Tutzi/Tauben

Heute war der Mann mit der Glatze und dem großen roten Eimer wieder da. Er hat die Futterplätze oben auf der Cassiusbastei befüllt. Ich bin immer als erster auf den Beinen, das weiß jeder hier, aber weil alle anderen immer bis spät in den Morgen hinein schlafen, will niemand mir glauben. Niemand will mir glauben, dass das Problem, das unsere Frauen seit Kurzem haben, von dem Mann und dem roten Eimer her rühren. Ich kann von unseren Schlafplätzen aus sehen, wie der Mann jeden Morgen auf die Cassiusbastei steigt und ein Tütchen aus seiner Tasche hervorholt, ich kann sogar lesen, was auf dem Tütchen steht – Fertistopp99, darin sind kleine Pillen, und die mischt der Mann mit der Glatze uns ins Futter. Wir pflanzen uns – anders als früher – das ganze Jahr fort, weil wir in der Stadt leben. Jeder von uns produziert zwölf Kilogramm Kot im Jahr. Das ist der Stadt zuviel, dabei produzieren die anderen, die hier leben, wesentlich mehr Kot. Trotzdem will man nur uns und niemand anderen vergrämen. Die meisten denken, dass wir nur kurz leben. Eigentlich ist das wahr. In der Stadt lebt man kürzer, als auf dem Felsen, aber ich habe nie auf dem Felsen gelebt und ich bin jetzt schon fast zwanzig Jahre alt. Ich vergesse vieles, ich wiederhole mich, aber ich weiß, dass der Mann mit der Glatze uns die Pillen ins Essen mischt, damit unsere Frauen sie fressen, weil sie uns damit vergrämen können.

Hier in der Stadt leben sehr viele Menschen, deswegen ist es ungewöhnlich, dass ich mich an den Mann mit der Glatze erinnern kann. Er war achtzehn und ein Junge, ich war zwei und schon erwachsen. Damals trug der Mann mit der Glatze seine langen, braunen Locken bis auf die Schultern, er stand auf dem Friedensplatz – unserem Platz – und demonstrierte gegen Kohl. Damals waren wir noch die Hauptstadt, und der Bundeskanzler lebte im Palais Schaumburg. Am Palais wollte man uns nicht. Das ganze Gebäude war schon damals mit Abwehrsystemen ausgestattet, mir hat es gefallen, dass gegen diesen Mann demonstriert wurde. Der Junge mit den Locken stand in der Menge und hielt eine Packung Hühnereier unter seinem Mantel versteckt. Kohl ging, von seinen Leibwächtern umringt, durch die Menge. Er versuchte wegen der Gegendemonstranten besonders würdig auszusehen, aber er hatte Angst, das konnte ich daran erkennen, wie er immer wieder mit den Augen blinzelte. Er hatte Erfahrung hierin, er war ja schon mehrfach mit Eiern und anderen schmutzigen Dingen beworfen worden. Das Ei, das der Junge mit den Locken warf, traf Kohl mitten ins Gesicht. Kohl verzog seinen Mund vor Schmerz, und als er sich das Eiweiß aus den Augen wischte, dachte ich für einen Moment, Kohl würde weinen. Kohl klagte erst, nachdem der Junge mit den Locken ihn beworfen hatte, öffentlich darüber, dass sich keiner vorstellen könne, wie schmerzhaft es sei, ein Ei an den Kopf zu bekommen.
Der Junge war bei seinem Wurf sehr konzentriert gewesen. Er hatte lange überlegt und wie ein Jäger, der auf Tiere schießt, den richtigen Moment abgewartet. Dabei hatte der Junge nicht bemerkt, dass ihn die ganze Zeit ein Mädchen beobachtete. Sie trug eine Brille und die üblichen schwarzen, schweren Schnürstiefel, die man zu dieser Zeit trug. Als sich die Demonstration langsam auflöste, lief es zum ihm hin und sprach ihn an. Der Junge grinste, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, er war damals schon sehr bitter. Das Mädchen nahm den Jungen an der Hand und zog ihn durch die Fußgängerzone in Richtung Roxy, wo sich damals alle trafen.

Ich weiß nicht wieso ich mitflog. Ich war jung, und das Wetter war schön. Ich hätte das alles sicher vergessen, wenn der Junge von damals heute nicht derjenige wäre, der uns das Futter vergiftet, denke ich. Das Mädchen legte im Roxy ihren Schülerausweis vor und bestellte zwei Tassen Tee. Der Junge lachte laut, trank aber seinen Tee, und fing mit dem Mädchen ein Gespräch an. Als das Mädchen noch mehr Tee bestellen wollte, schüttelte der Junge den Kopf und stand auf. Er fragte, ob das Mädchen mitkommen wolle. Sie nickte heftig. Der Junge und das Mädchen liefen in die Cassiusbastei und kamen mit Eierlikör und einer Flasche Fanta zurück. Sie liefen am Busbahnhof vorbei zum Hofgarten, dort stand das Auto vom Jungen, und jetzt, wo ich auf das Auto komme, fällt mir wieder ein, wieso ich mich an den Mann mit der Glatze erinnere. Das Auto vom Jungen hatte einen Namen, es hieß Tutzi. Ich habe eine meiner Töchter so genannt, weil mir der Name so gut gefallen hat. Sie würde heute anders heißen würde, wenn ich damals gewusst hätte, dass dieser Mann uns in Zukunft vergrämen wird.
Das Mädchen musste lachen vor Rührung, als sie den Namen des Autos hörte. Sie dachte, dass es für den Jungen sprechen würde, und dass seine Bitterkeit in Wirklichkeit versteckte Süße sein könnte. Der Junge griff nach einer der unzähligen Fantaflaschen, die auf dem Rücksitz lagen und mischte Eierlikör mit Fanta. Blonder Engel, sagte er und hielt dem Mädchen die Flasche hin. Das Mädchen machte ein komisches Gesicht, als sie die Flasche ansetzte und zu trinken begann, aber es schmeckte ihr offensichtlich und weil sie damit nicht gerechnet hatte, trank sie umso gieriger. Der Junge startete den Motor, Tutzi schnaufte kurz und fuhr los. Sie fuhren über den Rhein auf die andere Seite der Stadt. Ich ließ mich vom Wind über die Kennedybrücke treiben. Von Süden her konnte man riechen, dass Montag war, denn jeden Montag wurde damals in der Haribo-Fabrik Lakritz gekocht. Der Lakritzgeruch vermischte sich mit dem Nougatgeruch von den Kessko-Werken, der aus dem Osten herüber wehte. Ich schaute auf Tutzi herunter und dachte daran, dass nichts so süß ist, wie die ganz junge Liebe.

Der Junge hielt vor einem Einfamilienhaus. Er schlug Tutzis Türen viel zu hart zu, und ging mit dem Mädchen ins Haus. Kurz darauf ging im obersten Stockwerk das Licht an. Vom Balkon aus sah ich das Mädchen auf dem Teppichboden sitzen, der Junge legte eine Schallplatte auf und setzte sich zu dem Mädchen auf den Teppichboden, und da beugte sich das Mädchen zu ihm herüber und küsste ihn. Die beiden zogen sich ihre Sachen aus und legten sich ins Bett. Der Junge war sehr betrunken, aber weil er noch so jung war, konnte er trotzdem mehrmals hintereinander mit dem Mädchen schlafen. Immer wenn es mal wieder so weit war, stand der Junge auf und kramte unter dem Bett in einem Haufen Schülerzeitungen herum. Jedesmal piddelte er ein Kondom herunter, das mit Uhu als Gimmick auf die letzte Seite der Schülerzeitung geklebt worden war. Der Junge erzählte, dass er der Redakteur der Schülerzeitung sei, und dass die Lehrer ihm verboten hätten, die Ausgabe mit dem Kondom zu verteilen und die gesamte Auflage nun unter seinem Bett verschimmelte.
Als der Junge und das Mädchen müde wurden, lagen sie einfach so nebeneinander im Dunkeln. Dem Jungen ging ein Lied durch den Kopf, das er als Kind immer gern gehört hatte. Der Junge hätte es dem Mädchen gern vorgesungen, denn es hieß Mädchen nur mit Brille, aber weil es von den Flippers war, traute er sich nicht, weil er Angst davor hatte, dass ein Lied von den Flippers das Mädchen vergrämen würde, egal wie passend es wäre, aber das Mädchen schlief schon längst, müde von der erlebten Lust.

Am nächsten Morgen, als er Mann hoch zu uns auf die Cassiusbastei steigt, setze ich mich auf den Blitzableiter. Er holt ein kleines Tütchen heraus. Putt, putt, putt, sagt der Mann, mischt die Pillen aus der Tüte zuerst in den roten Eimer und schließlich in den Futtertrog. Dann geht er an die Kisten, die uns die Stadt zum brüten hingestellt hat und tauscht unsere Eier gegen Attrappen aus. Man sagt, dass wir äußerst geburtstreu sind. Das stimmt, und weil wir uns das ganze Jahr fortpflanzen, zählen wir zu den erfolgreichsten Vögeln der Erde. Der Mann mit der Glatze hat keine Kinder, er ist in dieser Hinsicht nicht erfolgreich. Er ist alt geworden, er trinkt immer noch Eierlikör mit Fanta, weil der süße Geschmack auf der Zunge ihn an seine Jugend erinnert, er ist einsam und hasst die Gegenwart, nur was haben wir damit zu tun? Er kann uns doch deswegen nicht einfach unsere Eier nehmen und uns Pillen ins Essen mischen. Aber er war es ja auch, der damals die Idee hatte, jeder Schülerzeitung ein Kondom beizulegen.

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