Teil seiner Routine wird, wie das ballaststoffreiche Frühstück und der Gute-Nacht-Kuss. Irgendwann geht es gar nicht mehr nur darum, den Fall zu lösen und den Mörder zu finden, sondern auch darum, wie sich der Ermittler dadurch verändert, wie die Suche ihn und sein Leben beeinflusst.
Zum jetzigen Zeitpunkt der Suche scheint Manuels Geschichte eher komplizierter als klarer zu werden. Es gibt noch viele Fragen zu beantworten, Hinweise zu verfolgen, Unbekanntes zu erfinden:
a) Was bedeuten die Initialen und Zahlen aus der Biografie am Ende der Anthologie, die ich in Krefeld gefunden habe? Warum hat jemand Manuels Text entfernt?
b) Ist die Mail, die ich neulich bekommen habe, echt? Eine Barbara aus Kevelaer behauptet, ihr Vater sei mit Manuel befreundet gewesen und schreibt, dass sie einige Fotos von den beiden zusammen hat.
c) Meine Tante José hat ein paar Fotos von Manuel als jungem Mann neben alten Westernromanen gefunden. Ist das ein neuer Hinweis? Hängt es mit der Anthologie zusammen?
In einem Buch von Juan Tallón lese ich: „Alles Interessante geschieht im Verborgenen, daran besteht kein Zweifel. Über die wahre Geschichte der Menschen ist nichts bekannt.“ Obwohl ich Tallón voll und ganz zustimme, habe ich keine andere Wahl, als weiterzusuchen, denn auch wenn ich Manuel selbst nicht finde, interessiert mich alles, was um ihn herum entsteht, das Leben und die Fiktion, die aus dem, was ich schreibe, hervorgehen.
4. Die Suche hat an zwei Orten gleichzeitig stattgefunden. Dort, in Andalusien, war es eine Suche in der Zeit: im Gedächtnis, in Erinnerungen, in verstaubten und vergessenen Schubladen oder Fotoalben. Familienarchäologie. Hier in Deutschland habe ich auf einer anderen Ebene gesucht, im Raum, unterwegs am Niederrhein, wo Manuel gelebt hat, habe Spuren gesucht und versucht zu verstehen, warum er an diesem Ort verschwinden wollte.
Durch das Zusammensetzen der beiden Koordinaten, Zeit und Raum, können wir seine Position erahnen, als wäre er ein Atom, und müssen aber erkennen, dass unsere Perspektive das Bild beeinflusst und jede Verschiebung auf einer der Achsen ihn wieder anders zeigt. Wir können also gar kein eindeutiges oder klares Bild von Manuel bekommen.
5. Zu Beginn des Projekts habe ich alle meine Verwandten gezwungen, mir zu erzählen, was sie über Manuel wissen. Ich selbst habe damals nicht mitgemacht, entweder aus Feigheit oder aus Faulheit. Jetzt ist es aber soweit: Meine Erinnerungen an meinen Großonkel sind spärlich, kleine Flashbacks, kaum eine Sekunde lang. Unter den Bildern sticht eines hervor und kehrt immer wieder. Ich weiß nicht, ob es echt ist oder eine Mischung aus anderen Erinnerungen und Standbildern aus einem Film – einem schlecht beleuchteten mit viel Körnung und analoger Erscheinung. Am besten wäre, wenn man Erinnerungen genauso überarbeiten könnte wie klassische Filme oder alte Videokassetten, damit auch sie in bester HD- oder 4K-Qualität zur Verfügung stünden.
Das immer wiederkehrende Bild zeigt meine ganze Familie vor dem ehemaligen Haus meiner Großeltern auf der Straße versammelt: Ein zweistöckiges Haus mit einem kleinen Garten, den mein Großvater damals schweren Herzens zurückgelassen hat, auch wenn er gerade einmal hundert Meter weiter gezogen ist. Dieser kleine Garten war das Land, die Luft, die er brauchte. Die Erinnerung pendelt zwischen der Straße und dem Inneren des Hauses, ich weiß, dass wir mit einer Mischung aus Vorfreude und Ungeduld auf jemanden gewartet haben. Die Erinnerungen (in der ersten Person) und Fiktion (in der dritten Person) vermischen sich, auch ich selbst tauche im Bild auf, klein, sehr klein. In dem Erinnerungsfragment verschmelzen die beiden Ebenen so, dass sie kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Die Szene ist perfekt geschnitten.
Ich glaube, es handelt sich um eine Weihnachtsfeier, vermutlich am 24. Dezember, wobei die Rückkehr des Auswanderers am ersten Weihnachtstag sehr klischeehaft ist. Aber lassen wir uns auf das Klischee ein: Es ist der 24. Dezember. Draußen ist es bereits dunkel, als Manolito mit einem meiner Onkel auftaucht, der ihn vom Flughafen abgeholt hat (ich gehe davon aus, dass er in den 1980er-Jahren mit dem Flugzeug gekommen ist). Manuel trägt einen Anzug, er hat einen schweren Koffer dabei und riecht nach Zigarren oder schwarzem Tabak. Bei der Begrüßung gibt es Küsse, Umarmungen, Geschenke (ein Cowboy- und Indianerspiel?) und ein paar Trinksprüche. Eine wieder vereinte Familie. Doch dann wird die Erinnerung schwarz.
6. Im Mai, als der Frühling endet, alles blüht und üppiges Grün bis in den letzten Winkel des Schlosses vordringt, frage ich mich eines Tages: Hat Manuel sich vielleicht verliebt? Ist er deshalb am Niederrhein geblieben? Hat er jemanden getroffen, der ihn alles andere vergessen ließ, seine Familie, sein früheres Leben, den Süden? Und wenn ja, was ist aus dieser Liebe geworden? Wurde sie erwidert? Wie lange hielt sie an? Ist davon etwas geblieben, ein Beweis?
Neben wirtschaftlichen und humanitären Motiven ist die Liebe einer der drei häufigsten Gründe, warum Menschen in ein fremdes Land gehen oder ganz dahin ziehen. Also ist es gar nicht so abwegig, dass Manuel sich verliebt haben könnte. Persönlich kann ich das gut nachvollziehen, kann verstehen, warum jemand an einem Ort bleibt, der sich nie so richtig wie ein Zuhause anfühlt, um mit einer anderen Person, nennen wir sie Anne, zusammen zu sein. Die Person wirkt wie ein Gewicht, eine Art Anker, aber sanfter, beinahe flüchtig, und gibt einem das Gefühl, man sollte an diesem fremden Ort bleiben, obwohl man frei ist, zu gehen, wohin man will.
Vielleicht ist es das, worauf Manuels Geschichte hinausläuft: Junge trifft Mädchen und sie beschließen, ihr Leben am Niederrhein zu verbringen. Wer weiß …
7. In seinem Buch No entres dócilmente en esa noche quieta erzählt Ricardo Menéndez Salmón die Geschichte von Han Gan, einem Künstler der Tang-Dynastie, der von 706 bis 783 lebte. Han Gan malte ein Porträt vom Lieblingspferd des Kaisers in den royalen Ställen, doch danach begann das Tier zu hinken. Der Kaiser war sehr verärgert und ordnete sofort eine Untersuchung an, bei der sich herausstellte, dass Han Gan vergessen hatte, einen der Hufe des Tieres zu malen. Menéndez Salmón sagt, dass wir genau wie in der Anekdote Bücher und Geschichten schreiben sollten, die die Realität beschwören können. Das war auch meine Absicht bei diesem Projekt: Geschichten zu suchen, zu erfinden, zu spinnen, die irgendwie die Leben, die mein Großonkel in Deutschland hatte oder hätte haben können, heraufbeschwören, denn schon sie aufzuschreiben und sie sich vorzustellen – genau wie Han Gan – machen sie real.
8. Dank meiner Suche habe ich Geschichten gefunden, Erinnerungen, die nach vielen Jahren wieder aufgetaucht sind, Erinnerungen meiner Familie, die sonst verschwunden wären. All das hat ein paar meiner ursprünglichen Annahmen widerlegt. Zum Beispiel habe ich mir meinen Großonkel als kleinen, schlecht gekleideten, wenig anmutigen Mann vorgestellt. Wie sich herausstellte, war das Gegenteil der Fall, für spanische Verhältnisse war er ziemlich groß, trug schicke Anzüge und war ausgesprochen gesellig. Auf einem der Fotos, die aufgetaucht sind, posiert er in einem feinen Anzug, mit gepflegtem Haarschnitt vor der Giralda in Sevilla. Er sieht aus wie Bela Lugosi, durch und durch ein Galan.
Ein weiterer Irrtum hat mit dem Foto meines Urgroßvaters zu tun, das von ihm in der Uniform der Königlichen Garde, von dem ich dachte, es sei verschollen. Ich habe sogar meine Familie beschuldigt, es erfunden zu haben. Das Foto ist aufgetaucht und ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte: Es handelt sich um ein Porträt, mein Urgroßvater José posiert ernst, hat einen beeindruckenden Schnurrbart, sieht aus wie ein Löwenbändiger oder ein Schausteller auf dem Jahrmarkt. Das große Geheimnis, das dieses Bild offenlegt, ist aber, dass mein Großvater ein gemeiner Soldat ohne Dienstgrad war und keineswegs zur Königlichen Garde gehörte. In diesem Fall war die Fiktion wohl besser als die Realität, zumindest für Josés militärische Karriere.
Der wichtigste Aspekt dieser Suche war, dass meine Familie ein Bewusstsein für sich selbst entwickelt hat. Aus dem anfänglichen Desinteresse und der Verwunderung darüber, dass ich über meinen Großonkel sprechen wollte, über Manolito, diesen exzentrischen Mann, der sein ganzes Leben in Deutschland verbracht hat, wurde ein lebhaftes Interesse am Prozess, an den Fortschritten und den Texten über ihn. Ein Spiel mit Spiegeln, das uns jedes Mal ein schärferes Bild von uns selbst zeigte.
Auf die anfängliche Frage: „Wen interessiert schon diese Geschichte?“, haben wir eine Antwort gefunden. Uns, die Familie. In einer Zeit, in der Geschichten meist vorgegeben oder von außen aufgedrängt werden, in der wir die Fähigkeit verloren haben, unsere eigene Geschichte zu erzählen, war es besonders spannend, diese Familiengeschichte zu rekonstruieren, eine Geschichte, die dabei hilft, uns selbst und anderen zu erklären, wie einzigartig wir sind.
Epilog – Aber was ich nach all diesem Hin und Zurück, den Fragen und Antworten, dem Fiktionalisieren und Dokumentieren, dem Reisen und dem Bewohnen von Grenzen immer noch nicht verstehe, ist wie Manuel es geschafft hat, zu verschwinden und nicht zurückzukehren, alles einfach zu vergessen, den gelben Lehm, den Moment, wenn du einen Kumpel auf der Straße triffst, einen Quillo, Picha, Churra, Cabeza, sag, wie du willst, die Orangenblüte, die Hitze, die Zikade, die mit ihrem Gesang alles erhellt, diese Nachmittage, die eine Unendlichkeit innehaben, Gespräche, Gespräche mit anderen, Gespräche mit allen, Gazpacho, Salmorejo, das Recht auf Siesta, der trockene Mund, das überwältigte Herz, schlaflose Nächte in der feuchtkühlen Nachtluft, wo Freude und Leid zusammenkommen, als wären sie eins. Komme, was wolle in einem Land ohne Besitzer. Land der Ähren, grün, weiß, grün. Frühling und Sommer, der Süden, immer wieder diese Hitze, „sprich doch langsamer, ich kann dich nicht verstehen“, aber egal, gibt eh nix zu verstehen. Das Lachen und die Witze, die Witze, derjenige, der keine macht, der innere Andalusier, er klatscht nicht im Rhythmus, spürt die Hände aber trotzdem, sie tun ihm weh. Roberto Bolaño sagt, Proletarier feiern keine Feste, nur Beerdigungen mit Rhythmus. Wenn das so ist, möge die Musik erklingen.
Rezept für Gazpacho und Salmorejo: https://stadt-land-text.de/2022/07/16/rezept-fuer-gazpacho-und-salmorejo-receta-de-gazpacho-y-salmorejo/
Texto en español: https://stadt-land-text.de/2022/07/16/apuntes-para-continuar-una-busqueda-de-ida-y-vuelta-o-como-volver-al-sur/