OMG

Ich bin nun seit knapp drei Wochen in Mönchengladbach. Zwar habe ich einige Ausflüge unternommen, von denen ich auch noch berichten werde, aber ein Mysterium gibt es, dem ich am vergangenen Wochenende noch etwas genauer nachgehen musste:

Die Mönchengladbacher an sich und ihre Räumungslust.

Sie wälzen ständig alles um. OMG. Dinge, Gebäude, Frisuren, Geschäfte, ich glaube auch ganze Straßen samt Namen. Einst ließen sie eine Brücke über die gesamte Stadt bauen, nur um sie ein paar Monate später wieder abzureißen und sie erzählen auch heute noch stolz davon. Was ist da los? Das Alles könnte jedenfalls eine Erklärung dafür sein, warum ich mich hier öfter verlaufe als in jeder anderen Stadt, in der ich je war.

Die nächste Einkaufsmöglichkeit von meiner Mönchengladbacher Wohnung aus, sind ein paar Supermärkte, die in einem größeren Einkaufszentrum untergebracht sind. Jedes Mal – so scheint es mir – wechseln dort die Geschäfte ihre Stockwerke. Man geht im Erdgeschoss hinein, ist sich sicher bis zum Geschäft keine Rolltreppe und auch keinen Aufzug benutzt zu haben und wenn man wieder raus will, findet man keinen Ausgang, ohne dann doch das Stockwerk wechseln zu müssen.

Es ist sehr verwirrend und kann meiner spärlichen Erforschungen und Erkenntnissen zufolge nur daran liegen, dass die Mönchengladbacher ihre Gebäude und deren Nutzungskonzepte einfach gerne umräumen.

Gefühler Lageplan „Minto“ (c) Debo
Beweisbild 1 – Heimliche Umzugsaktion in der Nacht. Caught on Camera (c) Debo
Beweisbild 2 – Auch der frühe Sonntag morgen wird genutzt um heimlich Gebäudewechsel zu vollziehen.

Walter Benjamin hat mehrere besonders starke Texte zu allen möglichen Themen geschrieben, alles fein komprimierte Brühwürfel der Erkenntnis, wenn man sie im eigenen Hirnwasser auflöst, geben sie dort immer ein hervorragendes Süppchen.

Einer dieser Brühwürfel ist der Text über den „destruktiven Charakter“. In seiner Gänze bleibt er teilweise auch mal etwas rätselhaft und man darf an dieser Stelle die Verwendung des Wortes destruktiv nicht missverstehen. Destruktiv ist hier nicht ausschließlich negativ gemeint, wie man es umgangssprachlich verwendet, sondern vereint ganz #yingundyang Schöpfung mit Zerstörung. Auf den Abbruch des Alten folgt das Neue. Oder anders: Das Neue kann nicht entstehen, wenn das Alte nicht weicht. Ein Avantgardist in the flesh ist der Beschriebene, ein Punk, ein Hipster. Benjamin:

Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.“

Der Mönchengladbacher scheint einen großen Teil dieses destruktiven Charakters in sich zu tragen. Zumindest, was das Räumen angeht. Er räumt und räumt und räumt.

Die Stadtverwaltung hat reagiert. Man pflegt – beispielsweise – ungewöhnlich kleine Mülltonnen auszugeben, vermutlich, damit man öfter pro Monat den Müll verräumen kann.

Müll in kleinen Dosen.

Was seine Lust am Verräumen angeht, tobt der Mönchengladbacher sich seit einigen Jahren besonders frivol und für alle sichtbar in dem Gebäude Hindenburgstraße 20 aus.

Zunächst war dort jahrelang ein Hotel. Innenstädtisch gelegen, vom Bahnhof aus gut zu erreichen. Wer fit war, schaffte es mit einem Rollkoffer in zehn Minuten. Leichte Steigung, ja durchaus, aber bis vor zehn Jahren waren wir alle im Durchschnitt ja auch noch nicht so fett, da war das noch drin.

Das Hotel Oberstadt war irgendwann nicht mehr und die Stadt würde Eigentümerin des Gebäudes. Es stand dann zunächst ein paar Jahre leer wie das oft so üblich ist, wenn Kapital verschwindet und kein anderes Kapital in der Nähe ist, welches die Leere stopfen könnte, so bleibt die Leere eben leer.

Es bleibt dann eben eine offene Wunde, denken sich die einen. Wo ein Gebäude gerade mal leer steht, da stopft man es mit Liebe, denken die anderen:

2014 machten Dirk Albertz und Wolfgang Dreßen dort die erste Änderung am Bau: Sie platzierten Portraitfotos in den Fenstern und erweckten das Haus aus seinem tiefen Schlaf.

Aufgepasst, alle, die in Stadtverwaltungen sitzen: klassische Win/Win Situation, das.

WIN/WIN/WIN/WIN/-Situation: In dieser Visualisation gelten sowohl Stadt als auch Kunst und Bewohner als jeweils profitierendes oder eben tragendes Element: Boden, Katze, Gerät. Wobei alle Beteiligten in jedem Fall einmal die Katze sind. Die Rolle des nach comfort aspekten präparierte Plastikbehälters sollte im besten Falle das Kapital übernehmen. Es sind jedoch alle Interpretationen je nach Situation denkbar und gültig. (c)giphy.com

Die Foto-Installation war die erste Sprengung des Alten zugunsten von etwas Neuem: Mönchengladbach hat seitdem in diesem Gebäude nicht mehr nur internationale Durchreisende, sondern auch dauerhaft frischen Wind zu Gast.

2016 dann kam dann ein junger Mann aus Belgien daher und räumte noch einmal Alles um. Nils Coppens hatte ein Atelierstipendium in Mönchengladbach inne und hatte für seinen Aufenthalt gefragt, ob man ihm ein leeres Gebäude zur Verfügung stellen könnte. Man gab das ehemalige Hotel Oberstadt nun in seine Hände.

Leider war ich nicht dabei. Ich wäre es gerne gewesen. Aber ich habe das Dokumentationsheftchen gefunden, welches Auskunft darüber gibt, was Nils zusammen mit vielen anderen aus dem leer stehenden Gebäude gemacht hat und ich kann darüber sagen:

Manchmal schreibt man, jemand erweckt etwas wieder zum Leben, künstliche Beatmung, Defibrillator. Nils Coppens und alle die räumungsliebenden Mönchengladbacher haben das Gebäude im letzten Jahr anscheinend in einen gleissenden Goldzahn der Freude verwandelt. Es gab Parties, Ausstellungen, das Haus war für alle offen, sich künstlerisch und nachbarschaftlich zu beteiligen. Das war im Sommer 2016.

Die Geschichte des Hotels Oberstadt offenbart etwas, das die meisten Städte und Gemeinden gemeinsam haben: eine dynamische und starke Gemeinschaft, die hervortritt, wenn man ihr den Raum dazu gibt.“

– Lukas Destrijcker in „Zu Unrecht geschlossen/Unjustly Closed“ Veröffentlichung zur gleichnamigen Arbeit von Nils Coppens

In diesem Jahr geht es weiter. Das Projekt „Änderungen aller Art“ ein im Turnus von zwei Jahren stattfindendes Kulturprojekt fegt seit Juni im Wochentakt durch das Haus. Räumen. Räumen. Räumen. Jede Woche. Und alle MönchengladbacherInnen sind aufgerufen, mitzumachen.

Aufruf von ÄAA

Das Team von „Änderungen aller Art“ lädt KünstlerInnen ein, eine Woche lang mit Material zu arbeiten, welches die EinwohnerInnen aus ihren Wohnungen und Kellern und Garagen ausgeräumt und in die Hindenburgstraße 20 gebracht haben. Am Ende der Woche ist Vernissage, es gibt Bier und andere Getränke, ein kurzes KünstlerInnengespräch und später noch ein Konzert.

Die Mönchengladbacher bringen alles ran: Von Pappbechern über ausrangiertes Kinderspielzeug, Elektrogeräte, Möbel, Klebeband, Stoffe, undefinierbare Überreste von Wasauchimmer, Holzpaneele, Holzpaletten, Holzpellets, Radios, Mini-Öfen die wie Radios aussehen, Radios die wie Ufos aussehen, Reste, die auch wie Reste aussehen, Gummireifen die ganze Bandbreite unserer zivilisatorischen Errungenschaften also.

Man muss sich erstmal durch den ganzen Kram durchwühlen und finden, was man spannend findet, dann sortiert man mal nach Farbe oder nach Form, zum Beispiel, um sich einen Überblick zu verschaffen.“ sagte Andreas Miller, einer der beteiligten Künstler, die am vergangenen Wochenende bei dem Projekt zu Gast waren während des Künstlergesprächs. Er arbeitet in Leipzig installativ und skulpural mit Gebrauchs-Gegenständen aller Art. Wer seine Arbeiten gesehen hat, betrachtet alltägliche Gegenstände wie zum Beispiel Zollstöcke danach mit anderen Augen.

Und Daniela Friebel, Künstlerin aus Berlin meint: Da ist auf jeden Fall zuerst mal die Frage, was finde ich, was ich überhaupt in einer Woche umsetzen kann, manche Dinge bräuchten ja vielleicht eine eher konzeptuelle Herangehensweise, die dann wiederum vielleicht eher drei Monate braucht.“

Daniela Friebel, die vor allem mit illusionistischen Rauminstallationen arbeitet, hat für die Ausstellung eine Arbeit gemacht, die aussieht wie ein schwebender Teppich aus Dingen. Dazu hat sie einzelne Gegenstände an Nylonfäden von der Decke hängen lassen. Ich hatte sofort die Assoziation zu vermüllten Meeren, vor allem dann, wenn ein kleiner Windhauch die Gegenstände zum Schaukeln brachte. Gleichzeitig kamen mir aber auch die schwebenden Darstellungen in der Werbung in den Sinn, wie wenn z.B. ein neues Smartphone sich sanft ins Bild navigiert, als segle es vom Himmel herab. Der Fetisch von Letzterem bedingt das Bild davor, beides ist Teil der Realität deren gegenseitige Abhängigkeit wir aushalten (müssen).

Zielsetzung von „Änderung aller Art“, sei es, ein Kulturprojekt zu sein, „welches unsere Verschwendungsgesellschaft thematisiert“. Dies gelingt fraglos.

Gleichzeitig zeigt dieses Projekt und die Verwendung des Hauses Hindenburgstraße 20, dass es andere Herangehensweisen gibt, die aufzeigen, dass Konsumieren in einer vom fortgeschrittenen Kapitalismus geprägten Gesellschaft zwar notwendig Kulturtechnik ist, aber nicht die einzig gangbare „Event“- Lösung für ein leerstehendes Haus in einer Innenstadt sein muss.

Das Gebäude liegt mitten auf der Einkaufsstraße, die Mehrzahl der umliegenden Geschäfte sind Ableger von großen Ketten oder Franchise Marken. Ein kaum von anderen Innenstädten zu unterscheidendes Zentrum also, wie überall. Nach 20.00 Uhr, wenn nichts mehr verkauft werden darf, werden die Bürgersteige hochgeklappt, die Rollladen runtergleassen, das Auge rutscht an jeder Fläche ab. Man könnte hier jetzt noch gut durchfeudeln, fällt einem spontan ein und man schaut sich nach diesen Putzfahrzeugen um. 

Ein paar Leute, die an diesem Abend gegen 21 Uhr an der Hindenburgstr. 20 vorbeilaufen, vermutlich auf dem Weg zur Shisha-Bar-Meile am Alten Markt, bleiben interessiert stehen: „Was, hier ist auch noch etwas los?“

 

  1. Die Mönchengladbacher räumen sogar ihren eigenen Stadtnamen auf, sie selbst sagen zu Mönchengladbach meistens nur MG.
  2. In MG geht nie Jemand über rote Ampeln. Ordnung muss sein.
  3. OMG

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