Zwischenruf: Schnipsel
25. Juni 2020
Als Regionenschreiber ist man ja oft auf der Jagd. Nach DEM Satz, der wirklich etwas von der Umgebung erzählt, DEM Moment, in dem Menschen etwas offenbaren. Die Jagd macht müde. Deshalb setzt man sich. Und wenn man dann sitzt, ereignen sich Satz oder Moment manchmal völlig unvermittelt. Viel öfter noch ereignet sich gar nichts. Und am häufigsten ein Weder-Noch, das erstaunlich dringend aufgeschrieben sein will. Verstreute Notizen.
Blecher, Talweg. Zwei Jungs in Jeansjacken, die mit Fingern auf das staubige Fenster eines verlassenen Hauses malen. Sie kichern sich zu, der eine vollendet sein Werk mit gekünsteltem Schwung, während der andere ihn vor Aufregung zu boxen beginnt: Schnell, mach schnell! Ihre Gelfrisuren glitzern in der Sonne, endlich ist der größere fertig, sie sprinten los, noch im Rennen platzt Gelächter aus ihnen, ein Kieselstein springt ins Gebüsch. Auf dem staubigen Fenster ein Herz, darin steht: Anna + Nils.
Solingen, Hügelstraße. Die Katze, die den Notierenden mustert, gemessen an ihm vorbeischreitet, noch den Kopf dreht, als sie fast schon an der nächsten Ecke ist, als bliebe sie zu gern auf ein Schwätzchen, würde aber leider dringend andernorts gebraucht.
Remscheid, Am Bahnhof. Vor dem Schaufenster sprechen zwei Mädchen über die darin ausgestellten Handyhüllen. Sie zeigen auf einzelne und lachen schrill und sind sich einig, dass sie süß oder fake oder voll eklig sind. Ein junger Mann tritt aus dem Laden und beschäftigt sich abschätzig mit seiner Zigarette. Er raucht ein paar Züge, die Mädchen mustern ihn. Als er fast fertig geraucht hat, geht er kurz ins Geschäft und kommt mit einer der Handyhüllen aus dem Schaufenster wieder. Er geht zu dem linken der beiden, die etwas längere, glatt-glänzende Haare hat, und sagt: Schenk ich dir. Das Mädchen sieht auf das Produkt hinab, ein Gummilappen mit Flausch, dann sieht es die Freundin an, mit Wimpern, so schwarz und lang, als könnten sie Entschuldigungen zufächeln. Sie fächelt, flüstert fast: Ey, ich hasse die Farbe.
Hochdahl, Hildener Straße. Der BMW, goldbraun, fabrikneuer Glanz, der an den Straßenrand rangiert, als handele es sich um eine denkbar knappe Parklücke (obwohl weit und breit kein anderes Auto steht). Der Mann, der aussteigt und sich Staub von der Kleidung wedelt, er wedelt an sich hinunter, hinauf, noch einmal hinab. Kein Körnchen zu sehen. Dann schließt er die Tür, worauf der Kofferraum aufgleitet, welchem er eine Yogamatte entnimmt. Der Kofferraum gleitet wieder zu, und nach beiden Seiten winkend gehen Mann und Matte ab.
Mettmann, Jubiläumsplatz. Auf der Bank einer Bushaltestelle ein junger Mann mit raspelkurzen Haaren, daneben ein hagerer alter mit ballonseidenem Trainingsanzug. Der junge erzählt, dass er nicht mehr jeden Tag Bier trinken könne, am Jubi, dass er auch mit dem Scheiß aufhören müsse, dass er die Bude aufgeräumt habe, dass die Sachbearbeiterin ihm ein Merkblatt mitgegeben habe, ein Merkblatt, sagt er, an das er sich halte. Er spricht von Perspektive und dass er diesmal durchziehen wolle, er wiederholt, durchziehen, er fügt hinzu, er habe jetzt ein paar Jahre die Zügel schleifen lassen, aber das sei nicht das Ende der Welt. Der alte trinkt Bier und nickt und trinkt und raucht und trinkt und nickt und unterbricht und fragt: Haste noch eins?
Odenthal, Johann-Heck-Straße. Ein Mann mit karierten Hosen stampft aus der Tür. Er blickt um sich, dann läuft er auf einen Wagen zu, packt den Griff, rupft aus dem Inneren ein Päckchen Zigaretten. Er steckt sich eine an, pafft drei Züge, hält dann die Luft an und blickt in den Himmel. Als er den Rauch wieder auspustet, ist kaum mehr etwas davon zu erkennen, als hätten sich die Schwaden in seinem Inneren abgesetzt. Zufrieden hustet er zweimal.
Grund, Grunder Schulweg. Eine Frau mit metallisch gewellter Frisur beugt sich über ein Hochbeet voller Salatköpfe. Mit einem Schäufelchen stochert sie vorsichtig große Radien um die Pflanzen herum. Dabei spricht sie in beruhigendem Ton auf die Blätter hernieder, als müsste sie Pferde bändigen, zärtlich reibt sie einen Lollo rosso zwischen den Fingern. Als sie den Beobachter bemerkt, hält sie die Luft an, dreht dann ruckartig den Kopf und führt ihr Gespräch fort wie nach unterbrochener Verbindung.
Mettmann, Goldberger Mühle. Zwei Gestalten waten ans Ufer des Bachs durch den zähen Moorschlamm Routine. Sie sind mit Fremdheit aneinander gebunden, wie das nur Vater und Sohn gelingt. Der Vater trägt Latzhose und einen Pullover mit greller Aufschrift, der Sohn Baseballkappe und darunter fettiges Haar. Am Rand des Wassers angekommen, zücken sie Angelruten und entfernen sich voneinander. Eine Gruppe Enten gleitet tuschelnd davon. Der Sohn wirft die Angel aus, lässt sie zurücksurren, sein Blick milchig vor Pubertät. Wenn der Vater ihm etwas zuruft, unverständliche Silben, dreht er sich mit einer Schwere um, in der Verzweiflung über die Existenz des Elternteils aufglimmt, sie scheint ihm selbst vor dem Beobachter peinlich zu sein. So angeln sie beide eine halbe Stunde lang, gehen ein paar Schritte hin, ein paar her, achten darauf, einander niemals zu nahe zu kommen, keiner fängt einen Fisch. Dann nickt der Vater dem Wasser zu. Er tritt den Rückzug an, der Sohn folgt ihm, ihre Ruten tragen sie auf der Schulter. Die Enten haben sich in der Mitte des Bachs versammelt, das Schnattern eingestellt, sie blicken den beiden staunend hinterher.
Erkrath, Neandertal. Wie ich das Handy an den Computer anschließe, um rasch ein paar Bilder von meinen Ausflügen auf die Festplatte zu ziehen. Wie es mir entgleitet, zwischen die Sofakissen rutscht und auf dem Boden aufschlägt. Wie ich es an seinem Ladekabel vorsichtig wieder aus dem vergessenen Reich unter dem Polstermöbel hervor bugsiere, vorbei an Beinen, über Teppichkanten hinweg. Wie ich es schließlich hervorziehe und mich das Display anblinkt, staubig und staunend wie ein erwachtes Kind.